
Ich bin Lehrer, und ich bin leidenschaftlich gern Lehrer. Ich mag meine Schüler und bin gerne für sie da. Dennoch kam ich nach Jahren intensiver Arbeit an einen Punkt, an dem ich keine Kraft mehr zum Unterrichten hatte. Verschiedene Themen kamen zusammen: Ich hatte Schlafstörungen, Ängste, Panikattacken, die sich immer mehr gesteigert haben. Ich war völlig angespannt, konnte meine Nackenpartie manchmal kaum noch bewegen. Hinzu kam eine enorme Traurigkeit in Bezug auf die Frage nach dem Sinn des Lebens, die bei mir schon seit der Pubertät aktuell war. Vielleicht spielte dabei auch das Wissen eine Rolle, als Kind von der leiblichen Mutter zur Adoption freigegeben worden zu sein.
Vor einigen Jahren geriet zudem das Haus, in dem ich wohnte, nachts in Brand. Dieses Erlebnis hat mich traumatisiert und verschiedenste Ängste in mir ausgelöst. Nachdem mit der Zeit auch noch meine langjährige Beziehung in die Brüche ging, konzentrierte ich mich nur noch auf meinen Beruf. Die Arbeit stand immer ganz oben, hier wurde ich gebraucht. Schüler, Eltern und Kollegen haben mir Wertschätzung entgegengebracht. Ich wollte immer der „beliebte Lehrer“ sein, der fehlerlos ist und sich für seine Arbeit aufgibt.
Was ist los mit mir?
Ich stürzte mich geradezu tagein, tagaus in die Arbeit und merkte lange Zeit nicht, was eigentlich mit mir passierte. Das Gefühl, mich körperlich und seelisch nicht mehr zu spüren, wurde immer deutlicher. Manchmal habe ich mir in den Arm gekniffen, weil ich spüren wollte, dass ich noch da bin. Meine Ängste wurden stärker und stärker, bis sie sich allmählich auch in meinen Arbeitsalltag einschlichen. Es war eine schlimme Zeit für mich: aufstehen, zur Arbeit gehen, anschliessend nach Hause fahren und dort eine komplette Leere vorfinden und erleben. Gewohnheitsmässig habe ich ferngesehen, stundenlang bis zum Schlafengehen.
Ich fing an, mich von Ferien zu Ferien zu retten, denn ich hatte da schon keine Kraft mehr und funktionierte nur noch. In diesen Ferien ging ich dann zur Erholung in eine Tessiner Klinik, wo ich erstmals in Kontakt mit einer Ergänzung zur Schulmedizin kam. Massagen, Licht- und Sauerstofftherapie, Neuraltherapie und vieles mehr bauten mich soweit wieder auf, dass ich die Zeit bis zu den nächsten Ferien durchhalten konnte.
Es ist Hilfe notwendig
Meine neue Beziehung belebte mich zwar, löste meine Probleme aber nicht. Doch mein neuer Freund war wachsam und reflektierte mich so, dass es mir nicht mehr möglich war, mein Lebensthema zu ignorieren. Ich hatte zweimal zu Hause eine starke Panikattacke, bei der ich mich nicht mehr rühren konnte. In einem Spital wurde ich dann mit einem Medikament behandelt, einem leichten Antidepressivum mit schlaffördernder Wirkung.
Eines Tages bin ich in der Schule zusammengebrochen; ich weiss es noch: es war ein Mittwoch. Ein Kollege hat mich nach Hause gebracht. Auf meinen Wunsch hin überwies mich mein Hausarzt unmittelbar in die Klinik Arlesheim, doch die Wartefrist betrug mehrere Wochen. Zur Überbrückung fuhr ich in meine Tessiner-Klinik, denn zu Hause ging es nicht mehr. Ich hatte überhaupt keine Kraft mehr, konnte kaum noch Treppen steigen, bin herumgetappt wie ein 80-jähriger Mann. Mitte November konnte ich dann endlich in die Klinik Arlesheim eintreten.
Eintritt in die Klinik
Herzlich empfing mich an meinem Eintrittstag mein Bezugspfleger. Mir wurde unmittelbar deutlich: Jetzt musst du dich nicht mehr nach aussen beweisen, jetzt hast du Zeit für dich, mit dir. Von Beginn an fühlte ich mich wohl auf der Station – wie es einem eben wohl sein kann, wenn es einem nicht gut geht. Schnell lernte ich meine Mitpatientinnen und Mitpatienten kennen und konnte mich gut in die Gruppe integrieren. Die gemeinsamen Mittagessen oder die Abendgestaltung halfen dabei.
Ich habe ganz tolle Menschen kennengelernt, zu denen ich zum Teil heute noch freundschaftlichen Kontakt pflege. Zudem schätze ich es sehr, eine Bezugsperson aus dem Pflegeteam zu haben, die ich immer noch jederzeit ansprechen kann, und die sich wenn immer möglich Zeit für ein Gespräch mit mir nimmt.
Verschiedene Therapien
Zu Beginn hatte ich vormittags Heileurythmie, nachmittags bekam ich eine rhythmische Massage, um meine Verspannungen zu lösen. Mehr nicht? – dachte ich. Was sollte ich mit der restlichen Zeit anfangen? Zu Beginn meines Aufenthaltes erhielt ich die Aufgabe, aus dem Fenster zu schauen und die Anzahl verschiedener Grüntöne zu bestimmen. Das klingt merkwürdig, ist aber doch eine interessante Übung für das genaue Hinschauen, das Wahrnehmen der Natur in ihrer vollkommenen Schönheit. Mir wurde bewusst, dass man auch zehnmal in die Ermitage laufen kann und jedes Mal etwas Neues entdeckt. Später kamen als Therapie noch das Malen und Plastizieren sowie die therapeutische Sprachgestaltung hinzu. In den individuellen Therapien habe ich intensiv an meinen Herausforderungen gearbeitet, was für mich meistens sehr anstrengend und ermüdend war.
Lernen loszulassen
Ich war in der Adventszeit und über Weihnachten in der Klinik. Es fiel mir immer wieder schwer, nicht derjenige zu sein, der alles organisiert. Ich durfte lernen, dass nicht alles nach meinen Vorstellungen läuft. Zu den Lernprozessen gehörte auch, mich von meinen alten Denkmustern zu lösen, nicht immer und überall für meine Mitmenschen Verantwortung zu übernehmen, sondern ganz bei mir zu bleiben.
Jeden Tag kamen entweder die Oberärztin oder der Assistenzarzt zur Visite. Damit einher gingen intensive Gespräche, die Verschiedenes in mir angeregt haben. Ich profitierte von den individuellen Therapien, welche die Ärzte gemeinsam mit mir besprochen hatten, so dass ich auch mitbestimmen konnte, was mir zusagt und was weniger. Einmal gab es einen Wechsel des betreuenden Assistenzarztes; das war eine Herausforderung für mich.
Sich gegenseitig unterstützen
Es gab regelmässige Therapien in der Gruppe, so zum Beispiel die Psychoedukation. In den Gruppentherapien konnte man von den positiven Erfahrungen der anderen Teilnehmer profitieren oder ein Thema auch einmal aus einer anderen Perspektive betrachten. Die Ärztin sagte stets: „Eine Gruppe weiss viel mehr als eine einzelne Person.“ Da hatte sie wirklich Recht. Meine Aufgabe war es unter anderem, in der Gruppe nicht sofort die Wortführerschaft und die Verantwortung zu übernehmen, sondern es auszuhalten, wenn die anderen nichts sagten.
Erste Erfolge
Beim Ankommen beschäftigte mich „das Aussen“ noch so stark, dass ich mich gefragt habe, was ich hier eigentlich soll. In den folgenden Wochen intensivster Gesprächstherapien war es mir dann möglich, auch allein die Welt um mich herum zu entdecken. Der grösste Erfolg für mich persönlich war, dass ich in einem Gespräch mit meinen Bezugspersonen erkannte, dass ich keine Panikattacken mehr hatte.
Deutlich mehr Kraft besass ich unmittelbar vor meinem Austritt. Ausserdem verspürte ich mehr Lebensfreude. Ich konnte wieder um den Teich in der Ermitage laufen, ohne eine Pause machen zu müssen. Gleichzeitig kam die Angst vor einem nächsten Panikschub zurück und damit verbunden die Ungewissheit, wie es in meinem Alltag zu Hause sein werde.
Wieder im Alltag
In meinem Zuhause wurde ich herzlich von meinem Freund empfangen. Auch in der Schule wurde ich freudig begrüsst. Meine Schüler und meine Lehrerkollegen waren glücklich, dass es mir wieder gut geht. Heileurythmie und die rhythmischen Massagen führe ich nun ambulant weiter. Ich muss mein Leben wieder neu organisieren.
Einmal in der Woche gehe ich zur ambulanten Gesprächstherapie – dies hatte ich schon in der Klinik mit den Ärzten organisieren können. In den Gesprächen unterstützt mich der Arzt darin, mir nicht mehr zu viel zuzumuten: Kleine Schritte, bewusstes Arbeiten, Pausen einhalten, das sind Ziele, die mich motivieren. Aber ich bin auch mein eigener Wächter geworden. Ich höre darauf, wie mein Körper reagiert. So spüre ich jetzt früher, wenn Verspannungen auftreten, und kann ihnen mit spezifischen Übungen entgegenwirken.
Jeder Mensch muss lernen, mit gewissen Schwierigkeiten umzugehen, sei es in seiner Biographie oder in seinem Wesen. Ich muss nun schauen, dass die Schwierigkeiten in meinem Leben nicht wieder die Oberhand gewinnen. Das ist eine langfristige Aufgabe, eine Lebensaufgabe. Sich so annehmen, wie man ist, das ist für mich eine der grossen Herausforderungen. Der Klinikaufenthalt hat hierzu einiges beigetragen. Ich bin mir nun deutlich mehr wert als vor meinem Zusammenbruch.
Alltagshilfen
Ich habe Werkzeuge in die Hand bekommen, mit denen ich mein Leben besser meistern kann. Vor dem Schlafengehen zum Beispiel nehme ich mir Zeit, den Tag zu reflektieren, ein gutes Buch zu lesen oder ein gutes Glas Wein zu geniessen.
Auch beginne ich wieder Freundschaften zu pflegen und stelle meine Arbeit bewusst nicht mehr ins Zentrum. Die Schule war für mich immer der Ort, wo ich unglaublich viel gegeben habe, aber auch so viel zurückbekommen habe. Jetzt suche ich mir auch andere Orte, wo ich Kraft schöpfen kann. Ich fahre Velo, gehe schwimmen, verbringe Zeit in der Bibliothek. In solchen Genussmomenten kommen Ideen, was ich auch noch tun kann und kennenlernen möchte. Früher hatte ich in den Ferien demgegenüber oft das Problem, in ein Loch zu fallen.
Grosse Aufgaben
Neben der Selbstliebe und Selbstachtung, die ich weiter entdecken und lernen darf, ist es eine Hauptaufgabe, für mich zu lernen, mir tagtäglich im schulischen und privaten Umfeld Grenzen zu setzen. Ich darf mich nicht mehr im Aussen suchen oder sogar verlieren. Es ist von entscheidender Bedeutung, im Hier und Jetzt achtsam zu sein und sich jeden Tag aufs Neue in Liebe und Wertschätzung zu begegnen.
Rückblick
Ich habe den Klinikaufenthalt als intensive und anstrengende, aber auch als menschliche und hilfreiche Zeit in Erinnerung. Das etwas negative Bild, das ich von einer psychiatrischen Abteilung hatte, hat sich überhaupt nicht bestätigt.
Der Tag war strukturiert mit Therapien und einem festen Rahmen. Das grosse kulturelle Angebot in der Adventszeit genoss ich sehr. Manchmal fehlte mir dadurch natürlich auch etwas die Freiheit, ganz nach meinem eigenen Rhythmus zu leben, obwohl es durchaus immer wieder Rückzugsmöglichkeiten gab. Für mich war es eine gute Zeit, die mir zu neuen Erkenntnissen über mich selbst verholfen hat. Mit neuen Impulsen, neuen Kräften und Lebensenergie darf ich jetzt mein Leben im Alltag geniessen.
Daniel Meier | |
Seit 2004 Lehrer für Geschichte, Geografie, Bildnerisches Gestalten und Deutsch an einer Sekundarschule. |