Wieder Boden unter die Füsse bekommen

Eine Krebs­dia­gno­se bedeu­tet immer einen Schock für die Betrof­fe­nen. Wie kann man über­haupt mit die­ser Dia­gno­se umge­hen? Wie wei­ter­le­ben? Was heisst all das für das wei­te­re Leben? Cäci­lia Wei­lig­mann, Fach­frau für Bio­gra­fie­ar­beit, beschreibt an einem Bei­spiel, wie die Men­schen dank die­ser The­ra­pie­form wie­der neu in die Zukunft bli­cken kön­nen.

Bereits vor fünf Jah­ren wur­de bei der 66-jäh­ri­gen Frau Schön* Gebär­mut­ter­hals­krebs dia­gnos­ti­ziert. Sie wur­de ope­riert und unter­zog sich einer anstren­gen­den Che­mo­the­ra­pie. Im Gros­sen und Gan­zen über­stand sie die The­ra­pie­zeit gut. Schon damals war Frau Schön bewusst, dass sie sich in den Jah­ren zuvor sehr viel zuge­mu­tet und sich häu­fig über­for­dert hat­te. Sie nahm die Krebs­er­kran­kung zum Anlass, ihre Lebens­füh­rung zu kor­ri­gie­ren, das Arbeits­pen­sum zu redu­zie­ren und sich mehr Zeit für sich selbst und die schö­nen Din­ge im Leben zu neh­men. Sie war vol­ler Hoff­nung und Zuver­sicht, dass das The­ma Krebs für sie erle­digt war.

Ein neu­er Schock

Nach einer län­ge­ren tumor­frei­en Zeit wur­de bei Frau Schön ein inope­ra­bles Rezi­div fest­ge­stellt. Schon seit eini­ger Zeit hat­te sie gespürt, dass etwas in ihrem Bauch nicht stimm­te. Doch die neue Dia­gno­se zog ihr völ­lig den Boden unter den Füs­sen weg – hat­te sie doch gehofft, die Krebs­er­kran­kung ein für alle Mal über­stan­den zu haben. Nach­dem sie nun die meis­ten Unter­su­chun­gen wegen des neu­er­li­chen Befun­des hin­ter sich gebracht hat­te, wur­de ihr vor­ge­schla­gen, sich einer Che­mo­the­ra­pie und einer Hor­mon­the­ra­pie zu unter­zie­hen. Sie ent­schied sich für Letz­te­res. Zusätz­lich woll­te sie zur Reha­bi­li­ta­ti­on in die Kli­nik Arle­sheim kom­men.

Arbeit an der Angst

Wäh­rend der Reha kommt Frau Schön in die Bio­gra­fie­ar­beit. Seit ihrer letz­ten Dia­gno­se lei­det sie unter Ängs­ten und fühlt sich inner­lich total zer­ris­sen. Dar­um küm­mern wir uns zuerst, denn die­se Ängs­te pla­gen sie tags­über, vor allem jedoch in der Nacht, wenn es dun­kel und still ist. Es hilft ihr, die­se Ängs­te genau zu beschrei­ben. Was genau macht Angst? Was ist das Schlimms­te, was pas­sie­ren kann? Wo zei­gen sich die Ängs­te auch kör­per­lich? Schnell wird deut­lich, dass es um die Angst vor dem Ster­ben und dem damit ver­bun­de­nen mög­li­chen Lei­den geht.

* Name der Pati­en­tin geän­dert

Lebens­wil­len

Frau Schön möch­te noch nicht ster­ben, es sei noch viel zu früh. Erst seit kur­zer Zeit ist sie pen­sio­niert, sie habe die neue Frei­heit noch gar nicht rich­tig genies­sen kön­nen. Sie möch­te wie­der gesund wer­den. Das schau­en wir genau­er an: Gesund wer­den – war­um? Was sind die Zie­le, die Per­spek­ti­ven? Frau Schön wird nach­denk­lich und plötz­lich auch sehr trau­rig, denn sie spürt mit einem Mal, dass sie es nicht wirk­lich weiss. Bis zur Pen­sio­nie­rung dreh­te sich ihr Leben um die Arbeit, der sie mit gros­ser Freu­de und Befrie­di­gung nach­ging. Sie hat zwar nach der Erst­dia­gno­se ihr Pen­sum redu­ziert, den­noch war sie neben der Arbeit kaum dazu gekom­men, Hob­bys und sozia­le Kon­tak­te zu pfle­gen. Es fehl­te nicht an Inter­es­sen und Ide­en, doch Frau Schön hat­te sie nicht in die Tat umset­zen kön­nen.

Im Gespräch wird ihr bewusst, dass sie eigent­lich recht ein­sam und bezüg­lich einer neu­en Lebens­ge­stal­tung wie gelähmt ist. Auch spürt sie eine tie­fe kör­per­li­che Erschöp­fung, und die Bedro­hung der fort­ge­schrit­te­nen Erkran­kung hängt wie ein Damo­kles­schwert über ihr. Tief im Inne­ren spürt sie, dass ihr die Lebens­freu­de abhan­den­ge­kom­men ist, doch genau­so innig fühlt sie, dass sie leben möch­te, dass es noch etwas zu tun gibt für sie.

Rück­blick auf das ver­gan­ge­ne Leben

Wir schau­en zurück, ob und wann es schon frü­her Pha­sen des Gefühls der Ein­sam­keit, der Hilf­lo­sig­keit und der Angst gege­ben hat. Frau Schön ist über­rascht: Immer wie­der waren sol­che Pha­sen vor­han­den. Schon als Kind hat­te sie sich oft sehr ein­sam, nicht dazu­ge­hö­rig, miss­ver­stan­den und abge­lehnt gefühlt. Von der Mut­ter war sie nicht mehr gewünscht, die Ehe der Eltern war bereits sehr brü­chig. Frau Schön erin­nert sich nicht an Nest­wär­me und an Gebor­gen­heit in ihrer Kind­heit. Nur wenn sie brav war, gute Noten nach Hau­se brach­te, kei­nen Ärger mach­te, wur­de sie hin und wie­der gelobt. Also lern­te sie unbe­wusst, dass sie sich unauf­fäl­lig ver­hal­ten muss­te und mit Fleiss und guter Leis­tung wenigs­tens ein wenig Aner­ken­nung bekom­men konn­te. Oft fühl­te sie sich ori­en­tie­rungs­los und wuss­te nicht, wohin sie eigent­lich gehör­te. Wenn sie jedoch die­se Gefüh­le durch Fleiss und Arbeit ver­drän­gen konn­te, ging es ihr wie­der bes­ser.

Immer wie­der gab es auch Men­schen in ihrem Leben, sei es eine Nach­ba­rin, ein Deutsch­leh­rer, Berufs­kol­le­gen oder eine Frau in der Stras­sen­bahn, die ihr gut zuspra­chen, denen sie sich anver­trau­en konn­te oder die ihr einen wert­vol­len Impuls gaben. Im Rück­blick erkann­te sie, dass die­se Begeg­nun­gen häu­fig in den ein­sams­ten Momen­ten ihres Lebens gesche­hen waren und dass durch die­se Kon­tak­te ihr Leben in neue Bah­nen gelenkt wur­de.

See­lisch zurück­ge­zo­gen

Im Rück­blick wird Frau Schön bewusst, dass sie sich im Lauf ihres Lebens see­lisch abge­grenzt und zurück­ge­zo­gen hat, sogar inner­lich hart gewor­den ist und von sich und ihrem Umfeld stets Dis­zi­plin, Fleiss und Ehr­geiz ver­langt hat. Wenn sie selbst oder auch ande­re Men­schen die­sem Anspruch nicht gerecht wur­den, konn­te sie ärger­lich und hart wer­den. Beruf­lich war sie sehr erfolg­reich, genoss eine gros­se Ach­tung und Aner­ken­nung. Der Preis war jedoch, dass sie ihrem Pri­vat­le­ben kaum Zeit und Beach­tung schenk­te. Sie blieb ledig, hat­te eini­ge Freund­schaf­ten und hin und wie­der unver­bind­li­che Bezie­hun­gen.

Frau Schön erlebt nun, dass sie mit den Kon­se­quen­zen die­ser Lebens­art kon­fron­tiert ist. Sie merkt, dass das Leben nicht mehr so funk­tio­niert, wie es lan­ge funk­tio­niert hat. Ein gros­ser Teil der Ängs­te, mit denen sie heu­te zu tun hat, hängt mit die­ser Lebens­prä­gung zusam­men. Was pas­siert, wenn die Krank­heit ver­hin­dert, fleis­sig zu sein, und wenn die Kraft, alles allein schaf­fen zu wol­len, nicht mehr vor­han­den ist? Was geschieht, wenn die Gefüh­le nicht mehr unter Kon­trol­le gehal­ten wer­den kön­nen? Was gibt die Befrie­di­gung, den Sinn, wenn die Inhal­te des Berufs­le­bens feh­len?

Weis­heit der Gefüh­le

Frau Schön fragt sich auch, wer da ist, wenn sie Hil­fe und Trost benö­tigt, wenn ihre Selb­stän­dig­keit mehr und mehr abhan­den­kommt? Und: Wer ist bei mir, wenn ich ster­be? Sie erzählt mir, dass sie auf­grund einer feh­len­den Ant­wort auf die­se Fra­ge schon häu­fig über­legt hat, mit Exit, der schwei­ze­ri­schen Ster­be­hil­fe­or­ga­ni­sa­ti­on, aus dem Leben zu schei­den.

Für die Bio­gra­fie­ar­beit ist es grund­sätz­lich wich­tig, dass alle vor­han­de­nen Gedan­ken und Gefüh­le, auch die soge­nannt nega­ti­ven, aus­ge­spro­chen wer­den dür­fen. Oft herrscht die Mei­nung, dass das Zulas­sen die­ser Gedan­ken und Gefüh­le dem Krebs nur Vor­schub leis­tet, doch mei­ne Erfah­rung zeigt mir, dass die vor­han­de­nen Gefüh­le nur mit einem enor­men Kraft­auf­wand unter­drückt und ver­drängt wer­den kön­nen. Die­se Kraft wird andern­orts viel drin­gen­der gebraucht.

Frau Schön benö­tigt sie zum Bei­spiel dafür, sich die­sen drän­gen­den Fra­gen zu stel­len und ihnen nicht aus­zu­wei­chen. Es braucht Kraft, den eige­nen Gefüh­len Raum, Gehör und Aus­druck zu ver­schaf­fen. Was wol­len sie sagen? Wor­auf deu­ten sie hin? Was gibt es zu ent­de­cken? Doch bevor es zu Ant­wor­ten kommt, geht es dar­um, die Ohn­macht der Fra­ge aus­zu­hal­ten.

Den Gefüh­len Aus­druck geben

Ich ermun­te­re Frau Schön, der Ohn­macht nicht wie bis­her durch Akti­vis­mus und Aus­sen­ori­en­tie­rung aus­zu­wei­chen, son­dern sich ihr zu stel­len. Für sie ist es dabei ganz wich­tig, sich in ver­trau­ens­wür­di­ger und lie­be­vol­ler Atmo­sphä­re und Betreu­ung zu wis­sen. Schritt für Schritt kann sie ihrem Bedürf­nis nach Kon­trol­le und „Stark-sein-wol­len“  immer mehr wider­ste­hen. Ab und zu weint Frau Schön, doch sie muss das nicht ver­ste­cken und schämt sich nicht mehr dafür. Sie „erwischt“ sich auch selbst dabei, dass sie nicht mehr den gan­zen Tag im Vor­aus plant; frü­her plan­te sie min­des­tens die gan­ze Woche. Immer häu­fi­ger kann sie die ruhi­gen Momen­te genies­sen, in denen „nichts“ läuft.

Frau Schön geniesst vor allem die Kon­tak­te zu den ande­ren Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten. Es ent­ste­hen zuneh­mend Gesprä­che, in denen es um ganz per­sön­li­che The­men geht. Die­se Art der Gesprä­che war sie bis­her nicht gewohnt.

Der Lebens­rück­blick, vor allem der beson­de­re Blick auf die schwie­ri­gen Lebens­pha­sen, konn­te Frau Schön zei­gen, dass es immer eine Lösung oder eine Wen­de gab. So konn­te sie nicht nur Ver­trau­en in sich gewin­nen, son­dern auch in ihr gesam­tes Schick­sal. Durch die Erkennt­nis, dass jedes ein­zel­ne Lebens­er­eig­nis mit einem ande­ren zusam­men­hängt, ent­steht für Frau Schön eine Fol­ge­rich­tig­keit, die sie sehr berührt und ihr eine Spur ihrer Ein­sam­keit nimmt.

Der Blick auf Gegen­wart und Zukunft

Auch bei Frau Schön ent­steht der Wunsch, die Erkennt­nis­se aus der Rück­schau auf die jet­zi­ge Lebens­si­tua­ti­on zu über­tra­gen. Die Prä­gung aus ihrer frü­hen Kind­heit möch­te sie ver­wan­deln. Sie möch­te in der ihr ver­blei­ben­den Zeit ler­nen, ihren Gefüh­len Acht­sam­keit und Wert­schät­zung ent­ge­gen­zu­brin­gen, sich emo­tio­nal nicht mehr nur abzu­gren­zen und intel­lek­tu­ell abzu­si­chern, son­dern sich zu öff­nen, auch ande­ren Men­schen gegen­über. Die Erfah­run­gen, die sie dies­be­züg­lich aktu­ell in der Kli­nik macht, ermun­tern sie dazu.
Mit dem Ver­trau­en wächst auch die Lebens­freu­de wie­der ein wenig, den­noch blei­ben die Ängs­te.

Jetzt gilt es zu schau­en, wel­che Mög­lich­kei­ten sie hat, die­sen Ängs­ten zu begeg­nen. Was sind Vor­stel­lun­gen bezüg­lich des­sen, was ein­tre­ten könn­te? Besteht im gegen­wär­ti­gen Moment Lebens­ge­fahr, oder kann ich ein Ver­trau­en ent­wi­ckeln, dass ich es spü­ren wer­de, wenn der Tod kommt? Was gibt es im Fall des Todes noch zu erle­di­gen, auch ganz prak­tisch? Ich erzäh­le Frau Schön von mei­ner Erfah­rung, dass die meis­ten Men­schen ganz erleich­tert sind, wenn sie die For­ma­li­tä­ten rund um den Tod gere­gelt haben. Wenn das gere­gelt ist, was gere­gelt wer­den kann, kann man sich auf das Leben kon­zen­trie­ren. Das heisst für Frau Schön, sich auf sich selbst ein­zu­las­sen, Ver­trau­en in sich selbst, in ande­re Men­schen, in neue Gedan­ken zu haben, sich über­ra­schen zu las­sen von dem, was der neue Tag brin­gen mag.

Das Leben wie­der gern haben

Frau Schön ist nun seit drei Wochen in der Kli­nik. Sie war anfäng­lich vol­ler Ängs­te und erschüt­tert über das erneu­te Auf­tre­ten der Krebs­er­kran­kung. In die­sen drei Wochen haben wir es nicht erreicht, den Tumor zu besei­ti­gen, doch Frau Schön konn­te wie­der Boden unter den Füs­sen ver­spü­ren und die Lebens­freu­de zurück­ge­win­nen. Sie sagt selbst: „In Kom­bi­na­ti­on mit all den ande­ren The­ra­pi­en, in der geschütz­ten und umsorg­ten Atmo­sphä­re, war es mir mög­lich, dass ich mich all mei­nen drän­gen­den Fra­gen, mei­nen Ängs­ten und mei­ner Zer­ris­sen­heit stel­len konn­te. Es war tat­säch­lich Arbeit, doch heu­te bin ich ruhi­ger und gelas­se­ner, kann mich und die Situa­ti­on, in der ich mich befin­de, bes­ser anneh­men. Es ist noch nicht fer­tig, es geht wei­ter, doch lebe ich anders damit. Ich habe gese­hen, dass ich ver­wund­bar und ver­letz­lich bin, das zeigt mir, ich bin mensch­lich. Das Schöns­te ist, dass ich das Leben wie­der gern bekom­men habe.“

Autoren_Quinte402

Fach­per­son Cäci­lia Wei­lig­mann
Arbeits­schwer­punk­te Bio­gra­fie­ar­bei­te­rin, Psy­cho­on­ko­lo­gi­sche Bera­te­rin SGPO, seit 2003 Bio­gra­fie­ar­bei­te­rin an der Lukas Kli­nik, seit 2014 an der Kli­nik Arle­sheim
Kon­takt caecilia.weiligmann@klinik-arlesheim.ch

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