Wenn der Bauch chronisch schmerzt

Für Pati­en­ten, Ärz­te und das Gesund­heits­we­sen sind funk­tio­nel­le Bauch­be­schwer­den eine gros­se Her­aus­for­de­rung. Für das Gesund­heits­sys­tem ent­ste­hen auf­grund der Häu­fig­keit hohe Kos­ten für dia­gnos­ti­sche Mass­nah­men. Für die Pati­en­ten besteht in der Regel eine rele­van­te Beein­träch­ti­gung der Lebens­qua­li­tät, und für uns Ärz­te bedeu­ten funk­tio­nel­le Bauch­be­schwer­den immer eine dia­gnos­ti­sche und the­ra­peu­ti­sche Her­aus­for­de­rung, auch in der Gestal­tung einer trag­ba­ren Pati­en­ten-Arzt-Bezie­hung.

Vielfältige, langwierige Symptome

Eine 36-jäh­ri­ge Pati­en­tin stellt sich in der Sprech­stun­de vor. Sie lei­det seit län­ge­rem an Blä­hun­gen, Bauch­schmer­zen und Durch­fäl­len. Wegen der Blä­hun­gen und der damit ver­bun­de­nen Bauch­um­fangs­ver­meh­rung kann sie ihre Klei­der nicht mehr anzie­hen, die sie bei der Arbeit tra­gen müss­te. Zudem wür­den immer wie­der Durch­fäl­le auf­tre­ten. Nach ver­schie­de­nen Behand­lungs­ver­su­chen will sie jetzt end­lich genau wis­sen, was sie eigent­lich hat.
Die Sym­pto­me bei Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten mit Reiz­darm­syn­drom sind unter­schied­lich. Bauch­schmer­zen gehö­ren immer dazu und ermög­li­chen die Abgren­zung zu ande­ren funk­tio­nel­len Bau­ch­erkran­kun­gen. Die Schmer­zen sind in der Regel dif­fus und von wech­seln­dem Cha­rak­ter und Ort. Zudem lei­den die Pati­en­ten meis­tens an Stuhl­un­re­gel­mäs­sig­kei­ten, Ver­stop­fung oder Durch­fall. Vie­le bemer­ken eine Ver­än­de­rung der Sym­pto­me in Abhän­gig­keit vom Stuhl­gang. Blä­hun­gen und Völ­le­ge­fühl sind häu­fig. In der Regel bestehen die Beschwer­den schon lan­ge, defi­ni­ti­ons­ge­mäss min­des­tens drei Mona­te. Es han­delt sich um ein chro­ni­sches, also lang andau­ern­des Krank­heits­bild.
Bei unse­rer Pati­en­tin haben die Beschwer­den mit einer Magen-Darm-Grip­pe vor mehr als einem Jahr ange­fan­gen. Die Durch­fäl­le haben danach nie voll­stän­dig auf­ge­hört, und im Ver­lauf sind die Schmer­zen dazu gekom­men.

Komplizierte Diagnostik

In der Regel erfolgt eine Basis­ab­klä­rung durch den Haus­arzt. Die­ser wird eine Labor­kon­trol­le, eine Stuhl­un­ter­su­chung auf häu­fi­ge Krank­heits­er­re­ger und Ent­zün­dungs­wer­te (Cal­pro­tec­tin) sowie allen­falls eine Abdo­men-Sono­gra­phie, eine Ultra­schall­un­ter­su­chung des Bauch­rau­mes, ver­an­las­sen. Bei oft unauf­fäl­li­gen Ergeb­nis­sen folgt anschlies­send meis­tens ein auf die Sym­pto­me bezo­ge­ner Behand­lungs­ver­such. Häu­fig funk­tio­niert das anfäng­lich auch etwas, aber die Bes­se­rung bleibt unvoll­stän­dig und auf­grund der feh­len­den greif­ba­ren oder erklä­ren­den Befun­de geben sich Pati­ent und Arzt mit der Ver­dachts­dia­gno­se oft nicht lan­ge zufrie­den.
In sol­chen Fäl­len erfolgt dann die Über­wei­sung an den Fach­arzt für Gas­tro­en­te­ro­lo­gie. Die­ser wird die Dia­gnos­tik noch aus­wei­ten und ande­re mög­li­che Dia­gno­sen aus­schlies­sen.
Die Mass­nah­men rich­ten sich dabei bereits nach den Sym­pto­men der Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten. Sie wer­den Magen- und Darm­spie­ge­lung, Stuhl­un­ter­su­chung und allen­falls radio­lo­gi­sche Ver­fah­ren beinhal­ten.
Am Ende wird das Reiz­darm­syn­drom eine soge­nann­te Aus­schluss­dia­gno­se blei­ben. Es ist nicht durch einen ein­zel­nen Befund defi­niert. Viel­mehr fasst es als Syn­drom ver­schie­de­ne Beschwer­den zusam­men.
Um die Dia­gno­se zu ver­ein­fa­chen, haben sich 2016 zum vier­ten Mal Spe­zia­lis­tin­nen und Spe­zia­lis­ten in Rom getrof­fen, um die Kri­te­ri­en fest­zu­le­gen, die bei der Dia­gno­se­stel­lung her­an­ge­zo­gen wer­den kön­nen. Im All­tag wird sie dadurch erleich­tert und zudem eine unnö­ti­ge Über­dia­gnos­tik ver­mie­den:

ROM IV-Kri­te­ri­en

• rezi­di­vie­ren­de abdo­mi­nel­le Schmer­zen, das heisst wie­der­keh­ren­de Bauch­schmer­zen
• Sym­ptom­be­ginn vor mehr als 6 Mona­ten
• Sym­pto­me min­des­tens ein­mal wöchent­lich wäh­rend der letz­ten 3 Mona­te
• ver­bun­den mit min­des­tens zwei der drei fol­gen­den Sym­pto­me:
   − Beschwer­den im Zusam­men­hang mit dem Stuhl­gang
   − Ände­rung der Häu­fig­keit des Stuhl­gangs
   − Ände­rung der Stuhl­kon­sis­tenz, der Beschaf- fen­heit des Stuhls

Bezüg­lich unse­rer Pati­en­tin tref­fen die­se Kri­te­ri­en gut zu. Inso­fern darf ein Reiz­darm­syn­drom ange­nom­men wer­den. Die Dia­gno­se­stel­lung ist aber für die The­ra­pie nicht aus­rei­chend. Mitt­ler­wei­le wer­den die Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten in Abhän­gig­keit von den Beschwer­den in ver­schie­de­ne Unter­grup­pen ein­ge­teilt. Dies ist vor allem für die The­ra­pie wich­tig und ermög­licht, die­se bes­ser an die Pati­en­ten anzu­pas­sen.
Von den vier beschrie­be­nen Typen sind drei häu­fig und kli­nisch-the­ra­peu­tisch beson­ders rele­vant. Wir unter­schei­den das Reiz­darm­syn­drom vom Typ Obsti­pa­ti­on (Ver­stop­fung), vom Typ Diar­rhoe (Durch­fall) und den gemisch­ten Typ, auch je nach Beschaf­fen­heit des Stuhls.

Wichtige Differenzialdiagnosen

Für die Ame­ri­can Gas­tro­en­te­ro­lo­gy Asso­cia­ti­on reicht es, bei sonst gesun­den Pati­en­ten die Dia­gno­se anhand der ROM IV-Kri­te­ri­en zu stel­len, ohne wei­ter­füh­ren­de Dia­gnos­tik durch­zu­füh­ren.
In der Schweiz und in Deutsch­land lau­tet dem­ge­gen­über die Emp­feh­lung, wich­ti­ge Dif­fe­ren­zi­al­dia­gno­sen, das heisst eben­falls mög­li­che alter­na­ti­ve Dia­gno­sen, aus­zu­schlies­sen. Dazu gehö­ren Nah­rungs­mit­te­lun­ver­träg­lich­kei­ten (Lak­to­se und Glu­ten), beim Durch­fall-Typ Infek­tio­nen des Magen-Darm-Trakts sowie chro­nisch ent­zünd­li­che Darm­er­kran­kun­gen und beim Ver­stop­fungs-Typ auch Darm­krebs. Auch des­we­gen ist eine Unter­su­chung beim Magen-Darm-Spe­zia­lis­ten stets sinn­voll.

Bei der 36-jäh­ri­gen Pati­en­tin waren Magen- und Darm­spie­ge­lung unauf­fäl­lig. Im Atem­test bestand kein Hin­weis auf eine Lak­to­se­into­le­ranz, in der Blut­un­ter­su­chung kein Hin­weis auf eine Zölia­kie. Beim Durch­fall-Typ gehört auch eine drei­fa­che Stuhl­un­ter­su­chung dazu, um infek­tiö­se Darm­er­kran­kun­gen aus­zu­schlies­sen. Die­se waren eben­falls unauf­fäl­lig, und auch der Cal­pro­tec­tin-Wert (Ent­zün­dungs­wert im Darm) lag im Norm­be­reich. Auf­grund der Ana­mne­se konn­te unter Berück­sich­ti­gung der ROM IV-Kri­te­ri­en ein Reiz­darm­syn­drom dia­gnos­ti­ziert wer­den. Schon die deut­li­che Erklä­rung, wor­auf sich die Dia­gno­se stützt, hat der Pati­en­tin gehol­fen, bes­ser mit ihrer Erkran­kung umzu­ge­hen.

Hilfreiche Menschenkunde

In der Anthro­po­so­phi­schen Medi­zin ver­su­chen wir Erkran­kun­gen nicht nur als Aus­druck iso­lier­ter Fehl­funk­tio­nen des mensch­li­chen Kör­pers zu ver­ste­hen, son­dern den Kon­text, in dem sie auf­tre­ten, mit zu berück­sich­ti­gen.
Vie­le Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten mit Reiz­darm­syn­drom berich­ten von see­li­schen Belas­tun­gen und schät­zen auf die ent­spre­chen­de Fra­ge den see­lisch-sozia­len Aspekt auf min­des­tens 50 Pro­zent. Dazu gehört auch, dass sich die Beschwer­den häu­fig ver­än­dern oder ver­schlech­tern, wenn sozia­le Über­for­de­run­gen auf­tre­ten. In der Sprech­stun­de ist mir auf­ge­fal­len, dass beson­ders see­li­sche Erleb­nis­se, die mit Sor­gen zusam­men­hän­gen, häu­fig berich­tet wer­den.
Wich­tig erscheint mir auch der fol­gen­de Aspekt: Im Schmerz drückt sich aus, dass das See­len­le­ben des Pati­en­ten die eige­nen Kör­per­funk­tio­nen all­zu wach wahr­nimmt.
Eigent­lich soll­ten wir über die Pro­zes­se in unse­rem Bauch gar nicht zu sehr nach­den­ken. Schmerz kann des­halb auch bedeu­ten, an einer Stel­le Bewusst­sein zu ent­wi­ckeln, wo eigent­lich kein Bewusst­sein hin­ge­hört.
Ins Bild gebracht scheint die Gren­ze zwi­schen See­le und Kör­per bei Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten mit Reiz­darm­syn­drom etwas zu durch­läs­sig.

Vielschichtige Pathophysiologie

In den letz­ten Jah­ren konn­ten vie­le Aspek­te des Reiz­darm­syn­droms erforscht wer­den. Wir ken­nen mitt­ler­wei­le eini­ge häu­fi­ge Aus­lö­ser und ver­ste­hen einen Teil der Patho­phy­sio­lo­gie, das heisst der Krank­heits­ent­ste­hung und der Krank­heits­ent­wick­lung. Als Aus­lö­ser kom­men psy­cho­so­zia­ler Stress und vor allem chro­ni­scher Stress in Fra­ge. Zudem tre­ten Reiz­darm­syn­dro­me ver­mehrt nach Bauch­ope­ra­tio­nen, bei Nah­rungs­mit­te­lun­ver­träg­lich­kei­ten und nach Infek­ten des Magen-Darm-Trakts auf.
Bei unse­rer Pati­en­tin ist daher von einem post­in­fek­tiö­sen Reiz­darm­syn­drom vom Durch­fall-Typ (Diar­rhoe) aus­zu­ge­hen.
Die chro­ni­schen Durch­fäl­le kön­nen auf­grund gestei­ger­ter Durch­läs­sig­keit (Per­mea­bi­li­tät) der Darm­wand, gestei­ger­ter immu­no­lo­gi­scher Akti­vi­tät oder Ver­än­de­run­gen im Mikro­bi­om auf­tre­ten. Gemeint ist damit die Zusam­men­set­zung der Darm­bak­te­ri­en. Ver­än­de­run­gen der Moti­li­tät und Peris­tal­tik, der auf­ein­an­der abge­stimm­ten mus­ku­lä­ren Bewe­gun­gen im Magen-Darm-Trakt, kön­nen zudem sowohl eine Ver­stop­fung als auch bei gestei­ger­ter Beweg­lich­keit eine Durch­fall­nei­gung ver­ur­sa­chen.
Span­nend sind neue­re Erkennt­nis­se über eine soge­nann­te „vis­cera­le Über­erreg­bar­keit“. Die­se bezeich­net eine Stei­ge­rung der Ner­ven­funk­ti­on im Bauch­raum. Das Bild, dass die Pati­en­ten mit Reiz­darm­syn­drom „zu wach“ sind im Bauch, hat damit eine wis­sen­schaft­li­che Grund­la­ge bekom­men. Prin­zi­pi­ell ist beim Schmerz­er­leb­nis von einer gestör­ten Gehirn-Darm-Inter­ak­ti­on aus­zu­ge­hen. An die­ser Stel­le wird bereits erahn­bar, dass see­li­sche Ent­span­nung und eine Reduk­ti­on der Erreg­bar­keit ein wich­ti­ges the­ra­peu­ti­sches Kon­zept dar­stel­len könn­te.

Verschiedene Ausprägungen des Reizdarmsyndroms

Zusam­men­fas­send wer­den zwei Haupt­ty­pen und ein Misch-Typ unter­schie­den. Allen Typen scheint eine zu wache Kon­sti­tu­ti­on gemein­sam zu sein, da kör­per­li­che Vor­gän­ge wahr­ge­nom­men wer­den, die eigent­lich nicht bewusst wahr­ge­nom­men wer­den soll­ten. Zudem zeich­nen sich die Betrof­fe­nen häu­fig durch eine gros­se Wach­heit für see­lisch-sozia­le Pro­zes­se und Kon­flik­te aus oder ste­hen selbst in einem kon­flikt­rei­chen Lebens­zu­sam­men­hang.

Die bei­den Haupt­ty­pen des Reiz­darm­syn­droms (RDS) kön­nen wie folgt cha­rak­te­ri­siert wer­den:

RDS Diar­rhoe-Typ:

- lei­det an Schmer­zen und Durch­fäl­len
- mög­li­cher­wei­se durch eine gestei­ger­te Per­mea­bi­li­tät (Durch­läs­sig­keit der Darm­wand) oder gestei­ger­te
Ent­zün­dungs­ak­ti­vi­tät

- häu­fig Blä­hun­gen
- Ver­än­de­run­gen im Mikro­bi­om, in der Zusam­men­set­zung der Darm­bak­te­ri­en RDS Obsti­pa­ti­ons-Typ
- lei­det an Schmer­zen, Blä­hun­gen und Ver­stop­fung
- häu­fig durch eine ver­lang­sam­te Moti­li­tät (Beweglichkeit/Peristaltik)

Blä­hun­gen sind folg­lich bei bei­den Typen häu­fig. Dabei kön­nen Stö­run­gen der Gas­bil­dung mit mess­ba­rer Bauch­um­fangs­ver­meh­rung und gestör­te Wahr­neh­mun­gen phy­sio­lo­gi­scher Deh­nun­gen des Darms unter­schie­den wer­den, letz­te­re mit Bläh- oder Völ­le­ge­fühl bei feh­len­der Bauch­um­fangs­ver­meh­rung.
Bei letz­te­ren Beschwer­den wird ein phy­sio­lo­gi­scher Pro­zess als krank­haft wahr­ge­nom­men. Dabei liegt ein ähn­li­ches Pro­blem wie bei den Schmer­zen vor, bei denen eine Über­wach­heit bezie­hungs­wei­se gestei­ger­te Wahr­neh­mung des eige­nen Kör­pers zum Krank­heits­er­leb­nis führt.
Im Hin­blick auf eine wirk­sa­me The­ra­pie des Reiz­darm­syn­droms ist es wich­tig, all die­se Zusam­men­hän­ge dif­fe­ren­ziert in Betracht zu zie­hen.

Fach­per­son

Phil­ipp Busche

Arbeits­schwer­punk­te Fach­arzt für Inne­re Medi­zin
und Gas­tro­en­te­ro­lo­gie (D).
Zusatz­be­zeich­nung Not­fall­me­di­zin.
Fach­be­reichs­lei­tung Spe­zia­lis­ten Kli­nik Arle­sheim.
Anthro­po­so­phi­sche Medi­zin (GAÄD).
Unter­rich­tet seit 2004
an der Eugen-Kolis­ko-Aka­de­mie (D).
Seit 2016 Lei­ter der Ärz­teaus­bil­dung Arle­sheim.
Kon­takt philipp.busche@klinik-arlesheim.ch

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