Wenn das Leben zu Ende geht

Men­schen in ihrem letz­ten Lebens­ab­schnitt beglei­ten zu dür­fen, ist eine anspruchs­vol­le und berei­chern­de Auf­ga­be, auch aus Sicht der Pfle­ge. Nina Frey, Pfle­ge­fach­frau an der Kli­nik Arle­sheim, berich­tet dazu aus ihren Erfah­run­gen.

Die Wor­te „Tod“ und „Ster­ben“ sind in unse­rer heu­ti­gen, auf­ge­klär­ten Zeit immer noch ein Tabu. Auch „Krebs“ gehört für vie­le in die­se Kate­go­rie. Dank der welt­weit gel­ten­den Richt­li­ni­en der Pal­lia­ti­ve Care jedoch wird der erkrank­te Mensch – unter Mit­ein­be­zug sei­ner Ange­hö­ri­gen – mit grösst­mög­li­cher Pro­fes­sio­na­li­tät medi­zi­nisch, psy­cho­so­zi­al und spi­ri­tu­ell bis zu sei­nem Ende beglei­tet, auch an der Kli­nik Arle­sheim.

Ster­ben­de Men­schen indi­vi­du­ell beglei­ten

Pal­lia­ti­ve Care ist nicht mehr nur Auf­ga­be von aus­ge­bil­de­ten Spe­zia­lis­tin­nen und Spe­zia­lis­ten, sie umfasst viel­mehr eine Hal­tung eines mul­ti­pro­fes­sio­nel­len Teams, das den Pati­en­ten beglei­tet. Die­se Hal­tung soll auch in die kura­ti­ve Medi­zin ein­flies­sen und nicht erst zum Ende des Lebens in der Betreu­ung eine tra­gen­de Rol­le spie­len. Es gilt, dem erkrank­ten Men­schen, sei­ner Geschich­te, sei­nen Sor­gen und sei­nen Wün­schen mit einem gros­sen medi­zi­ni­schen Wis­sen, ehr­li­chem Inter­es­se, sach­li­cher Vor­ur­teils­lo­sig­keit und war­mem Zuge­wandt­sein zu begeg­nen.
Regeln und Gui­de­li­nes sind wich­tig, doch ist Ster­ben ein ganz inti­mer, per­sön­li­cher Pro­zess. Jeder Mensch lebt sein eige­nes, indi­vi­du­el­les Leben bis zum letz­ten Atem­zug, und was für den einen rich­tig und wich­tig ist, ist für den ande­ren ohne Bedeu­tung. Des­halb gilt es, sich auf alle Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten unvor­ein­ge­nom­men ein­zu­las­sen. Der ster­ben­de Mensch soll sein Leben voll­enden kön­nen, so wie es ihm ent­spricht. Als Pfle­gen­de bin ich viel eher Lebens­be­glei­te­rin als Ster­be­be­glei­te­rin. Es geht bis zum Lebens­en­de um Lebens­ge­stal­tung und dar­um, Ver­trau­en zu haben in die Zukunft, auch jen­seits der Schwel­le.
Auf mei­nem zwei­ten Stand­bein als frei­schaf­fen­de Pfle­ge­fach­frau beglei­te ich immer wie­der Men­schen bis zu ihrem Tod zu Hau­se, im Kreis ihrer Nächs­ten, in ihrer gewohn­ten Umge­bung. Ich möch­te hier eini­ge Erfah­run­gen schil­dern, die ich in den letz­ten Jah­ren machen durf­te, und damit auf­zei­gen, wie ver­schie­den die Wege sind und wie­viel Schö­nes es geben kann auf dem letz­ten Stück Weg.

Lage­be­spre­chun­gen im Pro­zess des Abschied­neh­mens

Ich beglei­te­te Herrn M. über 14 Mona­te. Ich besuch­te ihn anfangs alle zwei Wochen zur „Lage­be­spre­chung“, wie er es nann­te. Ich hat­te nichts wirk­lich Medi­zi­ni­sches zu ver­rich­ten, aber es bestand immer Gesprächs­be­darf. Herr M. leb­te allei­ne, war Mit­te Fünf­zig und arbei­te­te bis zwei Mona­te vor sei­nem Tod als Schrei­ner. Er hat­te zwei Kat­zen als Wohn­ka­me­ra­den und sei­ne gröss­te Sor­ge war, dass sei­ne Tie­re kein gutes Plätz­chen fin­den wür­den, wenn er ein­mal nicht mehr da war. Schon in unse­rem ers­ten Gespräch sag­te er, er wol­le daheim ster­ben, er habe ein paar gute, sehr nahe Freun­de, die zu ihm schau­en wür­den. Ich klär­te ihn auf bezüg­lich Spitex, pal­lia­ti­ven Diens­ten für zu Hau­se, Besu­cher­dienst der GGG (Gesell­schaft für das Gute und Gemein­nüt­zi­ge Basel) oder des Roten Kreu­zes, etc.
Aber jetzt wür­de erst ein­mal noch gelebt wer­den! Er fing an Din­ge zu unter­neh­men, die er immer schon ger­ne gemacht hat­te oder die er immer schon ein­mal machen woll­te. Eines davon war ein Heli­ko­pter­flug in den Alpen. Er schenk­te sich sel­ber und sei­nem bes­ten Freund solch einen Alpen­rund­flug zu sei­nem 54. Geburts­tag. Sechs Mona­te bevor er starb, unter­nahm er die­sen Flug. Als ich ihn danach wie­der besuch­te, sah ich einen sehr glück­li­chen Mann. „Da oben ist so viel Schön­heit und so viel Klar­heit“, er zeig­te mit dem Fin­ger Rich­tung Him­mel, „da möch­te ich hin, wenn ich ein­mal nicht mehr bin.“
In den kom­men­den Mona­ten besuch­te ich Herrn M. wöchent­lich, im letz­ten Monat manch­mal zwei Mal wöchent­lich. Er sprach immer wie­der von die­sem unver­gess­li­chen Flug. Sein Freund hat­te eines der vie­len Alpen­fo­tos ver­grös­sern und rah­men las­sen, und nun hing es neben sei­nem Bett, das wir ins Wohn­zim­mer gestellt hat­ten.
Bei unse­rem letz­ten Tref­fen sah Herr M. sehr ein­ge­fal­len und müde aus, er konn­te sich kaum noch bewe­gen, das Atmen fiel ihm schwer, und er sprach nur noch ganz lei­se. „Ich bin so trau­rig“ sag­te er, und nach einer lan­gen Pau­se: „und so froh.“ Ich nahm das Foto von der Wand und hielt es ihm hin, so dass er den Kopf nicht dre­hen muss­te. Lan­ge hat er geschaut. Zwei Stun­den spä­ter ging ich nach Hau­se. In der fol­gen­den Nacht starb Herr M. im Bei­sein sei­nes Freun­des.
Herr M. wuss­te, dass er ster­ben wür­de. Er wuss­te um sei­ne pal­lia­ti­ve Situa­ti­on. Nach dem Erhalt der Dia­gno­se folg­ten eini­ge schwe­re Mona­te für ihn. Danach war es ihm mit Unter­stüt­zung mög­lich, erneut Kräf­te zu mobi­li­sie­ren und sich die­sen Wunsch zu erfül­len. Das war sein ganz indi­vi­du­el­ler Weg.

Durch­trenn­te Nabel­schnur

Frau H. ist im Alter von 51 Jah­ren ver­stor­ben. Sie war immer eine tat­kräf­ti­ge, unter­neh­mungs­lus­ti­ge Frau, ging auf Rei­sen, traf Freun­de und Fami­lie und hat­te eigent­lich im Sinn, noch lan­ge zu leben. Sie ging wäh­rend ihrer Erkran­kungs­zeit durch ver­schie­dens­te Sta­di­en und Befind­lich­kei­ten, manch­mal von Schmer­zen beherrscht und in Not, manch­mal in ganz auf­ge­räum­ter Stim­mung, trotz ver­schie­de­ner unan­ge­neh­mer Kör­per­sym­pto­me, bis­wei­len eher zurück­ge­zo­gen und nach­denk­lich brü­tend, dann wie­der aktiv und freud­voll am Leben teil­neh­mend.
An einem unse­rer letz­ten Tref­fen eröff­ne­te sie mir, dass sie jetzt bereit sei zu gehen. „Letz­te Nacht hat der Tod kurz ange­klopft“, sag­te sie. Sie hat­te eigen­ar­ti­ge Träu­me, war ruhe­los, um dann völ­lig erschöpft in einen Tief­schlaf zu fal­len. „Ich glau­be, die Nabel­schnur, die mich mit dem Leben ver­bin­det, ist durch­trennt“, so füh­le es sich für sie an, sie habe sich von allen ver­ab­schie­det, das mache sie ganz ruhig. Sie wirk­te ent­spannt und zufrie­den.
„Das war ein har­ter Pro­zess, eine Berg- und Tal­fahrt, aber es war wohl nötig. Das ein­zi­ge, was mich wirk­lich belas­tet, ist, dass mei­ne Liebs­ten nach mei­nem Tod viel Kum­mer haben wer­den und ich sie nicht trös­ten kann“, sag­te sie noch, und: “Wie sehen Sie das?“ – „Beim Ster­ben beginnt es, im Her­zen hell zu wer­den. Ich glau­be, einen Teil die­ser Strahl­kraft las­sen Sie dann hier zurück, wenn Sie über der Schwel­le sind. Der Abschied geht dann etwas leich­ter für die, die blei­ben“, ant­wor­te­te ich. Vier Tage spä­ter starb sie im Kreis ihrer Fami­lie.

Tan­zen im Licht

Das Ehe­paar K. beglei­te­te ich vor eini­gen Mona­ten. Der Mann, 91 Jah­re alt, war schwer erkrankt, die Frau, 89 Jah­re alt, war gesund. Ich unter­stütz­te sei­ne Frau bei sei­ner Pfle­ge, koch­te ab und zu, orga­ni­sier­te ande­re an der Pfle­ge betei­lig­te Diens­te, besorg­te Medi­ka­men­te, lehr­te Frau K. Injek­tio­nen zu geben, ver­ab­reich­te ihm Infu­sio­nen.
Das Ehe­paar besass den häss­lichs­ten, aber lie­bens­wer­tes­ten Hund, den ich je ken­nen­ler­nen durf­te; gross wie ein Schaf, lang­sam wie eine Schne­cke, mit einem Her­zen aus Gold. Bei­de lieb­ten sie ihn, er gehör­te zum Fami­li­en­gefü­ge.
„Wie­so ist das Ster­ben bloss so anstren­gend und geht bei mir so lang­sam?“, frag­te mich Herr K. „Dazu kommt mir immer das Bild mit der Rau­pe in den Sinn“, sag­te ich, „es ist eine gros­se, wie man mei­nen mag anstren­gen­de Meta­mor­pho­se, die die Rau­pe durch­macht, bevor sie zum Schmet­ter­ling wird“, sag­te ich wei­ter, „danach tanzt sie im Licht“. Er schien dar­über nach­zu­den­ken, denn eini­ge Tage spä­ter erklär­te er sei­ner Frau, in mei­nem Bei­sein: „Ich tan­ze bald im Licht, wuss­test du das?“
Im Ster­be­pro­zess geschieht Wand­lung; das ist offen­sicht­lich. Als Pfle­gen­de muss ich den inne­ren Weg, den der Ster­ben­de geht, mit­füh­lend ach­ten, und ich stau­ne oft dar­über, wie­viel Wan­del bis zum letz­ten Atem­zug mög­lich ist. Strei­te­rei­en wer­den been­det, Türen geöff­net, es wird ver­zie­hen und ver­ge­ben, alte, belas­ten­de Geschich­ten wer­den los­ge­las­sen, weil all das nicht mehr wesent­lich ist. Das war auch so beim Ehe­paar K. Sie erwähn­te ein­mal, dass ihr Mann stets ein “Murr­li” war, oft etwas unfreund­lich zu ihr und sehr eigen­wil­lig. Mit den Nach­barn links und rechts hat­te er sich zer­strit­ten. Die Gemein­de­ver­wal­tung bekam den einen oder ande­ren Beschwer­de­brief von ihm.
Seit sei­ner Dia­gno­se vor drei Jah­ren wur­de er trotz gros­sen Kum­mers immer freund­li­cher zu sei­ner Frau, schimpf­te weni­ger und wirk­te weni­ger ver­bit­tert auf sie. Bei einem Gespräch zu Dritt äus­ser­te Herr K. die Hoff­nung, dass sei­ne Frau nicht zu lan­ge allein sein müs­se, am liebs­ten wäre ihm gewe­sen, dass sie gemein­sam, dank eines natür­li­chen Todes über die Schwel­le gehen könn­ten.
Sie war damit gar nicht ein­ver­stan­den. „Das geht nicht Peter“, sag­te sie, „ich muss auf­räu­men und alles regeln. Das gehört sich so! Ich bin gesund. Stell dir nur vor, was unser Hund machen wür­de, ohne uns bei­de!“ – Und so ging es wei­ter. Sie zähl­te vie­le ver­schie­de­ne Grün­de auf, wes­halb ihre Ster­be­zeit noch nicht gekom­men war; lei­se füg­te sie am Ende hin­zu: „Ich tan­ze dann ein ander­mal im Licht. Von mir aus kön­nen wir dann auch gemein­sam tan­zen.“ Danach wein­te sie.
Eine Woche spä­ter starb Herr K. im Bei­sein sei­ner Frau, sei­nes Hun­des und mir. Ich besu­che Frau K. immer noch. Es geht ihr gut, sie arbei­tet Schritt für Schritt ihre lan­ge Pen­den­zen­lis­te der noch zu erle­di­gen­den Din­ge ab. Dann wäre sie, wie sie sel­ber sagt, „bereit zu gehen“.

Ster­ben hat vie­le Facet­ten

Der Tod hat nichts Roman­ti­sches. Dem Ster­ben haf­tet kein Zau­ber an, kei­ne Mys­tik oder Poe­sie. Der Ster­be­weg kann wohl ein Erkennt­nis­weg sein, aber für sich allein kein Erleuch­tungs­weg. Ich per­sön­lich mag den ver­klär­ten Blick nicht. Ster­ben ist oft erbar­mungs­los, hart erlit­ten, oft schwer aus­zu­hal­ten, trau­rig – und doch sind da immer wie­der die­se schö­nen Momen­te, die in ihrer Schön­heit so zart und flüch­tig sind, dass es fast nur poe­ti­sche Wor­te dafür gibt.

 

Fach­per­son

Nina Frey

Arbeits­schwer­punk­te 1990 dipl. Pfle­ge­fach­frau für Psych­ia­trie HF, Arbeit in den ver­schie­dens­ten Gebie­ten
der Pfle­ge (Psych­ia­trie, Gas­sen­ar­beit, Alten­pfle­ge, Spitex, Onko­lo­gie, spi­talex­ter­ne Onko­lo­gie­pfle­ge).
Seit 2002 eige­ne Pra­xistä­tig­keit in Dor­n­ach und Umge­bung.
Seit 2006 in der Kli­nik Arle­sheim, Mit­auf­bau
der onko­lo­gi­schen Tages­kli­nik.
Aus­bil­dung klas­si­sche Mas­sa­ge & Reflex­zo­nen­the­ra­pie 1999, pal­lia­ti­ve Care Lehr­gang Level B2  Kan­tons­spi­tal St. Gal­len.
Kon­takt nina.frey@klinik-arlesheim.ch

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