Weg vom Homo oeconomicus, hin zum Homo sapiens

Die Medi­zin sieht sich mit viel­fäl­ti­gen Her­aus­for­de­run­gen kon­fron­tiert

Als ers­te Frau in der Geschich­te der Ver­bin­dung der Schwei­ze­ri­schen Ärz­tin­nen und Ärz­te FMH ist Yvon­ne Gil­li seit dem 1. Febru­ar 2021 deren Prä­si­den­tin. Zugleich ist sie die ers­te Ärz­tin mit kom­ple­men­tär­me­di­zi­ni­schen Zusatz­aus­bil­dun­gen in die­sem wich­ti­gen Amt. „Quinte“-Redaktor Hans-Peter Stu­der hat mit Yvon­ne Gil­li über ihre Ein­schät­zung der aktu­el­len Situa­ti­on im schwei­ze­ri­schen Gesund­heits­we­sen, ihre arzt- und pati­en­ten­be­zo­ge­nen Zie­le und die Zusam­men­ar­beit zwi­schen Schul- und Kom­ple­men­tär­me­di­zin gespro­chen.

Was erwar­tet die Ärz­tin­nen und Ärz­te im Schwei­zer Gesund­heits­we­sen?

Aktu­ell pro­fi­tie­ren wir davon, in einem der bes­ten Gesund­heits­we­sen der Welt arbei­ten zu kön­nen – mit den bes­ten Mög­lich­kei­ten, unse­re Pati­en­ten und Pati­en­tin­nen zu betreu­en. Oft sind wir uns des­sen im All­tag nicht mehr bewusst, und reagie­ren auf Ver­än­de­run­gen abweh­rend mit unter­drück­tem Groll, der sum­ma­risch mit von uns nicht gefor­der­ten und uner­wünsch­ten regu­la­ti­ven Ein­grif­fen in unser Berufs­le­ben zusam­men­hängt.
Es gibt zahl­rei­che Punk­te, die im ärzt­li­chen Arbeits­all­tag schwie­ri­ger gewor­den sind. In unse­rer letz­ten Mit­glie­der­be­fra­gung wur­de deut­lich, dass der Zeit­druck und Zeit­li­mi­ta­tio­nen in der Arzt-Pati­en­ten-Bezie­hung ein gros­ses The­ma sind – ein Kind der ein­ge­führ­ten Minu­ta­ge im Abrech­nungs­sys­tem TARMED.
Es ver­ste­ti­gen sich Dis­kus­sio­nen, die sich mit der zuneh­men­den Öko­no­mi­sie­rung der Gesund­heits­ver­sor­gung unter dem Titel „Kos­ten­druck“ zusam­men­fas­sen las­sen. Nicht ganz erstaun­lich geht die Öko­no­mi­sie­rung ein­her mit einem gigan­ti­schen Zuwachs an Inef­fi­zi­enz, was den Admi­nis­tra­tiv-
auf­wand für die ein­zel­ne Ärz­tin betrifft. Vie­le der aktu­ell im Par­la­ment behan­del­ten Vor­stös­se wür­den die­sen Trend wei­ter ver­stär­ken.
Die stän­di­gen Bestre­bun­gen, Kos­ten zu dämp­fen, set­zen expli­zit dar­auf, noch grös­se­ren Druck auf die Ärz­te­schaft aus­zu­üben, und möch­ten mit noch mehr Regu­lie­rung unse­re Ver­sor­gung öko­no­misch opti­mie­ren. Uns erwar­tet also die gros­se Her­aus­for­de­rung auf­zu­zei­gen, dass eine gute Gesund­heits­ver­sor­gung eine Ent­wick­lung bedingt, weg vom Homo oeco­no­mi­cus, hin zum Homo sapi­ens.

Wie kön­nen Sie sich als Prä­si­den­tin der gröss­ten Schwei­zer Ärz­te­ge­sell­schaft für die Ärz­tin­nen und Ärz­te ein­set­zen?

Ich set­ze mich für die Anlie­gen der Ärz­tin­nen und Ärz­te ein, indem ich den Ver­ant­wor­tungs­trä­gern in der Poli­tik auf­zei­ge, wie sich ihre Vor­ha­ben auf den All­tag der Pati­en­ten­ver­sor­gung aus­wir­ken. Es gilt, mit kon­kre­ten Bei­spie­len zu ver­an­schau­li­chen, wel­che par­la­men­ta­ri­schen Mass­nah­men in den lau­fen­den KVG-Revi­sio­nen unter dem Titel „Kos­ten­dämp­fungs­pa­ke­te“ hilf­reich sein könn­ten und wel­che Vor­ha­ben ein gros­ses Scha­den­po­ten­zi­al beinhal­ten. Im Vor­der­grund ste­hen ver­schie­de­ne Plä­ne, poli­tisch gesteu­er­te Bud­gets ein­zu­füh­ren. Die­se bedeu­te­ten einen Sys­tem­wech­sel, der uns noch mehr Zeit- und Kos­ten­druck, noch mehr Admi­nis­tra­ti­on und dazu War­te­zei­ten und eine Zwei­klas­sen­me­di­zin besche­ren wür­de.
Gleich­zei­tig hel­fen wir aber mit, gute Lösun­gen in der Wei­ter­ent­wick­lung des Gesund­heits­we­sens vor­an­zu­trei­ben, bewusst auch zu den Kos­ten. Ein Bei­spiel dafür wäre der Wech­sel zu einer ein­heit­li­chen Finan­zie­rung ambu­lan­ter und sta­tio­nä­rer Leis­tun­gen. Gene­rell ver­lan­gen wir, dass die Ärz­te­schaft nicht pra­xis- und bran­chen­fremd „top down“ regu­liert wird, son­dern selbst­ver­ständ­lich ein­ge­la­den ist mit­zu­ge­stal­ten. His­to­risch gese­hen war das lan­ge selbst­ver­ständ­lich. Heu­te ist die­ser Wunsch Visi­on.

Und was kön­nen Sie für die Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten bewir­ken?

Ärz­te­schaft und Pati­en­ten ver­ste­he ich als Paar, ohne des­sen leben­di­ge Bezie­hungs­kul­tur der Beruf der Ärz­tin gar kei­ne Berech­ti­gung hat. Eine gute Pati­en­ten­ver­sor­gung setzt gute Rah­men­be­din­gun­gen für die „Ver­sor­gen­den“ vor­aus. Medi­zin­stu­die­ren­de begin­nen ihre Aus­bil­dung mit einer intrinsi­schen Moti­va­ti­on, hel­fen zu wol­len. Es ist wich­tig, dass sie in ihrer Berufs­lauf­bahn die­se Moti­va­ti­on reflek­tie­ren und ent­wi­ckeln. Nie aber soll­ten sie sie ver­lie­ren.
So gese­hen ist der Ein­satz für die Anlie­gen der Ärz­te­schaft auch im Sin­ne der Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten. Uns ist wich­tig, dass Pati­en­tin­nen nicht ein­fach als Kos­ten­fak­to­ren betrach­tet wer­den, und dass im Ver­sor­gungs­sys­tem die Bezie­hung zum Men­schen in sei­ner Ganz­heit zählt.
Weni­ger Zeit­druck kann auch öko­no­mi­scher sein und unnö­ti­ge Behand­lun­gen redu­zie­ren. Auch der Kampf gegen eine poli­tisch gesteu­er­te Bud­ge­tie­rung ist letzt­lich im Sin­ne der Inter­es­sen von Pati­en­ten: Wenn Ärz­tin­nen gezwun­gen wer­den zu ratio­nie­ren, lei­den Pati­en­ten, weil ihnen Leis­tun­gen vor­ent­hal­ten wer­den.

Wel­che Her­aus­for­de­run­gen sehen Sie für das Gesund­heits­we­sen in den nächs­ten zehn bis zwan­zig Jah­ren?

Hier gibt es vie­le und sehr ver­schie­de­ne Her­aus­for­de­run­gen. Sie ste­hen im Kon­text einer sich ver­än­dern­den Gesell­schaft. Da wir Teil die­ser Ver­än­de­rung sind, man­gelt es unse­rer Ana­ly­se immer auch an Objek­ti­vi­tät und „gesun­dem Abstand“.
Demo­gra­fisch und kul­tu­rell bedingt stel­len sich für die Pati­en­tin­nen von heu­te nicht die glei­chen Her­aus­for­de­run­gen wie für die­je­ni­gen von mor­gen. Eine Gesell­schaft mit einem wach­sen­den Anteil alter Men­schen ist mit mehr chro­ni­schen, nicht-über­trag­ba­ren, oft auch lebens­sti­las­so­zi­ier­ten Erkran­kun­gen ver­bun­den.
Die Pan­de­mie mit COVID-19 zeigt gera­de, wie schnell ein sol­ches welt­wei­tes Gesche­hen – obwohl theo­re­tisch vor­aus­sag­bar – in der Pra­xis und im Leben Über­ra­schun­gen bereit­hält und unse­re Anpas­sungs­leis­tung her­aus­for­dert. Stress und The­men der psy­chi­schen Gesund­heit spie­len
eine immer grös­se­re Rol­le. Ein ganz­heit­li­cher Blick gewinnt damit an Bedeu­tung.
Nicht zuletzt sind wir Teil einer Gesell­schaft, die vie­le Rhyth­men und Riten ver­lo­ren hat und neue, auch indi­vi­du­el­le­re For­men der spi­ri­tu­el­len Ein­bin­dung sucht. Auf einer ratio­na­len Ebe­ne sind die Pati­en­ten von heu­te infor­mier­ter, kri­ti­scher und erwar­ten eine Begeg­nung auf Augen­hö­he mit gemein­sam getra­ge­nen Ent­schei­dun­gen.

Wel­che Rol­le spie­len dabei der Com­pu­ter und das Inter­net?

Auch die Digi­ta­li­sie­rung ist ein Mega-Trend, der Ver­än­de­run­gen bringt: Sie ändert unse­re Mög­lich­kei­ten genau­so wie unse­re Iden­ti­tät. Sie bringt para­do­xer­wei­se etwas Sta­ti­sches in die Füh­rung der Kran­ken­ge­schich­ten durch die zuneh­mend gefor­der­te stan­dar­di­sier­te Erfas­sung von Daten. „Zwi­schen­räu­me“ in Gesprä­chen oder Akten­no­ti­zen dro­hen ver­lo­ren zu gehen. Gleich­zei­tig wird es immer ein­fa­cher, unse­re Daten – sei es unse­re DNA oder sei­en es Vital­pa­ra­me­ter wie Bewe­gung, Herz­schlag oder Schlaf – in die medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung zu inte­grie­ren.
Um die Qua­li­tät der Behand­lung wei­ter zu ent­wi­ckeln, wer­den wir auf künst­li­che Intel­li­genz ange­wie­sen sein. Es ent­wi­ckeln sich vir­tu­el­le Ver­sor­gungs­for­men, die ohne Arzt-
Pati­en­ten-Kon­takt aus­kom­men. Damit wird aber gleich­zei­tig die Bezie­hungs­me­di­zin wich­ti­ger. Ärz­te und Ärz­tin­nen sol­len in Zukunft pri­mär das leis­ten, was künst­li­che Intel­li­genz eben nicht kann und das Mensch­li­che aus­macht.

Wie sehen Sie die Mög­lich­kei­ten der Kom­ple­men­tär­me­di­zin in der Schweiz?

Die Nach­fra­ge nach kom­ple­men­tär­me­di­zi­ni­schen Leis­tun­gen ist grös­ser als das Ange­bot. In der Bevöl­ke­rung ist sie tief ver­an­kert. Die­ses Bedürf­nis resul­tiert auch dar­aus, dass mit den kom­ple­men­tär­me­di­zi­ni­schen Metho­den meist ein Men­schen­bild ver­knüpft ist, das mit dem Begriff „Ganz­heit­lich­keit“ umschrie­ben wird. Nicht immer, aber doch oft, bedingt die­se Ganz­heit­lich­keit auch mehr Zeit in der the­ra­peu­ti­schen Bezie­hung.
Die Fort­schrit­te der kon­ven­tio­nel­len Medi­zin und die damit ver­bun­de­nen zuneh­men­den tech­ni­schen Mög­lich­kei­ten und Spe­zia­li­sie­run­gen kon­tras­tie­ren mit der erfah­re­nen Rea­li­tät vie­ler Pati­en­ten und Pati­en­tin­nen, deren chro­ni­sches Lei­den nur unge­nü­gend oder mit beträcht­li­chen Neben­wir­kun­gen „kon­trol­liert“, aber nicht geheilt wer­den kann. Zudem liegt der Fokus der medi­zi­ni­schen Betreu­ung oft mehr auf einem Organ­sys­tem als auf dem Men­schen in sei­ner auch sub­jek­tiv gefühl­ten und gedach­ten Erfah­rung. Die Pati­en­tin erlebt sich dann in der Behand­lung redu­ziert auf ein Objekt, und nicht als Indi­vi­du­um in sei­ner Leben­dig­keit.

Das ist bei der Kom­ple­men­tär­me­di­zin anders?

Ja und nein. Ein sol­cher argu­men­ta­ti­ver oder per­sön­lich erfah­re­ner Aus­gangs­punkt, der natür­lich nie die Kom­ple­xi­tät einer moder­nen natur­wis­sen­schaft­lich begrün­de­ten Medi­zin abbil­det, kann mit­un­ter auch zu einer gefähr­li­chen und ver­ab­so­lu­tier­ten Idea­li­sie­rung der Kom­ple­men­tär­me­di­zin füh­ren.
Ich sehe des­halb als Zukunft eine geglück­te Sym­bio­se die­ser bei­den Pole, die sub­sti­tu­ie­rend oder ergän­zend ein­ge­setzt wird auf der Basis von gegen­sei­ti­gem Ver­ständ­nis und Kon­sen­sus. Das bedingt, dass alle Ärz­tin­nen und Ärz­te in ihrem Medi­zin­stu­di­um auch Basis­kennt­nis­se kom­ple­men­tä­rer Metho­den auf uni­ver­si­tä­rem Niveau erwer­ben.
Die Schweiz hat dies­be­züg­lich mit der Umset­zung des Gegen­vor­schlags zur Initia­ti­ve zur För­de­rung der Kom­ple­men­tär­me­di­zin einen auch im inter­na­tio­na­len Ver­gleich weg­wei­sen­den Pro­zess ein­ge­schla­gen. Es braucht die kon­stan­te Acht­sam­keit und Aus­dau­er von Sei­te der Kom­ple­men­tär­me­di­zin, um die immer noch sehr unglei­chen Macht­ver­hält­nis­se aus­zu­glei­chen. Uni­ver­si­tä­re For­schung auf der Basis aner­kann­ter wis­sen­schaft­li­cher Grund­la­gen ist Vor­aus­set­zung dafür.

Was wün­schen Sie der Kli­nik Arle­sheim für ihre nächs­ten 100 Jah­re?

Ich wün­sche ihr die gelun­ge­ne Trans­for­ma­ti­on und Wei­ter­ent­wick­lung der Anthro­po­so­phi­schen Medi­zin ins nächs­te Jahr­hun­dert mit der Kraft, die ihr Begrün­der Rudolf Stei­ner ins begin­nen­de 20. Jahr­hun­dert getra­gen hat. In mei­ner Visi­on ist die­se Kraft eine inte­gra­ti­ve, die an Raum gewinnt – nicht auf Kos­ten der Schul­me­di­zin, son­dern in Bezie­hung mit ihr, auf Augen­hö­he. Die medi­zi­ni­schen Wis­sen­schaf­ten ver­ste­he ich immer als Grenz­wis­sen­schaf­ten im Raum zwi­schen Natur- und huma­nis­ti­schen Wis­sen­schaf­ten und Spi­ri­tua­li­tät.
In einer glo­bal ver­bun­de­nen Moder­ne liegt die Bedeu­tung der Anthro­po­so­phie auch dar­in, dass ihr Begrün­der, ver­wur­zelt im grie­chisch-römi­schen Den­ken, sei­ne Erkennt­nis­se erwei­ter­te mit dem Erfah­rungs­schatz fern­öst­li­cher Kul­tu­ren. Wann, wenn nicht heu­te und mor­gen, sind wir mehr denn je ange­wie­sen auf sol­che Gren­zen über­schrei­ten­de Geis­tes­grös­sen?

 

Dr-med-Yvonne-Gilli

Fach­per­son

Dr. med. Yvon­ne Gil­li

Prä­si­den­tin der FMH,
Fach­ärz­tin All­ge­mei­ne Inne­re Medi­zin.
Haus­ärzt­li­che Tätig­keit in Grup­pen­pra­xis in Wil SG und lei­ten­de ärzt­li­che Funk­ti­on in
psych­ia­tri­scher Grup­pen­pra­xis in Win­ter­thur.
Dozen­tin MPH (Mas­ter of Public Health),
Uni­ver­si­tät Zürich.
Kon­takt yvonne.Gilli@fmh.ch

 

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