
Die aktuellen Turbulenzen rund um die Finanzmärkte beinhalten die einzigartige Chance, uns auf uns selbst und auf das zu besinnen, was jenseits von materiellem Besitz und Konsum dem Leben wirklich dient.
„Die Erde bietet genug, um das Bedürfnis jedes Menschen zu befriedigen, nicht aber seine Gier.“ Das hat Mahatma Gandhi schon vor Jahrzehnten klargestellt. Wie uns die aktuelle Finanzkrise vor Augen führt, haben wir uns vor allem in den reichen Ländern unserer Erde offensichtlich nicht an diesen Grundsatz gehalten. Die Folgen sind nun allenthalben schmerzlich spürbar und dürften wohl schon bald noch deutlicher werden.
Der Nachtwächterstaat als Retter in der Not
Was allerdings vielen vorderhand wenig bewusst ist: Seit rund zweihundert Jahren gründet unsere Wirtschaft auf den zentralen Antriebsfaktoren Habgier, Eigennutz und Machtstreben. Der „Urvater“ der modernen Ökonomie, der Schotte Adam Smith, war seinerzeit der Meinung, diese drei zwar problematischen, aber gottgewollten Triebe hätten in der Wirtschaft ihren naturgemässen Platz.
Obwohl diese Ansicht auf einem seltsamen, mechanistisch geprägten Menschen- und Gottesbild der damaligen Zeit beruhte, haben wir sie unhinterfragt übernommen. Im Besonderen der Neoliberalismus hat ihr in den vergangenen Jahrzehnten zu neuen Urständen verholfen: Wenn jeder seinen eigenen Nutzen verfolge und seinen Reichtum möglichst ungehindert vermehren könne, dann käme dies allen zugute, lautete das einhellige Credo.
Und der Staat dürfe sich in diesen Prozess möglichst nicht einmischen.
Nun ist es paradoxerweise ausgerechnet der neoliberale „Nachtwächterstaat“, welcher der Finanzwelt mit Milliardensummen aus der Patsche helfen und als Retter von Banken und anderen Grossunternehmen einspringen muss, um die kapitalistische Weltwirtschaft vor dem Zusammenbruch zu bewahren. Ob diese Rettungsaktion gelingen und Bestand haben wird, ist allerdings derzeit noch offen.
Das Lebenswichtige wird allmählich knapp
Wo Gier herrscht, ist Knappheit nicht weit. Das hat uns der ehemalige belgische Zentralbanker Bernard Lietaer
in seinem Buch „Mysterium Geld“ auf eindrückliche Weise gezeigt. Ein Ursprung dieser Polarität von Gier und Knappheit liegt beim Charakter unseres heutigen Geldes. Es dient schon lange nicht mehr nur dem Tausch von Gütern, sondern es will sich über den Zins und Zinseszins ins Unendliche vermehren. Damit aber wird es – in erster Linie für jene, welche die Zinsen berappen müssen – zum knappen Gut und zwingt die Gesellschaft gleichzeitig zu andauerndem wirtschaftlichem Wachstum.
Je weiter unsere Wirtschaft jedoch wächst, desto knapper werden neben dem Geld auch andere, weit lebenswichtigere Dinge. Nicht nur gehen wichtige Rohstoffe, allen voran das Erdöl, allmählich zur Neige, sondern auch Nahrungsmittel werden zum knappen Gut – vorerst vor allem in den ohnehin benachteiligten Ländern unseres Planeten. Das gleiche gilt für sauberes Wasser und saubere Luft – wiederum vor allem in jenen Teilen der Welt, wo das Geld fehlt, um diese Lebenselemente mit technischen Massnahmen auf einem einigermassen gesundheitsverträglichen Stand zu halten.
Aber auch die Technik hilft uns nicht wirklich weiter. Denn immer mehr stösst die Belastbarkeit der Natur, der Ökosphäre, an ihre Grenzen. Den Klimawandel werden wir auch mit noch so viel Technik nicht aufhalten können. Unendliches Wachstum passt offensichtlich nicht in eine endliche Welt.
Auch Zeit, Sinn und Gesundheit werden zur Mangelware
Bei uns in den reichen Ländern äussert sich die Knappheit trotz des Überflusses an materiellen Dingen – oder besser: gerade deswegen – in einem weiteren Phänomen. Ausser dem Geld bei jenen, die es nicht (mehr) haben, wird für die meisten auch die Zeit immer knapper. Die Anzahl der Verpflichtungen einerseits und der Verlockungen andererseits steigt und beide hetzen uns von einer Aktivität zur nächsten, ohne dass wir mehr wirklich zur Ruhe kommen. Stress ist ein weit verbreitetes Phänomen unserer Zeit, die sich zum Haben hin orientiert und das Sein zu vergessen droht.
Als Folge verknappt sich auch das, was die Qualität des Lebens ausmacht: der Lebenssinn. Statt im Sein – in Aktivitäten, die uns näher zu uns selber führen und in einen tiefen Kontakt mit unseren Mitmenschen und der Natur bringen – suchen wir den Sinn und Inhalt unseres Lebens in immer noch mehr Konsum und Besitz. Dort aber finden wir ihn nicht wirklich, sondern machen uns im Gegenteil immer abhängiger von Dingen, die uns nur kurzfristigen Lustgewinn und Nerven-kitzel verschaffen.
Darob geht bei vielen auch die Gesundheit verloren. Die sogenannten Zivilisationskrankheiten nehmen überhand, und die Gesundheit wird ihrerseits zum knappen und kostspieligen Gut. Die Krankheitskosten steigen jährlich in einem Ausmass, welches in der Schweiz bereits der Hälfte der jährlichen Militärausgaben entspricht. Gleichzeitig bilden sie eines der wenigen Wachstumspotenziale in an sich gesättigten Märkten und helfen mit, das Wachstum unseres Wirtschaftssystems weiter voranzutreiben, obwohl es doch eigentlich immer mehr an Grenzen stösst.
Krise als Chance
Falls wir sie nicht nur mit hektischen Rettungsmassnahmen notdürftig übertünchen, kann die aktuelle Finanzkrise mit ihren vielfältigen Erschütterungen zu einer einmaligen Chance werden, uns als Einzelne und als Gesellschaft auf das zu besinnen, was wirklich zählt. Rückbesinnung auf das menschliche Mass, nicht nur bei den Managergehältern und -boni, lautet dann wohl ein entscheidendes Stichwort.
Für uns als Individuen bedeutet es, uns zum Beispiel an die alte Volksweisheit zu erinnern, dass reich ist, wer viel hat, reicher ist, wer wenig braucht, und am reichsten, wer viel gibt. Je mehr ich gelernt habe, mich auf das zu konzentrieren, was mein Leben über das Materielle hinaus mit Sinn und Freude erfüllt, desto weniger können mir äussere Erschütter-ungen etwas anhaben. Und desto mehr kann ich beginnen, zusammen mit gleichgesinnten Menschen die Welt ein wenig zum Positiven hin zu verändern.
Der Kreativität und Schaffensfreude Raum geben
Auch in Gruppen, Organisationen und in der Gesellschaft insgesamt können wir die Akzente und Stukturen so setzen, dass sie wieder zukunftsfähig werden, weil sie sich am menschlichen Mass orientieren. Zentrale Bedeutung kommt dabei der Umgestaltung unserer Wirtschaft zu. Willfährige, immer schneller drehende Rädchen in gigantischen, unüberschaubaren Produktionsstrukturen zu sein, in denen ich meine tägliche Arbeit nur leiste, um ein Einkommen zu erzielen, kann und darf nicht unsere Bestimmung sein.
Arbeit muss wieder zu einem wichtigen, integralen Lebensinhalt werden, der mir erlaubt, meine Kreativität und Schaffensfreude in sinnerfüllte Prozesse einzubringen, die dem Wohl des Ganzen dienen. Hierzu sind Unternehmen aufgefordert, die entsprechenden Werte zu fördern und ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu ermög-lichen, sich in einer als sinnvoll empfundenen Tätigkeit zu verwirklichen. Freude am schöpferischen Tun und nicht mehr in erster Linie eine hohe finanzielle Entschädigung sollen dabei den Massstab bilden.
Rückkehr zu überschaubaren Strukturen
Das menschliche Mass vor Augen, liegt es darüber hinaus auf der Hand, unsere wirtschaftlichen Aktivitäten insgesamt wieder so auszugestalten, dass sie auf überschaubaren Einheiten basieren, die primär für den lokalen oder regionalen Markt tätig sind. Dazu sind andere Spielregeln erforderlich, die wir als politische Gemeinschaft beschliessen müssen. Sie sollten zum Beispiel darauf abzielen, dass – nicht nur im Bankenbereich – die Umsätze und Gewinne von Unternehmen künftig nicht mehr beliebig gross sein können, sondern auf ein sinnvolles Mass beschränkt werden. Das gleiche gilt natürlich auch für Arbeits- und Kapitaleinkommen von Einzelpersonen.
Die entsprechende gesellschaftliche Diskussion und Reflexion hat bereits begonnen. Wenn wir den Mut aufbringen, uns darauf einzulassen und altgewohnte Denkmuster zu hinterfragen und zu transformieren, können wir gemeinsam die Grundlagen für eine tragfähige individuelle und gesellschaftliche Zukunft schaffen. Dann kann eine Masswirtschaft der Lebensfülle jenseits von Knappheit und Gier entstehen, die es uns erlaubt, uns vom Haben hin zum Sein zu entwickeln.
Fachperson | Dr. oec. Hans-Peter Studer |
Arbeitsschwerpunkte | war im Programm Evaluation Komplementärmedizin (PEK) für die Beurteilung der Wirtschaftlichkeit komplementärmedizinischer Methoden zuständig und ist seit 2005 Mitglied des Redaktionsteams der Quinte. |
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