
Eine der wirksamsten Medikamentengruppen überhaupt, die Antibiotika, droht zunehmend unwirksam zu werden. Der Grund liegt darin, dass Antibiotika sowohl in der Humanmedizin als auch in der Tiermast im Übermass verwendet werden. Zudem sind komplementärmedizinische Alternativen zur Stärkung und Unterstützung gesunder Gleichgewichte vor allem in der etablierten Humanmedizin noch wenig bekannt.
Antibiotika sind ursprünglich natürliche Stoffwechselprodukte von Pilzen und Bakterien, die schon in geringer Konzentration das Wachstum anderer Bakterien hemmen oder diese abtöten, indem sie auf deren Zellwand- und Proteinherstellung sowie auf die Weitergabe ihrer Erbinformation einwirken. Zu den natürlichen Antibiotika kamen in den vergangenen 70 Jahren viele künstlich hergestellte hinzu.
Problem schon lange bekannt …
Schon Sir Alexander Fleming, der Entdecker des ersten Antibiotikums (Penicillin), hat in seiner 1945 gehaltenen Rede anlässlich der Nobelpreisverleihung darauf hingewiesen, dass der unsachgemässe Einsatz von Antibiotika zu Resistenzbildungen führen und sie therapeutisch wertlos machen würde (1):
„Die Zeit wird kommen, in der Penicillin von jedermann in Geschäften gekauft werden kann. Dadurch besteht die Gefahr, dass der Unwissende das Penicillin in zu niedrigen Dosen verwendet. Indem er die Mikroben nun nichttödlichen Mengen aussetzt, macht er sie resistent.“
… und zu spät erkannt
Heutzutage ist die Antimikrobielle Resistenz (AMR) eine der grössten Gefahren für die öffentliche Gesundheit. Jedes Jahr sterben nach Schätzungen allein in den Ländern der Europäischen Union zwischen 25‘000 und 33‘000 Menschen an schweren Infektionen mit resistenten Bakterien, die in einer Gesundheitseinrichtung erworben wurden, und global gesehen töten Infektionen mit multiresistenten Bakterien Hunderttausende Menschen jährlich (2–4).
Der Grund für die Entstehung der Antibiotikaresistenzen liegt im massenhaften und oft unnötigen und/oder unspezifischen Gebrauch von Antibiotika in der Human- und Tiermedizin, sowie in der grossen Anzahl und der hohen Reproduktionsrate von Bakterien, wodurch sich diese genetisch schnell anpassen und die entsprechenden Resistenzen ausbilden.
Gemäss dem Antibiotika-Resistenzatlas GERMAP (5) kamen 2015 in der Humanmedizin allein in Deutschland 700 bis 800 Tonnen Antibiotika zum Einsatz. Der ambulante Bereich vereint dabei gut 85% des Gesamtverbrauchs auf sich. Auch im Jahr 2016 gaben die Apotheken eine vergleichbare Menge Antibiotika wie in den Vorjahren ab, im Durchschnitt 12,6 definierte Tagesdosen pro 1000 Versicherte jeden Tag.
Weniger ist manchmal mehr
Erstaunlicherweise trägt die Ärzteschaft einen grossen Anteil daran, dass eines ihrer wirksamsten Medikamente immer unwirksamer wird. So ist gemäss einer Vielzahl von Untersuchungen die Verschreibung und Verabreichung von Antibiotika häufig medizinisch nicht indiziert, wird aber dennoch durchgeführt.
Viele Studien haben gezeigt, dass Antibiotika einen kleinen oder vernachlässigbaren Nutzen für Patientinnen und Patienten mit zum Beispiel unkomplizierter akuter Mittelohrentzündung (Otitis media), Rachenentzündung (Pharyngitis), Entzündung der Bronchien (Bronchitis), Kehlkopfentzündung (Laryngitis) und gewöhnlicher Erkältung haben. Mittlerweile sind die Empfehlungen der Fachgesellschaften dahingehend angepasst worden, dass diese Erkrankungen primär sogenannt symptomatisch, also lindernd behandelt werden sollen und nicht antibiotisch. Trotzdem werden Antibiotika bei diesen Erkrankungen immer noch sehr oft verschrieben, ebenso wie bei vielen viralen respiratorischen Infekten, bei denen Antibiotika gar nichts ausrichten, sondern höchstens einen vorbeugenden Effekt gegen zusätzliche bakterielle Infektionen haben können (6, 7).
Dies geschieht einerseits, weil Alternativen zum Antibiotikaeinsatz bei Ärztinnen und Ärzten sowie bei Patientinnen und Patienten noch weitgehend unbekannt sind und andererseits „Nichts-Tun oder einfach Abwarten“ aus verschiedenen Gründen nicht angebracht zu sein scheint. Harald Walach brachte dies 2017 folgendermassen auf den Punkt (8): „Mehr als 70% der Antibiotika werden in der Allgemeinpraxis verschrieben – um Patienten zu beruhigen … oder weil die Praktizierenden keine bessere Idee haben.“
Behandlungen ohne Antibiotika müssen gelernt werden
Trotz der glasklaren Folgen der sich ausbreitenden antimikrobiellen Resistenz und den Bemühungen der Gesundheitsbehörden weltweit sind die Konzepte zur Reduktion der Antibiotikaabgabe bisher von bescheidenem Erfolg.
Immerhin wurde in Grossbritannien versucht, diejenigen Ärztinnen und Ärzte zu belohnen, die eine Reihe von Massnahmen für die „richtige Antibiotikaverschreibung“ einhalten. Dazu gehörte unter anderem die Reduktion der Zahl verschriebener Antibiotika um 1% pro Jahr, die Vorgabe, dass nie mehr als 18 Wochen vergehen dürfen zwischen dem Zeitpunkt einer ärztlichen Überweisung und der tatsächlichen Behandlung mit Antibiotika, und weitere mehr. Tatsächlich haben die Allgemeinärzte daraufhin bei unkomplizierten Atemwegserkrankungen sogar 3% weniger Antibiotika verschrieben. Der englische Gesundheitsdienst (NHS) hat seine Richtlinien nun überarbeitet und macht speziell auf die unnötige Antibiotikaverschreibung bei Harnwegsinfekten aufmerksam.
In Australien werden bei akuten Atemwegsinfekten jährlich bis zu neunmal mehr Antibiotika verschrieben als in den Richtlinien empfohlen. Deshalb entschloss sich die australische Regierung, gemäss dem Ansatz des „behaviourial economics approach“ (Verhaltensökonomie) zu handeln. Dabei wurden auf unterschiedliche Art und Weise formulierte Schreiben an die Ärzte verschickt; am erfolgreichsten war ein Schreiben, das den Arzt darüber aufklärte, dass er mehr Antibiotika verschreibt als x% der Verschreibenden in seiner Region. Durch diese Massnahmen konnte eine Reduktion der Antibiotikaverschreibungen um gut 10% erreicht werden.
Ein Problem dabei ist, dass eine Nichtabgabe von Antibiotika ohne spezielles Wissen um die Möglichkeiten der Komplementärmedizin zur Stärkung oder Wiederherstellung natürlicher Gleichgewichtszustände sowohl für Patientinnen und Patienten als auch Behandelnde unbefriedigend ist. Dass das Wissen um komplementärmedizinische Therapiemöglichkeiten tatsächlich einen starken Effekt auf die Menge verschriebener Antibiotika hat, zeigte eine Auswertung der Verschreibungspraxis 2016 und 2017 in der Schweiz. Ärztinnen und Ärzte der Grundversorgung mit einem Fähigkeitsausweis FMH in Anthroposophischer Medizin, Homöopathie, Traditioneller Chinesischer Medizin oder Phytotherapie verschrieben im Durchschnitt nur halb so viele Antibiotika wie Grundversorger ohne diese Zusatzqualifikation (9).
Antibiotika bleiben auch nach der Anwendung Antibiotika
Antibiotika werden zum Teil unverändert ausgeschieden, da sie nicht auf den Stoffwechsel des Menschen, sondern auf den der Bakterien zielen. Auch werden sie in der Abwasserreinigung nicht vollständig entfernt und können auf diesem Weg ins Grundwasser gelangen. Ebenso, und das ist ganz besonders besorgniserregend, wurden Resistenz-Gene (jene Gene, durch welche ein Bakterium resistent wird) im Trinkwasserversorgungssystem gefunden. Diese gefährden die dort üblicherweise ansässigen ungefährlichen Bakterien. Bei der Suche nach dem Verursacher stiess man auch auf Klinikabwässer, die besonders hohe Konzentrationen sowohl der resistenten Keime als auch der Antibiotika aufwiesen (10).
Der hohe Antibiotikaeintrag in die Umwelt verstärkt die Situation, in der sich immer mehr Keime bilden, die genau gegen diese Antibiotika resistent sind. In einer solchen Entwicklung ist es nur eine Frage der Zeit, bis unser derzeitiges Antibiotikaarsenal seine Wirkung verliert und die Erforschung neuer Antibiotika den Anforderungen hinterherhinkt.
Die Biodiversität der natürlichen Keime nimmt durch diese Vorgänge ab. Das Gleichgewicht der uns bevölkernden, uns versorgenden und schützenden Bakterien – das komplexe Mikrobiom in und auf uns – wird gestört. Die grosse Vielfalt dieser für uns guten Bakterien steht in einem engen Zusammenhang mit unserem Immunsystem und dadurch mit unserer Gesundheit insgesamt. Unser ganzer Organismus ist eng verflochten mit den hochindividuellen Kulturlandschaften unserer Mikrobiome. Im Gesunden bilden wir mit ihnen ein aufeinander abgestimmtes Gesamtgefüge im Einklang mit unserer Umwelt, erfolgreich auf ein Leben und Überleben ausgerichtet. In dieses Gefüge greifen Antibiotika empfindlich störend ein.
Stärkung der Abwehrkräfte als vorrangiges Ziel
Mit ihren auf die Wiederherstellung gesunder Gleichgewichte ausgerichteten Therapiemöglichkeiten haben integrativ-medizinische Konzepte sehr viel zu bieten, um virale und auch bakterielle Erkrankungen erfolgreich ohne Antibiotika zu behandeln und nachhaltige Gesundheitszustände zu erreichen.
Zunächst ist interessant, dass der Grund für die zurückhaltende Anwendung von Antibiotika in der Integrativen Medizin nicht primär darin liegt, Resistenzen zu vermeiden, sondern die Selbstheilungskräfte des Menschen zu stärken. In dieser Betrachtungsweise können sich Bakterien – von denen wir auch im gesunden Zustand unvorstellbare Mengen in uns tragen – erst dann krankmachend einseitig ausbreiten, wenn das Gleichgewicht des gesunden Menschen gestört ist. Dieses Gleichgewicht beinhaltet nicht nur körperliche Vorgänge, sondern auch seelisch-geistige Prozesse, die dauernd auf unsere physiologischen Abläufe wirken und unseren Organismus stark beeinflussen.
Solange diese miteinander verwobenen leiblich-seelisch-geistigen Prozesse nicht wieder ins gesunde Gleichgewicht gebracht werden können, bleibt nur die – manchmal absolut notwendige – Behandlung mittels einer Antibiotikatherapie. Dies kann helfen, die Zeit zu überbrücken, bis die gesunden Gleichgewichtsprozesse wieder durch Selbstheilung und/oder ergänzende Massnahmen gestärkt werden können und der Organismus wieder allein mit den schädlichen Bakterien fertig wird. In der Integrativen Medizin wird der Einsatz komplementärer und schulmedizinischer Medikamente und Therapien somit bewusst aufeinander abgestimmt.
Erfahrungen integrativer Konzepte ohne Antibiotikatherapie liegen seit langem vor
Die Beiträge der Integrativen Medizin zur Vermeidung überflüssiger Antibiotikaverschreibungen und zu einem zurückhaltenden und sinnvollen Einsatz des Antibiotikaschatzes entsprechen ganz und gar den Forderungen der WHO und des Bundesamts für Gesundheit. Wie in der letzten Quinte bereits erwähnt, konnte ein Team um Erik Baars (11) nachweisen, dass Normalversorger in Grossbritannien mit Zusatzausbildungen in Komplementärmedizin bei Atemwegserkrankungen rund 25% weniger Antibiotika verschreiben als ihre rein konventionell ausgebildeten Kollegen.
Auch die Forschung an der Klinik Arlesheim konnte in einer früheren Studie zeigen, dass sogar die Behandlung der Lungenentzündung durch entsprechend ausgebildete ärztliche Fachpersonen und unter genauer Berücksichtigung der individuellen Situation ohne Antibiotikaeinsatz möglich und das Ergebnis vergleichbar ist mit der Behandlung mit Antibiotika (12). Anschliessend an diese retrospektive Untersuchung ist es nun wichtig, solche Untersuchungen prospektiv, über einen längeren Zeitraum und bevorzugt an verschiedenen Zentren durchzuführen. Darin enthalten sind Untersuchungen so wichtiger Fragen wie nach Rückfallquoten, der Nachhaltigkeit der Behandlungspfade, der Lebensqualität während und nach der Behandlung, Behandlungszeiten und Dauer, bis eine normale – eventuell sogar verbesserte – Alltagssituation wieder erreicht wird.
Vermehrte integrative Forschung ist sinnvoll und notwendig
Leider wird das Potenzial der Integrativen Medizin zur Vermeidung von Antibiotikaresistenzen und das Aufzeigen von praktikablen Alternativen zur Abgabe von Antibiotika von der konventionellen Forschung noch viel zu wenig aufgenommen. Daher wäre es äussert wichtig, entsprechende Forschungsarbeiten zu finanzieren, damit dieses grosse gesellschaftliche Gesundheitsproblem wissenschaftlich und nachhaltig gelöst werden kann.
Das Ziel solcher Forschung ist nicht nur zu zeigen, dass der Antibiotikaeinsatz massiv und verantwortungsvoll reduziert oder ersetzt werden kann, sondern auch gemeinsam – bevorzugt mit konventionellen Zentren – Vorgehensweisen zu entwickeln, die aufzeigen, wie sich diese Ziele mittels Richtlinien und Empfehlungen von Fachgesellschaften in die breite Praxis umsetzen lassen, um letztlich für die Zukunft wirksame, nachhaltige und umfassende Therapien in der Humanmedizin zu haben.
Unterstützen Sie die Forschung zu diesem wichtigen Thema:
Vermeidung von Antibiotikaresistenzen.
In diesem Sinne bitten wir Sie um finanzielle Unterstützung der Forschungsarbeiten der Anthroposophischen Medizin, damit solche Studien wissenschaftlich exakt und gemäss „state of the art“ geplant und durchgeführt werden können.
Quellen:
(1) https://www.nobelprize.org/uploads/2018/06/fleming-lecture.pdf
(2) O’Neill J. Tackling drug-resistant infections globally: final report and recommendations. Review on Antimicrobial Resistance 2016.
(3) EMA. Antimicrobial resistance. 2017; http://www.euro.who.int/de/health-topics/disease-prevention/antimicrobial-resistance/antibiotic-resistance
(4) Lancet Infect Dis. 2018; (published online Nov 5.) http://dx.doi.org/10.1016/S1473-3099(18)30605–4
(5) https://www.bvl.bund.de/SharedDocs/Downloads/05_Tierarzneimittel/germap2015.pdf
(6) Pouwels K.B. et al. T. 2018. Actual versus ‘ideal’ antibiotic prescribing for common conditions in English primary care. Journal of Antimicrobial Chemotherapy, 73(suppl_2), 19–26.
(7) Gulliford M.C. et al. Continued high rates of antibiotic prescribing to adults with respiratory tract infection: survey of 568 UK general practices. BMJ open, 2014. 4(10): p. e006245.
(8) Walach H. Complementary Medicine Complementary Medicine: A Serious Option as We Are Facing the Problem of Bacterial Antibiotic Resistance. Complement Med Res 2017;24:132–134).
(9) Dakomed, Symposium Bern, 15.11.2018. Bekämpfung der Antibiotikaresistenzen ¬– das Potential der Komplementärmedizin nutzen. Auswertung SASIS-Daten 2016 und 2017.
(10) http://www.trinkwasser-report.de/presseberichte/ardbakterienundantibiotikaimwasser.html
(11) van der Werf ET et al. Do NHS GP surgeries employing GPs additionally trained in integrative or complementary medicine have lower antibiotic prescribing rates? Retrospective cross-sectional analysis of national primary care prescribing data in England in 2016. BMJ Open 2018;8:e020488. doi: 10.1136/bmjopen-2017–020488
(12) Munda V. et al. 75. Jahrestagung der Schweizerischen Gesellschaft für Innere Medizin; Basel 23. — 25. Mai 2007
Fachperson |
Dr. rer. nat. Daniel Krüerke |
Arbeitsschwerpunkte | Promovierter Physikochemiker mit über 25-jähriger Berufserfahrung in akademischer, industrieller und klinischer Forschung und Entwicklung. Seit 10 Jahren für die Forschungsabteilung der Klinik Arlesheim tätig. |
Kontakt | daniel.krueerke@klinik-arlesheim.ch |
Fachperson |
Dr. agr. Lukas Rist |
Arbeitsschwerpunkte | Promovierter Biologe, seit über 20 Jahren in verschiedenen Positionen im Gesundheitswesen aktiv. Seit 1.2.2018 für die Forschungsförderung an der Klinik Arlesheim und als Geschäftsführer des Vereins integrative-kliniken.ch tätig. |
Kontakt | lukas.rist@klinik-arlesheim.ch |