
Seit etwa 10 Jahren werden die besonderen Wirkungen künstlerisch-therapeutischen Sprechens auch wissenschaftlich erforscht. Die Ita Wegman Klinik sieht sich dabei mit einer ersten grösseren Studie an Patienten in einer Pionierrolle.
Was erforschen wir?
Für die Wissenschaft hat das Herz eine angenehme Eigenschaft: Seine rhythmische Tätigkeit kann in Form elektrischer Impulse an der Hautoberfläche genau gemessen werden (Elektrokardiogramm, EKG). Diese Eigenschaft nutzt die Forschung, um mit grösster Präzision die Zeitdauer von einem Herzschlag zum anderen zu messen und so das Leben des rhythmischen Systems besser zu verstehen. Das rhythmische System beinhaltet sämtliche Körperrhythmen, wie Schlafen und Wachen, Ruhe und Tätigkeit, Essen und Ausscheidung, Blutdruck, Wachheit. Deren Wechselzustände können als Wirkungen eines eigenständigen Zeitorganismus im Menschen, als Wirkungen des Ätherleibes verstanden werden. Im Zentrum des rhythmischen Systems stehen die uns am nächsten liegenden Rhythmen von Atmung und Puls.
Erst in den letzten 30 Jahren gelang es Wissenschaftlern, mit immer genaueren Messungen zu zeigen, dass der gesunde Herzrhythmus alles andere als regelmässig ist, sondern vielmehr mitschwingt mit vielen anderen Rhythmen im Körper, nicht zuletzt mit der Atmung.
Diese Variabilität des Pulses¹ ist eine wichtige Grundvoraussetzung für die Herzgesundheit, die bei Kindern um das 10. Lebensjahr am stärksten nachweisbar ist und im Alter abnimmt.
Herztätigkeit und Atmung
Besonders der Einfluss der Atmung auf die Herztätigkeit ist gut spürbar, zum Beispiel wenn man bei unerwünschtem Herzrasen tief durchatmet und sich dabei der Puls verlangsamt.
Dementsprechend ist es möglich, die Einflüsse des Sprechens auf diesen Rhythmus mess- und zählbar zu machen.
Bis vor kurzem existierte keine entsprechende Forschung. Erst in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts begann ein Team aus Wissenschaftlern in Bern, Graz und Herdecke, Grundphänomene zu studieren, indem rhythmisches und unrhythmisches Sprechen miteinander verglichen wurden. Schon bald zeigten sich faszinierende Gesetzmässigkeiten und Phänomene, die zu verschiedenen Veröffentlichungen führten.
So konnten wir zeigen, dass das Atemmuster verschiedener Sprachübungen von Rudolf Steiner ein klares und reproduzierbares „Rhythmusbild“ in der Herzantwort hinterlässt, das später farblich sichtbar gemacht oder quantitativ ausgewertet werden kann, indem der Rhythmus als Kurve dargestellt oder das Frequenzspektrum berechnet wird.²
Überraschende Ergebnisse
Beim Sprechen der Silbe „OM“ entdeckten wir eine Doppelschwingung in der Herzantwort, die in Erstaunen versetzte. Der gleichmässige Fluss der Ausatmung hätte nach bisheriger Erkenntnis nur einen Rhythmusgipfel bewirken sollen, zu sehen waren meistens zwei.
Der endgültige Beweis steht noch aus. Doch vermuten wir, dass hier der langsame Atemfluss die Begegnung zweier Rhythmen des Menschen im Puls ermöglicht. Zur Atmung schwingt der Blutdruck-Rhythmus in der Herzantwort auf die Übung mit.
Qualitativ heisst das, dass die Sprache hier den Atem mit dem Puls (dem Blut) in einen Dialog bringt, in ein gemeinsames Schwingen im Verhältnis von 2:1. Das ist das Verhältnis der Oktave.
Synchronisation der Rhythmen
Vergleichbare Phänomene treten auch beim Hexameter-Nachsprechen auf, wie wir in einem Folgeprojekt mit 20 ungeübten Versuchspersonen zeigen konnten. Hier vertiefte sich der angesprochene „Dialog“ zwischen Blut- und Nervenpol bis zu einer echten Synchronisation, einem Gleichklang der beiden Rhythmen durch das Rezitieren. Selbst ein möglichst genaues Imitieren solcher Atmung durch die Versuchsteilnehmer ohne zu Sprechen bewirkte keinen entsprechenden Gleichklang; und als die Menschen dann im dritten Versuch ohne äusseren Einfluss im Zimmer herumspazieren durften, zeigte sich fast gar keine Synchronisation mehr.
Im täglichen Leben und ohne Therapie entsteht ein solcher Gleichklang von Puls und Atmung nur noch im Tiefschlaf, wo natürlicherweise alle chaotisierenden Einflüsse des Wachlebens schweigen.
Die heilende Anwendung der Sprachgestaltung hat in der Ita Wegman Klinik eine lange Tradition, deren Beginn in der Zusammenarbeit Ita Wegmans mit der Sprachgestalterin Martha Hemsoth (1887–1936) lag. Frau Hemsoth arbeitete nach ihrer Ausbildung in Sprachgestaltung von 1930–1936 in der Klinik, wo sie zahlreiche Patienten betreute und bei der Festgestaltung mitwirkte. Heute sind in der Klinik drei therapeutisch tätige Sprachgestalter im Einsatz und betreuen ein grosses Spektrum stationärer und ambulanter Patienten.
Positive Erfahrungen bestätigt
Unsere gesunden Probanden waren wach, liefen sprechend durch den Therapieraum, und trotzdem erreichten dabei die Rhythmen von Puls und Atmung eine Synchronisation, wie sie sonst nur im Tiefschlaf erreicht wird. Diese Ergebnisse bestätigten eindrücklich die langjährigen positiven Erfahrungen vieler Sprachtherapeuten mit dem Hexameter und ähnlichen Übungen als stresslösendes und ausgleichendes Mittel. Ein wichtiges Detail war für uns auch die Entdeckung, dass nur durch gleichmässiges Nachsprechen eine so starke Wirkung zu erreichen war, während das „Solosprechen“ zwar auch gut tut, aber nicht an die Wirkung dialogischen Wechsels von Hören und Sprechen herankommt.
Verschiedene Originalpublikationen zu dieser Forschung finden Sie im Internet unter:
www.therapeutische-sprachgestaltung.de
Seit einigen Monaten läuft in der Ita Wegman Klinik in Zusammenarbeit mit der Universität Bern (Kollegiale Instanz für Komplementärmedizin, KIKOM) eine Folgestudie zur Wirkung der Therapeutischen Sprachgestaltung auf drei verschiedene Krankheitsbilder: Bluthochdruck (Hypertonie), Angst und Spannungskopfschmerz.
Am Beginn der gemeinsamen Arbeit von Sprachtherapeut und Patient steht eine ausführliche Einführung in den genauen Ablauf der nächsten Wochen. Dieser sieht für die drei Untersuchungsbereiche der Studie gleich aus, wobei die Messungen bei stationären Patienten innerhalb von 2 Wochen, bei ambulanten Patienten innerhalb von drei Wochen durchgeführt werden. Innerhalb dieser Zeit erhält der Patient 6 Sprachtherapie-Einheiten. Drei davon werden mit verschiedenen Messungen begleitet: durch ein empfindliches EKG-Gerät mit Atemfühler, durch kontinuierliche Blutdruckmessungen sowie durch Fragebögen, welche die momentane Befindlichkeit erfassen. Die Fragebögen werden vor und nach einer Einheit vom Patienten ausgefüllt und berücksichtigen die Motivation des Patienten, Spannungsgrad, warme/kalte Hände und Füsse und dergleichen mehr.
Die einzelne Messeinheit umfasst die Befragungen vorher/nachher, 30 Minuten Sprachtherapie und zweimal 15 Minuten ruhiges Sitzen vor und nach der Therapie. Dabei interessiert natürlich insbesondere auch, inwiefern sich die Ruhephase nach der Therapie von der vorherigen unterscheidet.
Zu diesen gemessenen Therapien werden an drei Tagen Kontrollmessungen durchgeführt, die sich von den gemessenen Therapien dadurch unterscheiden, dass man statt Sprachtherapieübungen ein möglichst natürliches Alltagsgespräch miteinander abhält, über das Wetter, Theateraufführungen oder dergleichen. Tatsächlich ist es erstaunlich anzuschauen, wie sich die Messergebnisse von Sprachtherapie und Alltagsgespräch unterscheiden.
Fünf 24-Stunden-EKG-Messungen, gleichmässig über die Studiendauer verteilt, erlauben das Erfassen von feinen Veränderungen in der Befindlichkeit des Patienten. Während der 24-Stunden-Messungen führen die Teilnehmer genauestens darüber Buch, was sie am Tage tun und wie stark der Belastungsgrad der Tätigkeiten ist. Zudem wird am Morgen ein Fragebogen zur Schlafqualität ausgefüllt: wie lang und wie erholsam der Schlaf war, ob man in der Nacht erwachte oder sogar wach gelegen hat.
Die Messdaten sind zwar schon an sich interessant, an Bedeutung gewinnen sie aber erheblich, wenn ein Rahmen möglichst vieler Informationen als Grundlage für Interpretationen zur Verfügung steht. Eine Nacht, in der man zehnmal erwacht, sieht nicht nur im EKG-Bild entsprechend aus, sondern hat ihre beschreibbare Auswirkung auf Wohlbefinden und Energiezustand am folgenden Tag. Dieses Vorgehen macht ein konsequentes, systematisches Erfassen eines Therapieverlaufes überhaupt erst möglich und öffnet das Feld für Forschung.
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1Herzfrequenz- oder Herzperiodenvariabilität
² Darstellungen dieser Wirkungen finden sich z. B.
im Tycho Brahe-Jahrbuch 2002, Tycho Brahe Verlag,
Niefern-Öschelbronn 2002.
Fachperson | Dietrich von Bonin |
Arbeitsschwerpunkte | Studium der Sprachgestaltung an der „Schule für Sprachgestaltung und dramatische Darstellungskunst am Goetheanum“ von 1978–1983, Abschluss mit Diplom. Fortbildungen in Medizin und Therapeutischer Sprachgestaltung. Tätig im Medizinisch-Künstlerischen Therapeutikum Bern. Mitarbeiter für Kunsttherapieforschung an der Kollegialen Instanz für Komplementärmedizin KIKOM an der Universität Bern. Dozent für Therapeutische Sprachgestaltung an der Dora Gutbrod-Schule für Sprachkunst in Dornach/Schweiz sowie an der „The Speech School“ East Grinstead/England. Durchführung von Forschungsprojekten auf dem Gebiet der Anthroposophischen Kunsttherapien sowie Kurstätigkeit an Seminaren und Fachtagungen. Diverse Buch- und Zeitschriftenpublikationen. |
Kontakt | bonin@svakt.ch |
Fachperson | Alexander Faldey |
Arbeitsschwerpunkte | Geboren 1967 in Mannheim, Abitur, Ausbildung zum Krankenpfleger im Klinikum Mannheim, Krankenpfleger in der Filderklinik/Stuttgart, Studium der Sprachkunst an der Dora Gutbrod-Schule in Dornach, verschiedene künstlerische Projekte, Weiterbildung an der Bühne für Kunst und Kommunikation in Basel, Sprachtherapeut an der Rudolf Steiner Schule in Winterthur bis 2004, Sprachtherapeut in der Ita Wegman Klinik seit 1999. |
Kontakt | 061 705 72 70 alexander.fa@bluewin.ch |