Sehr verehrte, liebe Frau Dr. Wegman!“

Das Archiv

Wenn man das gros­se Zim­mer im Holz­haus betritt, in dem das Ita Weg­man Archiv ein­ge­rich­tet ist, sieht man aus­ser einem Raum, der nur aus Fens­tern und war­mem Holz zu bestehen scheint, eine Wand vol­ler Rega­le mit schwar­zen Leit­zord­nern und einen lan­gen Ar­-beits­tisch mit Blick in den schö­nen Gar­ten. Die 150 Ord­ner ent­hal­ten den vom Umfang her gröss­ten Teil des Nach­las­ses von Ita Weg­man, der im Archiv auf­be­wahrt, geord­net, durch­ge­ar­bei­tet und zu­gänglich gemacht wird und wer­den soll. Sie ver­sam­meln ihre Kor­re­spon­denz und die Kor­re­spon­denz des „Kli­nisch The­ra­peu­ti­schen Insti­tuts“ seit der Grün­dung im Juni 1921 bis zu Ita Weg­mans Tod im März 1943. Nach einer unge­fäh­ren Schät­zung sind es 50.000 bis 60.000 Brie­fe, nach Jahr­gän­gen und alpha­be­tisch geord­net. Das klingt eini­ger­mas­sen tro­cken.
Schlägt man einen der Ord­ner auf, so sieht man die teil­wei­se ver­gil­ben­den maschi­nen­schrift­li­chen Durch­schlä­ge aus Arle­sheim – Ita Weg­man und ihre Ärz­tin­nen haben meist ihre Brie­fe dik­tiert – fin­det vie­le hand­schrift­li­che Brie­fe von ihr und unzäh­li­ge Anschrei­ben an sie aus nahe­zu allen euro­päi­schen Län­dern, aus Ame­ri­ka, aus Paläs­ti­na, meist mit der Hand geschrie­ben und oft nur mit Mühe zu ent­zif­fern. Die Kor­re­spon­denz ist mehr­spra­chig; die deut­sche Spra­che über­wiegt bei wei­tem, doch fin­den sich auch vie­le hol­län­di­sche, eng­li­sche und eine Rei­he von fran­zö­si­schen Schrei­ben.
Viel­leicht könn­te man den­ken: was soll eigent­lich in einer Arzt-Pati­en­ten-Kor­re­spon­denz, in einer Kli­nik-Kor­re­spon­denz so son­der­lich Inter­es­san­tes ste­hen, dass es gegen­wär­tig und zukünf­tig noch eine Bedeu­tung hat – aus­ser viel­leicht für eine Hand­voll Spe­zia­lis­ten? Aber dann fängt man an, irgend­ei­nen der blau­en Brief­durch­schlä­ge zu lesen – und staunt.

50 000 Brie­fe

Die Brie­fe von und an Ita Weg­man und die Kli­nik erwei­tern und über­stei­gen jede frü­he­re oder gegen­wär­ti­ge Arzt-Pati­en­ten-Kor­re­spon­denz, jede Kli­nik- und Geschäfts­kor­re­spon­denz nach allen Sei­ten und Rich­tun­gen. Was hier brief­lich dar­ge­legt, gefragt, geklagt, aus­ge­spro­chen und beant­wor­tet wor­den ist, ist kaum zu fas­sen und kann nur mit ein paar Schlag­lich­tern beleuch­tet wer­den.

Medi­zin

Zum einen sind es, wie zu erwar­ten, Brie­fe mit gänz­lich oder teil­wei­se medi­zi­ni­schen Inhal­ten: Bei­spiels­wei­se wer­den – oft über vie­le Jah­re – Ärz­te aus der Schweiz, aus Deutsch­land und aus ande­ren euro­päi­schen Län­dern bera­ten, die sich für die Anthro­po­so­phi­sche Medi­zin inter­es­sie­ren oder bereits damit arbei­ten, die in Brie­fen ihre Pati­en­ten beschrei­ben und kon­kret nach Heil­mit­teln und Anwen­dungs­be­rei­chen fra­gen. Die in Arle­sheim neu ent­wi­ckel­ten Medi­ka­men­te und die dort durch­ge­führ­ten The­ra­pi­en wer­den erfragt und mit­ge­teilt. Die Pfle­ge­pra­xis des Kli­nisch-The­ra­peu­ti­schen Insti­tuts strahlt aus und fin­det Bewer­be­rin­nen, die sie erler­nen wol­len. Die Jah­re sind geprägt durch die unab­läs­si­ge Wei­ter­bil­dung von Ärz­ten und Pfle­gen­den in Kur­sen und auf Tagun­gen, die in Arle­sheim initi­iert wer­den. For­schungs­fra­gen wer­den ange­regt, weit­ver­streu­te Ärz­te um Erfah­rungs­be­rich­te und wis­sen­schaft­li­che Bei­trä­ge gebe­ten. Die künst­le­ri­schen The­ra­pi­en, die Hei­leu­ryth­mie wer­den zu­-
neh­mend aus­ge­ar­bei­tet und ein­ge­setzt. Pati­en­ten aus Ber­lin, Prag oder Lon­don bit­ten um ärzt­li­chen Rat und Medi­ka­men­te, die dann mit genau­en Anwei­sun­gen zuge­sandt wer­den.

Heil­päd­ago­gik

Ita Weg­man hat die in der Schweiz, in Deutsch­land, Eng­land, Island begrün­de­ten heil­päd­ago­gi­schen Ein­rich­tun­gen geför­dert, unter­stützt und medi­zi­nisch und mensch­lich beglei­tet. Die Ent­wick­lung die­ser Ein­rich­tun­gen, die dar­in betreu­ten Men­schen, die Pro­ble­me der Mit­ar­bei­ter, die geis­ti­ge Arbeit, die ein sol­cher Ort nötig hat, spie­len eben­so eine Rol­le in den Kor­re­spon­den­zen wie die oft schwie­ri­ge Finan­zie­rung. Es geht um das Auf­brin­gen von Gel­dern für Pro­jek­te und Initia­ti­ven, um Anthro­po­so­phie und die Anthro­po­so­phi­sche Gesell­schaft, um Nah­rungs­mit­tel und bio­lo­gisch-dyna­mi­sche Land­wirt­schaft, um Haus­hal­tung, um Paten­kin­der und Ver­si­che­run­gen, um Poli­tik und die Mög­lich­kei­ten, aktiv ein­zu­grei­fen oder spi­ri­tu­ell Wider­stand zu leis­ten. Für Ita Weg­man geht es, oft nur in einem ein­zi­gen prä­gnan­ten Satz, immer wie­der um die ihr von Rudolf Stei­ner anver­trau­ten Auf­ga­ben.

Men­schen

Über­dies haben sehr vie­le Men­schen an die Ärz­tin Ita Weg­man ganz per­sön­li­che Din­ge geschrie­ben und ihr hal­bes Leben und ihre inne­ren Wider­sprü­che aus­führ­lich brief­lich unter­brei­tet, Pro­ble­me mit Eltern, kom­pli­zier­te Lie­bes­ge­schich­ten, schwie­ri­ge Ehen, Ori­en­tie­rungs­lo­sig­keit, Träu­me und Fan­ta­si­en. Als heu­ti­ger Leser fin­det man manch­mal, sie hät­ten der „lie­ben, ver­ehr­ten Frau Dr. Weg­man“ recht viel zuge­mu­tet. Doch haben ihre Brie­fe eine Emp­fän­ge­rin erreicht, die sie in einer unver­gleich­li­chen Wei­se auf­nimmt: es fin­det eine wirk­li­che Begeg­nung statt! Nicht nur kann der Brief­schrei­ber, die Brief­schrei­be­rin das Gefühl haben, dass es natür­lich und rich­tig war, so zu schrei­ben, wie er oder sie geschrie­ben hat, viel­mehr wird ihr oder ihm eben­so frei­las­send wie herz­lich eine Art von Zuge­hö­rig­keit eröff­net.

Die Kunst zu ver­bin­den

Ita Weg­man hat immer wie­der Men­schen ein­ge­la­den nach Arle­sheim und spä­ter nach Asco­na, sowohl um Hei­lung zu fin­den, sich nach Krank­hei­ten oder Schick­sals­schlä­gen zu erho­len, wie an dem, was dort Neu­es gesucht, erforscht und ver­wirk­licht wur­de, teil­zu­neh­men und mit­-
zuar­bei­ten. Ein Grund­ton von Gast­freund­schaft und Men­schen­freu­de zieht sich durch ihre Brie­fe. Nicht sel­ten bekun­det ihr ers­ter Satz, dass sie einen lose gewor­de­nen Faden auf­nimmt, dass sie nach­fragt, dass sie mit akti­ver Treue anknüpft und Ver­bin­dun­gen hält. Wenn man ihre eige­ne Arbeits­be­las­tung und die Situa­ti­on der Kli­nik bedenkt in den Jah­ren vor und wäh­rend des Zwei­ten Welt­krie­ges, kann man sich kaum vor­stel­len, von woher die Zeit und die Ruhe gekom­men sein mögen, um die ankom­men­den Brie­fe zu beant­wor­ten und so zu beant­wor­ten. Die deut­sche Gram­ma­tik hat Ita Weg­man nie ganz tadel­los beherrscht. Gleich­wohl hat sie die inhalts­reichs­ten, herz­lichs­ten Brie­fe geschrie­ben, hun­der­te, tau­sen­de. Sie spricht mit ihrem Gegen­über, klar, direkt, lebens­prak­tisch, spi­ri­tu­ell, in ein­fa­chen, manch­mal ein biss­chen hol­län­disch grun­dier­ten Sät­zen.

Wir haben hier immer recht viel zu tun, recht vie­le schwe­re Krank­hei­ten und haben auch vor einer Woche eine lie­be Pati­en­tin Fräu­lein Dr. Hele­ne von Gru­ne­li­us aus Stutt­gart ver­lo­ren. Das war ein trau­ri­ges Ereig­nis, aber wenn man die Anthro­po­so­phie recht ver­steht und den Toten beglei­ten kann zur geis­ti­gen Welt, dann wird das, was zuerst einem so unge­heu­er trau­rig vor­kommt, doch zuletzt etwas Hel­les. Wie einen Gang zur Hei­mat emp­fin­det man es und man gibt inner­lich Grüs­se mit für alle die­je­ni­gen, die schon vor­her gegan­gen sind. So kann solch ein Ereig­nis uns inten­siv wie­der ver­bin­den mit der geis­ti­gen Welt. Und in die­sem Zei­chen wol­len wir ja auch die jetzt kom­men­de Weih­nachts­zeit ver­brin­gen. Ich den­ke mit Lie­be an Sie und hof­fe, dass Sie sich in die­ser Zeit recht schön erho­len kön­nen.
Mit recht herz­li­chen Grüs­sen, Ihre I. Weg­man.“

Nach­lass

Ita Weg­man hat vie­le Jah­re im Holz­haus gewohnt. Der heu­ti­ge Archiv­raum umfängt ihre bei­den klei­nen Zim­mer und die ver­glas­te Veran­da, die sie sich gewünscht hat­te. Ihr Nach­lass, inso­weit er archi­vier­bar ist, ent­hält aus­ser der Kor­re­spon­denz zahl­rei­che Notiz­bü­cher von ihrer Hand, Manu­skrip­te, Kran­ken­ge­schich­ten, die ori­gi­na­len Num­mern der Zeit­schrift „Natu­ra“, die sie gegrün­det und her­aus­ge­ge­ben hat, per­sön­li­che Doku­men­te, Fotos, die nach Moti­ven geord­ne­te Samm­lung von Kunst­dru­cken, die sie Vor­trä­gen in Asco­na zugrun­de leg­te, Auto­gra­phen und ande­res mehr. Immer wie­der, auch in nicht weni­gen der Brie­fe, begeg­net man ihrer schö­nen flies­sen­den Hand­schrift.

Ita Weg­man Archiv

Pfef­fing­erweg 1A
CH-4144 Arle­sheim

Lei­tung: Dr. med. Peter Selg
Mit­ar­beit: Gun­hild Pörk­sen

Tele­fon: 0041/61 705 73 77
Tele­fax: 0041/61 705 71 06

Öff­nungs­zei­ten:
Diens­tag und Don­ners­tag
10–16 Uhr
und nach Ver­ein­ba­rung

Spen­den­kon­to:
Ita Weg­man-Fonds mit Ver­merk
„Ita Weg­man Archiv“
PC-Kon­to 70243750 Karls­ru­he
(BLZ 66010075)
oder PC-Kon­to 40–7622-6 Basel
oder Kon­to 16 3.108.791.87
der Basel­land­schaft­li­chen
Kan­to­nal­bank
4144 Arle­sheim

Autoren32

Fach­per­son Gun­hild Pörk­sen
Arbeits­schwer­punk­te Stu­di­um der
Ger­ma­nis­tik. Meh­re­re Ver-
öffent­li­chun­gen über Para­cel­sus.
Arbei­tet seit
Janu­ar 2003 im Ita Weg­man Archiv.
Kon­takt Tele­fon
061 705 73 77

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