
Der Schulbeginn ist für jedes Kind ein besonderer Moment. Es beginnt eine neue Phase des Lebens, der
je nach Kind und Situation mit Freude, Erwartung, Hoffnung, Sorge und Ängsten entgegen gelebt wird. Wichtig ist, im Sinn einer harmonischen Entwicklung des Kindes die individuelle Schulreife sorgfältig abzuwägen.
Interessant ist, dass „Schulreife“ kein global anerkanntes Konzept darstellt und dass gegenwärtig die weltweite Tendenz besteht, den Moment des Schulbeginns in ein immer jüngeres Alter vorzuverlegen. Je nach Land liegt der Schulbeginn zwischen dem 4. und 7. Lebensjahr. Auch in der Schweiz wird ein früheres Schuleintrittsalter in Erwägung gezogen. Die Gründe für diese Vorverlegung des Schuleintrittsalters sind nur bedingt verständlich und scheinen sich weniger an der Entwicklung des Kindes als an ökonomisch-politischen Zielen zu orientieren.
Mögliche Folgen einer zu frühen Einschulung
Ein früherer Schulbeginn führt nicht, wie vielleicht erwartet, zu besseren Leistungen, sondern Studien zeigen eher das Gegenteil, dass nämlich jung eingeschulte Kinder mit ihren Leistungen bis hin zur beruflichen Weiterbildung zurückbleiben – unabhängig von ihrer Intelligenz.1,2 Dies betrifft hauptsächlich die Kinder, welche in den 3 Monaten vor dem Einschulungsstichtag geboren sind, so zum Beispiel die sogenannten Sommerkinder mit Geburtstagen im Juni, Juli und August bei einem Schulbeginn Anfang September. Unberücksichtigt bleiben dabei zudem die möglichen emotionalen und gesundheitlichen Folgen einer frühen Einschulung. Hierzu gibt es zwar erst wenige Studien, aber Hinweise deuten zum Beispiel auf eine erschwerte psycho-soziale Anpassung im späteren Lebenslauf.3
Immerhin werden in der Schweiz Sommerkinder normalerweise noch nicht eingeschult. Aber auch hierzulande sorgen sich immer mehr Menschen um das Verlorengehen der Kindheit, und generell wird eine Zunahme von gesundheitlichen und emotionalen Problemen bei Kindern und Jugendlichen – wie zum Beispiel Allergien, Übergewicht und psychische Probleme – beobachtet. Letzteres ist durch viele Studien belegt, und obwohl die Gründe für solche Probleme sicher vielfältig sind, sollte ein möglicher Beitrag des immer früheren Einschulungsalters bedacht werden.
Kindgerechte Entwicklung
„Lernen“ verbinden wir oft mit dem formellen Lernen in der Schule. Wichtige Lernprozesse beginnen für das Kind jedoch bereits mit dem Moment der Geburt, wenn nicht sogar schon früher. Die Frage stellt sich also eher nach dem Wie als nach dem Wann des Lernens, und dieses sollte sich hauptsächlich an der Entwicklung des Kindes orientieren. Auch wenn es bekanntlich verschiedene Sichtweisen über Entwicklung und Lernen gibt, sind wichtige Fragen: Verläuft die Entwicklung des Kindes linear oder in Phasen? Gilt das Prinzip des „je früher, desto besser“ oder eher „alles zu seiner Zeit“?
Rudolf Steiner beschreibt eine phasenweise Entwicklung des Menschen, deren Phasen in Schritten von 7 Jahren verlaufen (0–7 Jahre, 7–14 Jahre usw.), wobei für jedes Jahrsiebt spezifische aufeinander aufbauende Entwicklungsaufgaben beschrieben werden. Dieser Siebenjahresrhythmus ist ein archetypisch menschlicher Rhythmus, welcher von anderen Rhythmen und Faktoren wie Konstitution und anderem beeinflusst wird. Dadurch entsteht ein Zusammenspiel, das sich in Beschleunigungen bzw. Verlangsamungen zeigen kann, wie zum Beispiel bei verfrühten oder verzögerten Geburtsterminen oder Pubertätseintritten. So ergibt sich der einzigartige Lebensrhythmus eines jeden Menschen, der sich am Archetypisch-Menschlichen orientiert, jedoch vom Individuell-Biographischen geprägt wird.
Metamorphose der Ätherkräfte
Die meisten Entwicklungstheorien beschreiben einen pa-
rallelen Verlauf der körperlichen und emotional-kognitiven Entwicklung. Rudolf Steiner jedoch entwickelt eine Idee, die ziemlich einzigartig und ungewöhnlich ist. Er spricht von der Umwandlung (Metamorphose) physisch-physiologischer Kräfte in emotional-kognitive Fähigkeiten. Er beschreibt, dass die Kräfte, durch welche das Kind wächst (Wachstumskräfte) und seine Organe formt und reifen lässt (Formkräfte), sich innerhalb der ersten sieben Lebensjahre schrittweise und teilweise vom Körper lösen und damit für bestimmte emotional-kognitive Fähigkeiten zur Verfügung stehen.Diese Kräfte nennt Rudolf Steiner Lebens- bzw. Ätherkräfte und den Umwandlungsprozess die „Metamorphose der Ätherkräfte“. Dieser Prozess kommt mit dem 6./7. Lebensjahr zu einem gewissen Abschluss und wird auch, manchmal fast als Schlagwort, als die „Geburt des Ätherleibes“ bezeichnet. Der Abschluss dieser Umwandlungen ist für Rudolf Steiner die Voraussetzung für das schulische, explizite, bildhafte Lernen, was durch die Erfahrung immer wieder bestätigt wird.
Zahnwechsel und Gedächtnisentwicklung
Ein Ausdruck dieses Umwandlungsprozesses ist der Zahnwechsel des Kindes – ein ziemlich dramatisches Geschehen. Obwohl dieser zur Beurteilung der Schulreife mit hinzugezogen wird, sollte dies mit Vorsicht geschehen, da wichtige Aspekte des „Zahnwechsels“ nicht äusserlich sichtbar sind. Auch ist der Zahnwechsel ein Prozess, der vom 6. bis 12. Lebensjahr dauert (Weisheitszähne ausgenommen) und zwischen Geburt und 6. Lebensjahr vorbereitet wird.
Beim Durchbruch der Milchzähne beginnt die Mineralisierung der bleibenden Zähne und ab dem 4. – 5. Lebensjahr die Wurzelresorption der Milchzähne durch die bleibenden Zähne. So sind mit ungefähr 6 Jahren alle bleibenden Zähne mineralisiert, wenn sie auch häufig noch im Kiefer verborgen liegen und erst nach und nach durchstossen. In dieser abgeschlossenen Mineralisierung der bleibenden (zweiten) Zähne um das 6. Lebensjahr herum, die äusserlich nicht sichtbar ist, kann man einen teilweisen Abschluss der Aktivität des Ätherleibs sehen. Die Zahnkronen mit dem Zahnschmelz, der härtesten Substanz unseres Körpers, sind fertig geformt und dauerhaft.
Diese „nicht mehr gebrauchten“ Formkräfte der Zähne kann man umgewandelt in der Entstehung der Erinnerungsfähigkeit und in der Formung von immer klareren Gedanken wiederfinden. Schon das junge Kind erkennt Menschen und Dinge wieder, zum Beispiel die Eltern. Dieses Wiedererkennen wird zunehmend bewusst und umgebungs- bzw. situationsunabhängig. Ein 3–4-jähriges Kind wird sich typischerweise an einen Ort erinnern, wenn es wieder an diesen Ort zurückkommt. Ein 6–7-jähriges Kind jedoch wird sich beim Nennen dieses Ortes diesen innerlich-bildlich vorstellen und sich an ihn erinnern können, auch wenn es sich selber an einem anderen Ort befindet.
Dies sind erste Schritte einer Innerlichkeit und Selbstständigkeit, die bei 6-jährigen Kindern sehr deutlich bemerkbar sein können und das umgebungsunabhängige, von Sinneseindrücken freie Gedächtnis des schulreifen Kindes zeigen.
Die Schulreife sorgfältig abwägen
Ausdrücke dieser Metamorphose lassen sich in verschiedenen Entwicklungsgebieten beobachten, so zum Beispiel auch in der Bewegung, der Gestalt, dem Zeichnen und Malen sowie dem Spielverhalten des Kindes. Diese, sowie natürlich das Alter des Kindes, werden alle in der Schulreife-Beurteilung mit berücksichtigt.
Obwohl bei vielen Kindern die Frage nach der Schulreife leicht zu beantworten ist, kann sie manchmal eine Herausforderung darstellen. Es gibt keinen eindeutigen „Schulreife-Test“, der einem die Entscheidung abnimmt, sondern die vorsichtige Abwägung einer individuellen Lebens- und Entwicklungssituation im Kontext der bisherigen Entwicklung des Kindes ist gefragt.
Gesichtspunkte hierzu können sein: Hat das Kind stetige Entwicklungsfortschritte gemacht, oder waren es eher Entwicklungssprünge? Handelt es sich bei einem Problem um eine Reifungsfrage oder um Charakterzüge? Liegen deutliche Diskrepanzen im Profil der Entwicklungsgebiete vor, und welche „Lernumgebung“ – Kindergarten oder Schule – wäre dafür am angemessensten?
Diese Fragen stellen nur eine Auswahl dar. Dazu kommen eventuelle gesetzliche Vorgaben des Staates bezüglich Einschulungsalter, Stichtagen etc. Wichtig ist ebenso die enge Zusammenarbeit zwischen Eltern, Kindergärtnerinnen und Lehrern, die alle das Kind von einer anderen Seite her kennen und wahrnehmen. Gegenseitiges Verständnis, Offenheit und Transparenz sind in diesem Prozess unerlässlich.
Waldorfpädagogik
Im Jahr 1919 wurde die erste Waldorfschule gegründet. In der von Rudolf Steiner begründeten Waldorfpädagogik ist der Lehrplan so konzipiert, dass jeweils die dem Kind zur Verfügung stehenden kognitiven Fähigkeiten im Unterricht angesprochen werden. Es geht also um einen der physisch-physiologischen Entwicklung des Kindes angepassten Lehrplan.
Dieser Grundgedanke erlaubt es, den gesundheitsfördernden Charakter der Waldorfpädagogik nachzuvollziehen. Die Kehrseite dieses Gedankens ist, dass das Nicht-Beachten dieser Entwicklungs-Gesetzmässigkeiten, unabhängig vom Schulsystem, gesundheitsschädigende Wirkungen haben könnte, da die noch für körperliche Prozesse benötigten ätherischen Kräfte schon für kognitive Prozesse sozusagen abgezogen werden.
Da der Umgestaltungsprozess der Kräfte bei 5–6-jährigen Kindern sich dem Ende nähert, jedoch noch nicht abgeschlossen und konsolidiert ist, stehen die ätherischen Kräfte als kognitive Fähigkeiten schon teilweise zur Verfügung. Dies scheint auf den ersten Blick kein Problem zu sein, und manche jung eingeschulten Kinder kommen in den ersten Klassen gut mit. Emotionaler Stress und häufiges Kranksein werden jedoch oft beobachtet und können als Zeichen der Überforderung gedeutet werden. Ob dies Konsequenzen für die spätere Gesundheit haben wird, ist ein Verdacht, der weiterer Forschung bedarf.
Wie das zu frühe kann aber auch das zu späte In-Anspruch-Nehmen von Fähigkeiten problematisch sein. Beides, sowohl die Über- als auch die Unterforderung, kann zum Beispiel zu Verhaltensauffälligkeiten führen. Dies kann man schon bei den 6-jährigen Kindern im Kindergarten bemerken, wenn diese beim Fehlen der entsprechenden Herausforderungen und Aufgaben nicht mehr integriert sind. Ebenso sollte bei spät eingeschulten Kindern bedacht werden, dass die Pubertät im Vergleich zu den Klassenkameraden wahrscheinlich früher eintreten wird. Das Umgekehrte gilt bei im Vergleich zu anderen früh eingeschulten Kindern.
Reif und bereit sein
Schulreife ist ein komplexes Thema und kann manchmal die Gemüter erhitzen. Notwendigkeiten und Lebensrealitäten haben inzwischen verschiedene Modelle des Übergangs „Kindergarten – Schule“ entstehen lassen. So zum Beispiel die Eingangsstufenklasse an manchen Waldorfschulen oder die Schulaussenstelle am Waldorfkindergarten für die schulpflichtigen, aber noch nicht schulreifen Kinder.
Bei der Eingangsstufenklasse werden die Kinder von einer Lehrkraft für ein Jahr betreut, mit starker Anlehnung an das Waldorfkindergarten-Konzept. Bei der Schulaussenstelle verbleiben die Kinder im Waldorfkindergarten und werden stundenweise in der Gruppe der älteren Kinder von einer Lehrkraft unterrichtet. Wie die praktischen Lösungen auch aussehen mögen, wichtig ist die Berücksichtigung der Entwicklungsgesetzmässigkeiten. Die Frage ist also nicht nur, ob die Kinder reif sind für die Schule, sondern auch, ob die Schule reif und bereit ist für die Kinder.
Quellenangaben:
1. Elizabeth D A Sykes, John F Bell, Carmen Vidal Rodeiro: Birthdate
effects: A review of the Literature from 1990- on. Cambridge Assessment 2009
2. Patrick A. Puhani, Andrea M. Weber: Fängt der frühe Vogel den Wurm? Eine empirische Analyse des kausalen Effekts des Einschulungsalters auf den schulischen Erfolg in Deutschland. 2005
3. Margaret L. Kern, Howard S. Friedman: Early educational milestones as predictors of lifelong academic achievement, midlife adjustment, and longevity. Journal of Applied Developmental Psychology 30 (2009) 419–430
Fachperson | Bettina Lohn |
Arbeitsschwerpunkte | arbeitet seit 2011 als Praktische Ärztin in der Kinder- und Jugendmedizin an der Ita Wegman Klinik, betreut hausärztlich die erwachsenen Bewohner des Sonnenhofs Arlesheim und ist Schulärztin an Rudolf Steiner Schulen. Nach dem Medizinstudium in Düsseldorf siedelte sie nach Grossbritannien über. Dort Ausbildung zur Allgemeinärztin und Arbeit als Schulärztin in Rudolf Steiner Schulen und im öffentlichen Gesundheitssystem. Weiterbildung zur anthroposophischen Ärztin und Master of Science (MSc) in Community Paediatrics. |
Kontakt | bettina.lohn@wegmanklinik.ch |