Rückgrat — gehalten zwischen Himmel und Erde

Im Alter von knapp 36 Jah­ren wur­de Lara Bar­ba­ra Stutz 2006 mit der Dia­gno­se Krebs kon­fron­tiert. Im Gespräch mit der Ärz­tin Sil­ke Hel­wig über das The­ma „Rück­grat“ schil­dert sie die damit ver­bundenen Erfah­run­gen. Das Gespräch kann Hoff­nung machen. Es ver­deut­licht, dass die Wahr­neh­mung des Gegen­übers als Indi­vi­dua­li­tät, der indi­vi­du­el­le Aus­druck, etwas ist, was hilft, die eige­ne Stär­ke zu fin­den.

Frau Stutz, was heisst für Sie Rück­grat?

Rücken ist für mich das wirk­lich Kör­per­li­che. Rück­grat ent­hält dem­ge­gen­über etwas Grös­se­res im Wort. In mir taucht ein Bild von Boden und Him­mel auf, die ver­bun­den sind, ein ener­ge­ti­sches Bild vom Boden nach oben, eine Ener­gie, die über den Kör­per hin­aus­geht. Wenn ich mich auf­rich­te, dann spü­re ich, dass die Bewe­gung auch vom Solar ple­xus aus­geht. Vom Gefühl her gehört zum Rück­grat auch der vor­de­re Teil des Ober­bauchs und des Brust­korb­be­reichs. Und ein Raum hin­ter mir gehört eben­falls dazu, der hell wird und das Gefühl des Sich-Auf­rich­tens ver­stärkt.

Haben wir die­ses Rück­grat von Anfang an?

Wir kom­men gewis­ser­mas­sen mit dem Rücken zur Welt, aber damit die­se Form, die­se Gestalt ent­steht, braucht es den vor­de­ren Bereich. Wenn man steht, kann das Rück­grat hin und her schwan­ken oder umkip­pen, aber mit dem Vor­der­raum, der die Form gibt, wird es viel sta­bi­ler. Die­ser vor­de­re Teil hat für mich mit Ent­wick­lung zu tun. Wir brau­chen ihn, um ein Selbst-Gefühl zu haben. Die­se Ent­wick­lung hängt sehr stark von unse­rer Umge­bung, den Eltern, dem Schul­sys­tem ab. Sie spie­geln uns und geben uns daher im Ide­al­fall die Mög­lich­keit, unse­re Indi­vi­dua­li­tät zu ent­wi­ckeln. Tat­sa­che ist, dass die Ver­hält­nis­se nicht immer in die­sem idea­len Sinn funk­tio­nie­ren. Das Rück­grat ist nicht unbe­dingt etwas, das auto­ma­tisch kommt oder das jeder Mensch hat oder ent­wi­ckelt.

Ein Mensch, der Rück­grat hat, der …

… geht sei­nen eige­nen Weg, lässt sich nicht unter­krie­gen, setzt das ein, was er zur Ver­fü­gung hat.

Und ein Mensch, des­sen Rück­grat gebro­chen wur­de?

Der hat kei­ne wirk­li­che Wahl und sieht auch die Mög­lich­kei­ten nicht oder nicht mehr. Es hat zu tun mit Aus­ge­lie­fert­sein oder kei­nen Ein­fluss neh­men kön­nen. Der Wil­le, der eige­ne Wil­le, die Eigen­be­stim­mung ist gebro­chen wor­den, ist weg­ge­nom­men wor­den. Etwas, was von aus­sen kam, war wie über­mäch­tig und das Inne­re, das es auch braucht, war nicht genü­gend vor­han­den, um dem stand­zu­hal­ten.

Wie war das, als Sie die Dia­gno­se Krebs erhiel­ten?

Zuerst wie gebeugt, aber nach­her wie­der ein Auf­rich­ten. Ich konn­te auf eine Art auf­recht blei­ben, und da war wohl auch etwas, wo ich vor­her schon an mir gear­bei­tet habe. Ich sehe immer mehr, was mich alles unter­stützt hat. Zum Teil kann ich es benen­nen, und zum Teil ist es immer noch ein Mys­te­ri­um. Zuerst aber war das Gefühl, aus­ge­lie­fert zu sein, kei­ne Wahl zu haben, nichts machen zu kön­nen, kei­ne Chan­ce zu haben, ein Gefühl, dass das Aus­sen über­mäch­ti­ger ist.

War es die Dia­gno­se an sich oder auch die Art und Wei­se, wie sie mit­ge­teilt wur­de?

Ja, ein­deu­tig auch, wie sie mit­ge­teilt wur­de. Es hat­te so etwas Tech­ni­sches. Mir wur­de sofort gesagt, was ich nun machen müs­se, was als Stan­dard üblich sei. Ich spü­re heu­te, dass es nicht die Men­schen an sich waren – nicht dass sie bös­wil­lig ver­let­zen, scha­den woll­ten. Wenn mir aber anstel­le ihrer Indi­vi­dua­li­tät das Sys­tem, die Sche­ma­ta begeg­nen, dann schwächt das. Der indi­vi­du­el­le Teil, ich als Mensch, hat­te kei­nen Platz.

Wie war dann Ihr Weg? Wo kam Ihre Kraft her?

Er war nicht ein­fach so da. Es ist eher Schritt um Schritt wie kla­rer gewor­den, wel­chen Weg ich mit die­ser Diag­nose gehen will. Im Moment der Dia­gno­se war das Zu­sammenklappen. Einen Tag spä­ter fand ich, ich will mich infor­mie­ren und will wis­sen, was in den Befun­den steht. Ich sass an den Com­pu­ter und ging ins Inter­net. Es war wirk­lich schwie­rig, da ein­fach „Krebs“ ein­zu­ge­ben und zu lesen zu begin­nen. Ich war allein im Haus und dach­te, o.k., ich kann das, ich tue das jetzt. Das war so ein Moment, wo ich merk­te, dass ich es konn­te.

Was mach­ten Sie mit den Infor­ma­tio­nen aus dem Inter­net?

Am nächs­ten Tag im Gespräch mit dem Chir­ur­gen konn­te ich Fra­gen stel­len und ich bemerk­te Reak­tio­nen. Dadurch hat mei­ne Kraft wei­ter Auf­trieb bekom­men. Nach der zwei­ten Ope­ra­ti­on habe ich von aus­sen Hin­wei­se bekom­men, denen ich nach­ging. Durch das, was ich dabei erleb­te, wur­de es noch kla­rer, was ich tun woll­te und was nicht. Wirk­lich Schritt um Schritt. Ich kann nicht sagen, am Anfang war klar, ich tue das und das. Über­haupt nicht. Das ist ent­stan­den.

Sie sind ein­fach Ihren Weg gegan­gen?

Wenn ich so zurück­bli­cke, spü­re ich, dass es auch eine Füh­rung gab, ein Gefühl von Geführt-Sein.
Das Geführt-Sein ist für mich wie Hil­fe oder eine Stüt­ze erhal­ten. Das ist ein Teil, den ich jetzt rück­bli­ckend ver­mehrt sehe und der auch durch die­se Erfah­rung ver­mehrt in mein Leben gekom­men ist und wei­ter kommt.

Was kann hel­fen, in einer so schwe­ren Situa­ti­on Rück­grat zu zei­gen und zu behal­ten?

Wich­tig ist, glau­be ich, sich Zeit zu geben und sich Zeit zu neh­men. Ich bin an meh­re­re Orte gegan­gen, habe meh­re­re Insti­tu­tio­nen und Men­schen getrof­fen und dann gewählt. Ich habe das Gefühl, dass das ein ganz wich­ti­ger Teil ist: wirk­lich für sich zu wäh­len. Und dann voll und ganz die­sen Weg auch gehen und wirk­lich ja sagen.

Wich­tig ist aber auch, vor­sich­tig zu sein mit dem Reden. Ich war und bin vor­sich­tig, mit wem ich was rede, weil ich ein­fach gemerkt habe, dass Ver­wir­rung und Angst kom­men, wenn ich Gewis­ses höre. Es ver­hin­dert, dass ich wirk­lich spü­ren kann, was bei mir ist, was für mich stimmt. Soviel wie mög­lich aus­schal­ten, sagen: „Ich kom­me und fra­ge, wenn ich etwas wis­sen möch­te.“

Was war auch noch von Bedeu­tung?

Es geht am Anfang vor allem dar­um, Boden zu haben, ge­erdet zu sein, sei­nen Raum wahr­zu­neh­men. Hier kann viel­leicht ein Mensch als Beglei­tung hilf­reich sein. Die­ser Mensch muss aber „neu­tral“ sein, darf nicht in einem Inter­es­sen­zu­sam­men­hang mit ande­ren Sei­ten oder Insti­tutionen ste­hen. Nach­dem ich Boden unter die Füs­se bekom­men hat­te, war es für mich wich­tig, auch den Him­mel, das Spi­ri­tu­el­le hin­ein­zu­neh­men. Für die eige­ne Ent­wick­lung und um gestärkt dar­aus her­vor­zu­ge­hen, braucht es mei­ner Ansicht nach bei­des. Ich erle­be mei­ne Erfah­run­gen als Chan­ce, einer­seits mehr Boden zu gewin­nen und mich mehr nach oben zu öff­nen.

Gab es für Sie Über­ra­schungs­mo­men­te in die­sem Gespräch?

Ja, über­rascht haben mich ein paar die­ser Bil­der, die gekom­men sind: die Ver­bin­dung von hin­ten und vor­ne, unten und oben. Die­ses Umfas­sen­de, das sich gezeigt hat, fin­de ich eben­falls span­nend. Oder wie die­ser Unter­schied von Rücken und Rück­grat kör­per­lich spür­bar ist. Durch das Gespräch spü­re ich auch, dass ich in die­ser Erfah­rung wirk­lich Rück­grat bewie­sen habe und habe erfah­ren kön­nen, wie es ist, aus die­ser inne­ren Stär­ke zu leben und sie wach­sen zu las­sen. Das jetzt noch ein­mal zu spü­ren, berührt mich.

Autoren84

 

Fach­per­son Sil­ke Hel­wig
Arbeits­schwer­punk­te Sie ist seit 23 Jah­ren Ärz­tin an der Lukas Kli­nik mit Schwer­punkt Psy­cho­on­ko­lo­gie und Bio­gra­phie­ar­beit.
Kon­takt s.helwig@lukasklinik.ch

 

 

Autoren87

 

Fach­per­son Lara Bar­ba­ra Stutz
Arbeits­schwer­punk­te Sie arbei­tet in eige­ner Pra­xis als Life Coach/psych. Bera­te­rin mit Ein­zel­per­so­nen, Paa­ren und Grup­pen.
Kon­takt www.livingvisions.ch

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