Raum geben für das Leben

Frau Weiligmann, Ihr Hauptarbeitsfeld ist die Psycho-
onkologie.
Was ist das?

Die Psy­cho­on­ko­lo­gie ist ein Teil der Onko­lo­gie, sie kon­zen­triert sich auf alle psy­chi­schen Zusam­men­hän­ge einer Krebs­er­kran­kung und deren Ein­flüs­se – sowohl bezüg­lich ihrer Ent­ste­hung, als auch des Ver­laufs und der The­ra­pie. Es geht also im wei­tes­ten Sinn auch dar­um, ein Krank­heits­ver­ständ­nis zu 
ent­wi­ckeln. Die Krebs­er­kran­kung ist nicht eine „zufäl­li­ge“
Geschwulst­bil­dung, gegen die man kämp­fen muss, die man raus­schnei­det, und dann ist es erle­digt. Es ist eine Erkran­kung, die den gan­zen Men­schen betrifft. Ich beglei­te die 
Men­schen dahin, dass sie ler­nen, mit der Erkran­kung zu 
leben, mit dem Krebs umzu­ge­hen. Die­ser Schritt bedeu­tet enorm viel: Ich kämp­fe nicht gegen die Erkran­kung, son­dern gehe in Aus­ein­an­der­set­zung mit ihr.

Das ist für die Betroffenen bestimmt nicht einfach?!

Sicher nicht. Stel­len Sie sich zum Bei­spiel vor, dass jemand die Dia­gno­se Krebs bekom­men hat, nach­dem ein Arzt es 
län­ge­re Zeit über­se­hen hat und nun die the­ra­peu­ti­schen Mög­lich­kei­ten gerin­ger sind! Der Pati­ent hadert mit sei­nem Schick­sal, hegt ver­ständ­li­cher­wei­se Groll auf den Arzt. 
Die­se Wut muss man erst ein­mal aus­drü­cken kön­nen. 
Und doch, man kann den Spiess wie­der umdre­hen und 
fra­gen, was mache ich jetzt damit? Wie gehe ich damit um? Obwohl der Krebs da ist, kämp­fe ich dar­um, dass es mir so gut wie mög­lich geht. Die Umstän­de anzu­er­ken­nen, ist 
bereits ein gros­ser Schritt.

Wie kann ich mir Ihre Therapie vorstellen?

Das zen­tra­le Ele­ment mei­ner Arbeit ist das Gespräch, der Aus­tausch – und beson­ders wich­tig: das Zuhö­ren. Im Gespräch neh­me ich erst ein­mal auf, wel­che Gefüh­le der Pati­ent aktu­ell hat. Die ers­te Fra­ge ist immer die Wich­tigs­te, sie 
berei­tet den Raum für das Nach­fol­gen­de. Der Pati­ent soll 
sich mit­tei­len kön­nen über das, was bei ihm gera­de ansteht. Oft sind es Ängs­te, Ver­zweif­lung, Trau­er. Unmit­tel­bar nach 
der Dia­gno­se geht es um ers­te Bewäl­ti­gungs­stra­te­gi­en. 
Wir ver­su­chen im Gespräch, die Tumor­er­kran­kung in den 
Lebens­zu­sam­men­hang zu stel­len.
Es kom­men rasch sol­che Fra­gen wie: War­um Krebs? War­um ich? War­um gera­de jetzt? Beim Ver­such, die Erkran­kung in
das Leben ein­zu­ord­nen, kom­men oft auch schwie­ri­ge Hür­den, zum Bei­spiel die Fra­ge nach der Schuld. Oft setzt sich der Pati­ent mit sei­nen Schuld­ge­füh­len oder der Fra­ge nach der Ursa­che noch zusätz­lich unter Druck. Aber: Es geht hier nicht um Schuld. Es geht immer um die Ver­ant­wor­tung – Ver­ant­wor­tung für unser Leben, unse­ren Lebens­stil, unse­re Ent­wick­lung. Und es geht auch um die Ver­ant­wor­tung, wie wir mit einer Erkran­kung umge­hen. Wir spre­chen über
Fra­gen zur Ver­gan­gen­heit, doch viel mehr über sol­che, die die Gegen­wart und die Zukunft betref­fen.

Wer kommt zu Ihnen in die Therapie?

Ich habe sowohl ambu­lan­te als auch sta­tio­nä­re Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten. Die Beglei­tung in der Psy­cho-
onko­lo­gie macht man nicht erst, wenn es psy­chi­sche 
Pro­ble­me gibt, son­dern sie soll­te jedem Krebs­kran­ken ange­bo­ten wer­den, dann kann er selbst ent­schei­den, ob er das braucht. Ein­mal besuch­te ich einen Pati­en­ten auf der Sta­ti­on, der mir auf mein Nach­fra­gen hin erzähl­te, dass es ihm gut gehe. Bei ihm war deut­lich, dass er genug Res­sour­cen hat, 
dass er in sei­nem Umfeld so gut auf­ge­ho­ben und ein­ge­bet­tet ist, dass hier kein Bedarf an zusätz­li­cher Betreu­ung bestand. Aber ich habe auch erlebt, dass man sehr gut zuhö­ren und 
spü­ren muss, ob das nur so dahin­ge­sagt ist und sich der 
Pati­ent even­tu­ell nicht erlaubt, Hil­fe nach­zu­fra­gen.
Oft kom­men auch Ange­hö­ri­ge, die die Erkran­kung eben­falls zu ver­ar­bei­ten haben – und meis­tens brin­gen sie auch ihre eige­nen Geschich­ten mit.

Worauf achten Sie besonders bei der Stärkung der Ressourcen des Patienten?

Wir schau­en nicht auf das Kran­ke, son­dern immer auf das Gesun­de. Wir spre­chen den „inne­ren Arzt“, die inne­re Stim­me an und schau­en, was im Men­schen an gesun­den Kräf­ten lebt, wel­che vor­han­de­nen Fähig­kei­ten, Kräf­te oder Mög­lich­kei­ten er hat. Die kön­nen ver­bor­gen sein. Ein Gespräch auf der Basis der Bio­gra­fie­ar­beit kann hel­fen — allein schon die Fra­ge danach, was der Mensch frü­her in schwie­ri­gen Situa­tio­nen gemacht hat, was ihm dann gehol­fen hat. 
Da taucht meis­tens etwas auf, an dem sich anknüp­fen lässt.

Im Zentrum steht also immer der Patient mit seinen ureigenen Fähigkeiten und Stärken?

Ja, als wich­tig erle­be ich die Hal­tung: „Ich lebe nicht für den Krebs, ich lebe für mich.“ „Ich bin die Instanz, ich bin der, um den es geht und nicht die Krank­heit.“ Ich habe Pati­en­ten 
erlebt, deren gan­ze All­tags­ge­stal­tung dar­auf aus­ge­rich­tet ist, Din­ge zu tun oder zu las­sen, damit die Krank­heit nicht 
wie­der­kommt oder wei­ter fort­schrei­tet. Dadurch wird ihr 
Leben durch die Krank­heit dik­tiert. Auch sie fra­ge ich, wie es ihnen damit geht, was sie erle­ben und ob sie nicht den
Ein­druck haben, dass sie jetzt nicht wirk­lich frei sind. „Stimmt das für Sie? Gibt es Ihnen wirk­lich Sicher­heit?“ Wenn das so ist, dann ist es gut. Es liegt nicht an mir zu 
sagen, ob ein Weg rich­tig oder falsch ist. Ich spre­che mit 
ihnen über die Angst vor einer erneu­ten Erkran­kung. Die 
Pati­en­ten wol­len mög­li­che Ursa­chen aus­schlies­sen: nur nichts ver­ges­sen aus dem The­ra­pie­plan, kei­ne schlech­ten 
Gefüh­le, kei­nen Stress haben. Aber es geht viel­mehr dar­um: Wie mache ich mich stark, dass ich leben kann, dass ich mein Leben gestal­ten kann.

Wie reagieren die Patienten?

Die Dia­gno­se ruft bei den Men­schen ver­schie­de­ne Reak­tio­nen her­vor, das ist sehr indi­vi­du­ell. Es gibt kei­nen defi­nier­ten 
Umgang mit der Erkran­kung. Das muss man respek­tie­ren. 
Es kann ein Unter­schied sein, ob eine Ersterkran­kung 
vor­liegt oder ein Rezi­div auf­tritt. Manch­mal erle­be ich, dass eine Ersterkran­kung als nicht so schlimm auf­ge­fasst wird. Der Tumor wird besei­tigt, das Leben geht wei­ter, der Pati­ent stürzt sich wie­der in sei­ne Arbeit. Ande­re aber sagen „Ich habe schon lan­ge das Gefühl, dass ich nicht mehr mein 
Leben lebe.“ Der Stress auf der Arbeit, die Schwie­rig­keit in der Fami­lie oder ande­res kom­men dann zur Spra­che. 
Das Leben ist ins Sto­cken gera­ten, der Mensch kommt nicht 
wei­ter. Hier schau­en wir auf Fra­gen wie: Was habe ich für Zie­le? Was erwar­te ich noch? Der Mensch kann sich 
auf den Weg bege­ben, sei­ne Lebens­me­lo­die wie­der­zu­fin­den.

Was raten Sie den Patienten?

Raten? Ich fra­ge! Fra­gen öff­nen Türen. Es kommt nicht so sehr auf die Ant­wor­ten an, son­dern dar­auf, die Türen zu 
öff­nen, dass der Ande­re wie­der selbst Mög­lich­kei­ten ent­de­cken kann. Der Mensch kann sich selbst begeg­nen, kann
sich aus­ein­an­der­set­zen. Ich sehe mich als Weg­be­glei­ter. 
Ich hel­fe nicht. Ich bin da, und ich fra­ge. Ich sage dazu: tie­fer fra­gen. Das macht man mit sich selbst in der Regel nicht. In unse­ren Gesprä­chen ver­su­chen wir stets,  einen wert­frei­en und abso­lut urteils­frei­en Raum zu schaf­fen. Da ent­steht dann eine Stim­mung von „alles ist mög­lich“.
Das Schöns­te für mich ist, wenn ich auf die Sta­ti­on gehe und psy­cho­on­ko­lo­gi­sche Besu­che mache. Dann fra­ge ich „Wie geht es Ihnen – jetzt, gera­de im Moment?“ Die Fra­ge macht meist den Raum auf, denn in der Fra­ge steckt drin: Sie inter­es­sie­ren mich, ich sehe Sie, ich will von Ihnen hören. Das ent­spricht unse­ren Grund­sehn­süch­ten: Ich will wahr­ge­nom­men und ange­nom­men wer­den.

Sprechen Sie auch das Thema Sterben an?

Ich bezie­he den Tod und das Ster­ben immer schnell ins 
Gespräch mit ein. Was bedeu­tet für Sie und Ihre Fami­lie 
die­se Erkran­kung? Was bedeu­tet für Sie der Tod? Aber auch: Was erwar­ten Sie von Ihrem Leben? Wir erwei­tern das Gesprächs­feld, was den Umgang mit der Erkran­kung,
das Ver­ständ­nis erleich­tert. Es geht um das Leben, um das Leben bis zum Schluss. Und es geht dar­um, das Leben selbst zu gestal­ten – in dem Rah­men, der noch mög­lich ist. Und dazu gehört auch die Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Tod.

Können Sie dafür ein Beispiel geben?

Eine Pati­en­tin hat sich völ­lig mit ihrer Arbeit iden­ti­fi­ziert. Sie bekam ein Rezi­div und merk­te, dass sie nicht zu Kräf­ten kam. Und auch jetzt frag­te sie sofort, wie viel Pro­zent sie noch arbei­ten kön­ne. Als der Arzt ihr nahe­legt, ganz 
auf­zu­hö­ren mit der Arbeit, rea­li­siert sie erst die Ernst­haf­tig­keit der Erkran­kung. Das hat ihr einen neu­en Weg gezeigt. 
Sie hat sich für die Früh­pen­sio­nie­rung ent­schie­den, und plötz­lich wur­de noch ein­mal viel mehr mög­lich in ihrem 
Leben. Durch die ech­te Akzep­tanz ihrer Krank­heit erlebt sie eine neue Frei­heit. Sie ent­schei­det: „Jetzt mach ich das, was ich schon lan­ge woll­te.“

Fach­per­son Cäci­lia Wei­lig­mann
Arbeits­schwer­punk­te Seit 14 Jah­ren an der Kli­nik Arle­sheim. Bio­gra­fie­ar­bei­te­rin,
Psy­cho­on­ko­lo­gi­sche Bera­te­rin SGPO, Mit­glied des Berufs­ver­bands
Bio­gra­phie­ar­beit Schweiz und der SGPO
Kon­takt caecilia.weiligmann@klinik-arlesheim.ch

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