Phänomene des Nervensystems erkennen

In der neu­ro­lo­gi­schen Ambu­lanz der Ita Weg­man Kli­nik wer­den ver­schie­de­ne Unter­su­chun­gen der kli­ni­schen Neu­ro­phy­sio­lo­gie und der Ver­hal­tens­neu­ro­lo­gie durch­ge­führt. Vere­na Jäsch­ke befrag­te den an der Kli­nik täti­gen Neu­ro­lo­gen Dr. med. Sieg­ward-M. Elsas zu den ver­schie­de­nen Unter­su­chungs­me­tho­den.

Herr Dr. Elsas, wel­che Unter­su­chungs­me­tho­den wen­den Sie in der neu­ro­lo­gi­schen Ambu­lanz der Ita Weg­man Kli­nik an?

Zunächst ein­mal muss man unter­schei­den zwi­schen den Unter­su­chun­gen der Ver­hal­tens­neu­ro­lo­gie und denen der kli­ni­schen Neu­ro­phy­sio­lo­gie. Letz­te­re haben mit den elek­tri­schen Phä­no­me­nen im Ner­ven­sys­tem zu tun. Es gibt eine Rei­he ver­schie­de­ner Metho­den, wel­che die elek­tri­schen Funk­ti­ons­pro­zes­se im Gehirn und im Ner­ven­sys­tem unter­su­chen. Dabei kann man mes­sen, ob die Ner­ven ent­lang ihres Ver­laufs die Impul­se so schnell lei­ten, wie sie es sol­len. Zum Bei­spiel kann das bei einer Poly­neu­ro­pa­thie beein­träch­tigt sein; da ist die Geschwin­dig­keit lang­sa­mer. Mit Hil­fe die­ser Unter­su­chun­gen kann man objek­ti­vie­ren, was der Pati­ent als sub­jek­ti­ves Erleb­nis beschreibt, zum Bei­spiel ein Krib­beln in den Glied­mas­sen.

Bei wel­chen Erkran­kun­gen füh­ren Sie die neuro­physiologischen Unter­su­chun­gen durch?

Ich wen­de sie an, wenn es dar­um geht zu prü­fen, ob zum Bei­spiel eine Poly­neu­ro­pa­thie vor­liegt, also eine Erkran­kung des peri­phe­ren Ner­ven­sys­tems, die meh­re­re Ner­ven betrifft. Aber auch bei einer Beein­träch­ti­gung bestimm­ter ein­zel­ner Ner­ven wie dem Mit­tel­arm­nerv beim so genann­ten Kar­pal­tun­nel­syn­drom kann mir eine neu­ro­phy­sio­lo­gi­sche Unter­su­chung bei der Dia­gno­se hel­fen.

Wie lau­fen die­se Unter­su­chun­gen ab?

Es geht um die Ner­ven­leit­ge­schwin­dig­keit (NLG) moto­ri­scher Ner­ven­fa­sern. Die­se lässt sich bestim­men, indem der Nerv an meh­re­ren Orten elek­trisch sti­mu­liert und die Reiz­ant­wort im Mus­kel gemes­sen wird. Die Ner­ven­leit­ge­schwin­dig­keit ist auch im Rücken­mark und Gehirn mess­bar, das heisst im Zen­tral­ner­ven­sys­tem. Das ist bedeu­tend bei der Mul­ti­plen Skle­ro­se, bei der auch Emp­fin­dungs­stö­run­gen, Krib­beln oder Gefühls­stö­run­gen auf­tre­ten kön­nen, die aber vom Rücken­mark oder Gehirn aus­ge­hen. Zur wei­ter­ge­hen­de­ren Beur­tei­lung der Funk­ti­on sen­si­bler Ner­ven ist für die kör­per­na­hen Abschnit­te und die Wei­ter­lei­tung im Rücken­mark und Gehirn die Ablei­tung evo­zier­ter Poten­zia­le sinn­voll.

Was sind evo­zier­te Poten­zia­le?

Wenn wir es begriff­lich anschau­en: Evo­ca­re bedeu­tet im Latei­ni­schen „her­vor­ru­fen“. Der Begriff Poten­zi­al kommt vom latei­ni­schen poten­tia „Stär­ke, Macht“ und zeigt eine Fähig­keit zur Ent­wick­lung. Die Mög­lich­keit zur Kraft­ent­fal­tung ist noch nicht aus­ge­schöpft. Wenn wir das zusam­men­fas­sen, zei­gen „evo­zier­te Poten­zia­le“ die unter­schied­li­chen Poten­zia­le im Elek­tro­en­ze­pha­logramm (EEG), die durch eine Rei­zung eines Sin­nes­or­gans oder eines peri­phe­ren Nervs aus­ge­löst wer­den. Im wei­tes­ten Sinn kön­nen wir alle gezielt aus­ge­lös­ten elek­tri­schen Phä­no­me­ne im EEG als evo­zier­te Poten­zia­le anschau­en. Die Ablei­tung von evo­zier­ten Poten­zialen dient meist zur Abklä­rung von Mul­ti­pler Skle­ro­se.

Kön­nen Sie das näher aus­füh­ren?

Zum einen gibt es das soma­to­sen­so­risch evo­zier­te Poten­zi­al (SEP), bei dem klei­ne elek­tri­sche Schocks am Fuss­knö­chel oder Hand­ge­lenk aus­ge­löst wer­den. Zwi­schen 500 und 2000 klei­ne Schocks wer­den nach­ein­an­der gege­ben; im Gehirn wird gemes­sen, was ankommt. Ent­spre­chend die­ser Mes­sung kann gezeigt wer­den, ob die Sti­mu­lanz über die Ner­ven­bah­nen in kor­rek­ter oder ver­zö­ger­ter Zeit im Gehirn ankommt. Letz­te­res kann auf eine Mul­ti­ple Skle­ro­se hin­deu­ten oder ein ande­res Pro­blem des Rücken­marks sein.

Kön­nen auch akus­ti­sche oder visu­el­le Rei­ze ein­ge­setzt wer­den?

Ja, auch die akus­tisch evo­zier­ten Poten­zia­le, die AEP, wer­den bei Ver­dacht auf Mul­ti­ple Skle­ro­se (MS) ange­wen­det. Das ist eine Unter­su­chung über den Hör­sinn. Mit­tels Kopf­hö­rer hört der Pati­ent eine Rei­he von Klicks, und ich schaue, wie lan­ge es dau­ert, bis die­ser Reiz im Hirn­stamm gemes­sen wer­den kann. Wenn das län­ge­re Zeit in Anspruch nimmt als „nor­mal“, kann das wie­der­um ein Zei­chen für MS sein. Es kann aber zum Bei­spiel auch einen Tumor im Kopf anzei­gen, der, obwohl er meist gut­ar­tig ist, durch sei­ne Mas­se die Ner­ven im Gehirn zusam­men­drückt. Beim VEP, dem visu­ell evo­zier­ten Poten­zi­al, wird gemes­sen, wie schnell der Seh­nerv reagiert; es ist häu­fig bei MS ver­än­dert.

In wel­chen Situa­tio­nen wird das EEG ange­wen­det?

Beim Elek­tro­en­ze­pha­logramm (EEG) wer­den die Hirn­strö­me wäh­rend des Wachens und Schla­fens gemes­sen. So wer­den ver­schie­de­ne Rhyth­men sicht­bar; zum Bei­spiel ist deut­lich zu sehen, wann jemand ein­schläft. Wenn unkla­re Anfäl­le vor­kom­men oder Bewusst­seins­ver­lus­te, auch bei mög­li­cher Epi­lep­sie, wird das EEG ange­wen­det, um zu sehen, ob sich bei den Hirn­strö­men Ver­än­de­run­gen zei­gen.

Dabei zei­gen sich spe­zi­fi­sche Mus­ter?

Ja, es gibt eine bestimm­te Signa­tur, die bei Epi­lep­sie auf­tritt; zum Bei­spiel sind stei­le Wel­len im EEG zu sehen, auch Spikes genannt. Oder es kom­men abnor­me Syn­chro­ni­sa­tio­nen vor, abnorm lan­ge Wel­len, die eher für den Schlaf typisch sind, die nun aber im Wachen auf­tre­ten. Man kann dies wie ein vor­über­ge­hen­des „Ein­schla­fen“ von Tei­len oder vom gan­zen Gehirn ver­ste­hen, was auf Epi­lep­sie hin­deu­ten kann.

Kann allein auf­grund die­ser Zei­chen bereits die ­Dia­gno­se gestellt wer­den?

Nein, alle die­se Unter­su­chun­gen müs­sen immer mit dem kli­ni­schen Ein­druck zusam­men gese­hen wer­den. Nie darf nur der Labor­be­fund behan­delt wer­den. Das kli­ni­sche Bild ist für mich immer pri­mär, die Test­ergeb­nis­se unter­stüt­zen allen­falls die­ses Bild, sie sind ein wich­ti­ger Bestand­teil für die Beur­tei­lung.

Füh­ren Sie noch ande­re neu­ro­phy­sio­lo­gi­sche ­Unter­su­chun­gen durch?

Das Elek­tro­myo­gramm, das EMG, gehört eben­falls zu unse­ren Unter­su­chungs­mög­lich­kei­ten. Bei die­ser Unter­su­chung wird eine sehr fei­ne Nadel in eine Rei­he von Mus­keln ein­ge­führt. Man misst dort die elek­tri­sche Akti­vi­tät in Ruhe und wäh­rend der Bewe­gung. Auch wenn Ruhe sein soll­te, zeigt das EMG eine Akti­vi­tät der Ner­ven­wur­zel, ähn­lich der in Bewe­gung. Bei Bewe­gung ist die elek­tri­sche Akti­vi­tät enorm gross oder lang. Die­se Metho­de wird vor allem bei Fra­gen nach einem Ner­ven­wur­zel­syn­drom infol­ge von Band­scheibenproblemen oder bei Hexen­schuss und Ischi­as ange­wen­det.

Was prü­fen Sie beim Ner­ven­wur­zel­syn­drom?

Das Ner­ven­wur­zel­syn­drom kann Schmer­zen ver­ur­sa­chen, die in die Hals- oder Kreuz­ge­gend aus­strah­len. Bei sol­chen Beschwer­den wird das EMG durch­ge­führt um zu sehen, ob die Ner­ven­wur­zeln ein­ge­klemmt sind. An der Stel­le, an der die Ner­ven aus dem Rücken­mark aus­tre­ten, gibt es fei­ne Kanä­le zwi­schen den Wir­bel­kno­chen. Schon leich­te Ver­schie­bun­gen las­sen die Band­schei­ben ver­rut­schen, und das reicht aus, um Ner­ven zu klem­men, und ver­ur­sacht star­ke Schmer­zen. Der Lei­dens­druck ist hier oft hoch genug, um auch solch eher unan­ge­neh­me Unter­su­chung wie ein EMG zu machen.

Sie unter­su­chen aber nicht die Ner­ven­wur­zeln direkt, son­dern die zuge­hö­ri­gen Mus­keln?

Es ist kaum mög­lich, die Ner­ven­wur­zel direkt zu unter­su­chen; des­halb wer­den die Mus­keln unter­sucht, die von den Ner­ven­wur­zeln ver­sorgt wer­den. Es geht dar­um, ein bestimm­tes Mus­ter von Mus­keln zu erken­nen. Wenn eine Rei­he von Mus­keln bestimm­te Aus­fäl­le zeigt, lässt dies die Schluss­fol­ge­rung auf ein Pro­blem einer bestimm­ten Ner­ven­wur­zel zu. Es ist eine gros­se Kunst, die­se Unter­su­chung durch­zu­füh­ren. Die Her­aus­for­de­rung liegt vor allem dar­in zu unter­schei­den, was ist bei Mus­kel­ak­ti­vi­tät nor­mal und was nicht, also dar­in, die Mus­ter zu erken­nen. Das kann kei­ne Maschi­ne erken­nen, das braucht die Erfah­rung eines Neu­ro­lo­gen.

Sie erwähn­ten vor­hin auch ver­hal­tens­neu­ro­lo­gi­sche Unter­su­chun­gen; wel­che füh­ren Sie durch?

Das ist ein Grenz­ge­biet zwi­schen Neu­ro­lo­gie und Psy­cho­lo­gie. Sol­che Unter­su­chun­gen wer­den durch­ge­führt, wenn es um ­Fra­gen von Kon­zen­tra­ti­ons- oder Gedächt­nis­stö­run­gen geht, um Fra­gen der intel­lek­tu­el­len Leis­tungs­fä­hig­keit – meist ver­bun­den mit der Fra­ge, ob es sich hier um alters­ent­spre­chen­de Ver­än­de­run­gen han­delt, oder ob die Ergeb­nis­se doch schon etwas aus­ser­halb des „Nor­mal­be­reichs“ lie­gen. Die­se Unter­su­chun­gen betref­fen alle Alters­grup­pen. Bei Kin­dern geht es eher um die Fra­ge eines mög­li­chen Auf­merk­sam­keits­de­fi­zit­syn­droms (ADS) oder einer Auf­merk­sam­keits­de­fi­zit-/Hy­per­ak­ti­vi­täts­stö­rung (ADHS), im Alter oft um Fra­gen einer mög­li­chen Demenz.

Wie geht eine sol­che Unter­su­chung vor sich?

Es gibt zum einen Reak­ti­ons­tests, bei denen wir fest­stel­len, wie schnell oder rich­tig der Betref­fen­de reagie­ren kann. Das ist unter ande­rem auch bei Fra­gen nach der Fahr­tüch­tig­keit wich­tig. Zum ande­ren machen wir Gedächt­nis­tests, ins­be­son­de­re bei der Fra­ge nach Gedächt­nis­ver­lust. Häu­fig erle­be ich es, dass bei den Men­schen, die mit der Sor­ge kom­men, es läge bereits etwas Patho­lo­gi­sches vor, sich das Ver­ges­sen eigent­lich im Rah­men des „Nor­ma­len“ bewegt.
Es sind eher die Ange­hö­ri­gen, die die tat­säch­li­chen patho­lo­gi­schen „Fäl­le“ zur Unter­su­chung brin­gen. Der Pati­ent selbst sieht dann weni­ger die Not­wen­dig­keit sol­cher Tests.

Was ist, wenn die­se Tests eine Abwei­chung von der Norm zei­gen?

Bei Tests, die auf­fäl­lig ver­lau­fen, besteht immer die Mög­lich­keit zu Depres­sio­nen. Des­halb ist es so wich­tig, die­se Tests nicht von mora­li­schen Gesichts­punk­ten aus anzu­schau­en, ob man gut oder schlecht abschnei­det, son­dern als Chan­ce, Berei­che zu iden­ti­fi­zie­ren, die für Betrof­fe­ne eine Her­aus­for­de­rung und Übungs­mög­lich­keit dar­stel­len. Wenn klar ist, wo das ­Pro­blem liegt, dann kön­nen die Fähig­kei­ten erübt wer­den.

Aus wel­chen Grün­den wer­den sol­che Tests durch­ge­führt?

Wir kön­nen zum Bei­spiel die Fahr­tüch­tig­keit prü­fen. Oder es stellt sich zum Bei­spiel die Fra­ge, ob bei einem Men­schen eine psych­ia­tri­sche Erkran­kung wie etwa eine Depres­si­on vor­liegt oder doch eine begin­nen­de Demenz. Die Beant­wor­tung die­ser Fra­ge ist wich­tig, denn die Behand­lung ist unter­schied­lich, und auch die Hei­lungs­mög­lich­kei­ten sind ver­schie­den. Aus­ser­dem lässt sich durch die­se Unter­su­chun­gen zum Bei­spiel nach Hirn­ver­let­zun­gen oder Schlag­an­fäl­len bes­ser beur­tei­len, ob ver­ant­wort­li­che Tätig­kei­ten mög­lich sind. Sol­che Unter­su­chun­gen bie­ten auch eine Mög­lich­keit, Bega­bun­gen zu prü­fen – ist ein Mensch eher logisch-ratio­nal ver­an­lagt oder mehr künst­le­risch? Dies kann für die Lebens­ge­stal­tung von Bedeu­tung sein oder auch zur Über­win­dung ver­schie­dens­ter Lebens­pro­ble­me, even­tu­ell bis hin zur Unter­stüt­zung der Selbst­kon­trol­le von epi­lep­ti­schen Anfäl­len.

Vie­len Dank für die inter­es­san­ten Aus­füh­run­gen!

Autoren164

Fach­per­son Dr. med. Sieg­ward-M. Elsas
Arbeits­schwer­punk­te Seit Juni 2012 an der Ita Weg­man Kli­nik tätig. Fach­arzt Neu­ro­lo­gie FMH, Medi­zin­stu­di­um an der Uni­ver­si­tät Wit­ten-Her­de­cke, Fach­arzt­aus­bil­dung an der Uni­ver­si­ty of Cali­for­nia in Los Ange­les. Kli­ni­sche Neu­ro­phy­sio­lo­gie und Epi­lep­to­lo­gie am Cedars Sinai Hos­pi­tal in Los Ange­les. 2002 bis 2010 als Assis­tenz­pro­fes­sor für Neu­ro­lo­gie und Epi­lep­to­lo­gie an der Ore­gon Health and Sci­ence Uni­ver­si­ty tätig.
Kon­takt siegward.elsas@wegmanklinik.ch

 

 

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Fach­per­son Joan­na Oguz
Arbeits­schwer­punk­te Seit Sep­tem­ber 2013 an der
Ita Weg­man Kli­nik tätig. Aus­bil­dung zur Medi­zi­nisch-Tech­ni­schen Assis­ten­tin (MTA) in der Fach­rich­tung Neurologie/Psychiatrie in Deutsch­land 2006. Zer­ti­fi­ka­te EEG-Semi­nar des Epi­lep­sie­zen­trums Kehl-Kork und Demenz­test in der Pra­xis. Tätig­keit im Neu­ro­zen­trum Frei­burg i. Br. und St. Cla­ra­spi­tal Basel. Im Kan­tons­spi­tal Basel in der cere­bro­vas­ku­lä­ren Ultra­schall­dia­gnos­tik tätig.
Kon­takt joanna.oguz@wegmanklinik.ch

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