Mitte der Kindheit: Ins Leben reifen

Die Zeit vom Schul­be­ginn bis zur Puber­tät stellt eine wich­ti­ge Lebens­pha­se für die Ent­fal­tung der Per­sön­lich­keit und der Indi­vi­dual­kräf­te dar. Sie ist geprägt von einem Drei­er­schritt, durch den die See­len­qua­li­tä­ten Den­ken, Füh­len und Wol­len vom Bewusst­sein neu ergrif­fen wer­den.

Her­kömm­li­cher­wei­se wird die Mit­te der Kind­heit haupt­säch­lich mit der Geschlechts­rei­fe in Ver­bin­dung gebracht. Rudolf Stei­ner merk­te aller­dings dazu 1924 in Dor­n­ach vor ange­hen­den Heil­päd­ago­gen Fol­gen­des an:
„Das­je­ni­ge, was als Bezie­hung der Geschlech­ter auf­tritt, ist nicht das Gan­ze; das Über­schät­zen in die­ser Bezie­hung ist nicht nur eine Fol­ge unse­rer mate­ria­lis­ti­schen Anschau­un­gen. In Wirk­lich­keit sind alle Bezie­hun­gen zur Aus­sen­welt, die mit der Geschlechts­rei­fe auf­tre­ten, im Grun­de genom­men gleich­ge­ar­tet. Man soll­te daher im Grun­de spre­chen von einer Erden­rei­fe, nicht von einer Geschlechts­rei­fe, und soll­te unter die Erden­rei­fe stel­len die Sin­nes­rei­fe, Atem­rei­fe, und eine Unter­ab­tei­lung soll­te auch sein die Geschlechts­rei­fe. So ist der Tat­be­stand wirk­lich. Da wird der Mensch erden­reif, da nimmt der Mensch das Frem­de wie­der in sich hin­ein, da erlangt er die Fähig­keit, nicht stumpf zu sein gegen die Umge­bung. Er wird ein­drucks­fä­hig gegen­über der Umge­bung. Vor­her ist er nicht ein­drucks­fä­hig für das ande­re Geschlecht, aber auch nicht für die übri­ge Umge­bung.“

Sinnesreife

Wenn wir zurück­ge­hen in die Neu­ge­bo­re­nen­zeit, dann sehen wir, wie dort der aller­ers­te Anfang für die Bewe­gungs­ent­wick­lung zunächst in der Aus­rei­fung der Sin­ne liegt. Pri­mi­ti­ve, ange­bo­re­ne Refle­xe wer­den über­wun­den und die sen­so­ri­schen Orga­ne tre­ten all­mäh­lich in Funk­ti­on.
Im Schul­al­ter, zwi­schen dem 7. und 9. Lebens­jahr, wird noch ein­mal ein Anlauf genom­men, und es kommt jetzt zur Aus­rei­fung des Gehirns. Es ist das Zen­tral­or­gan für alle Sinnes­organe und Ner­ven­pro­zes­se und bil­det gleich­zei­tig die orga­ni­sche Grund­la­ge für das Den­ken. Hat das Kin­der­gar­ten­kind mehr reflek­tie­rend sei­ne Gedan­ken anein­an­der­ge­reiht, ohne logi­schen Zusam­men­hang, so lernt das Kind neu, sich von den Sin­nes­ein­drü­cken zu distan­zie­ren, nicht mehr in ihnen zu schwim­men, son­dern das Wahr­ge­nom­me­ne rich­tig zu ver­ar­bei­ten und ein­zu­ord­nen. Damit lebt es in sei­ner eige­nen Gedan­ken­welt, fühlt sich dabei aber glück­lich und zufrie­den, weil die Welt für es stimmt.
Päd­ago­gisch wird dem Rech­nung getra­gen, indem das Kind noch ganz in den See­len­bil­dern der Mär­chen­welt leben darf und sich stark durch die Auto­ri­tät einer Per­son, in die­sem Fall des Leh­rers oder der Leh­re­rin, ange­spro­chen fühlt.

Atemreife

Zwi­schen dem 9. und 12. Lebens­jahr kommt es zu einer wei­te­ren Rei­fung des Gefühls­le­bens. Gefüh­le basie­ren auf allen rhyth­mi­schen Vor­gän­gen im mensch­li­chen Orga­nis­mus. Bei Freu­de beschleu­ni­gen sich Puls und Atmung; Ruhe und Gleich­gül­tig­keit ver­lang­sa­men den Herz­schlag und auch die Atem­fre­quenz. Hat das Kind etwas aus­ge­fres­sen und wird des­we­gen zur Rede gestellt, so steigt ihm unwill­kür­lich die Scham­rö­te ins Gesicht, Puls und Atmung beschleu­ni­gen sich, und schon wis­sen der Leh­rer respek­ti­ve die Leh­re­rin, dass etwas nicht mit rech­ten Din­gen zuge­gan­gen ist.
Unab­hän­gig davon erreicht die Atmung beim Kind mehr Tie­fe. Die Atem­be­we­gun­gen sind von der Bauch­at­mung zur rei­nen Brust­at­mung über­ge­gan­gen, und die Atem­zü­ge pro Minu­te haben das Mass erreicht, das auch bei den erwach­se­nen Men­schen vor­han­den ist, näm­lich 18 Atem­zü­ge pro Minu­te – daher die Bezeich­nung Atem­rei­fe bei Rudolf  Stei­ner.
18 Atem­zü­ge pro Minu­te ver­kör­pern eine beson­de­re Zahl, auf die er immer wie­der hin­weist, da sie gleich­be­deu­tend sind mit 25‘920 Atem­zü­gen in 24 Stun­den, was genau dem pla­to­ni­schen Wel­ten­jahr ent­spricht, in dem die Son­ne ihren Weg durch die 12 Tier­kreis­bil­der gemacht hat, um wie­der an ihren Aus­gangs­punkt zurück­zu­keh­ren.

Rubikon

In die­sem Alter, unge­fähr im 9., 10. und 11. Lebens­jahr, fühlt sich das Kind oft recht allein. Die kind­lich unbe­schwer­te Phan­ta­sie geht end­gül­tig ver­lo­ren, die Umge­bung bekommt immer mehr Rea­li­täts­wert. Unstim­mig­kei­ten unter den Men­schen wer­den sehr genau wahr­ge­nom­men, auch die Ver­eh­rung für den gelieb­ten Leh­rer ist nicht mehr unkri­tisch. Plötz­lich kann zudem Angst im Dun­keln auf­tre­ten, weil das Ver­trau­en in die Welt nicht mehr unum­stöss­lich ist. Ja, es erwacht sogar erst­ma­lig der Gedan­ke an den Tod und die End­lich­keit der Din­ge. Car­los Ruiz Zafon lässt dazu in sei­nem Roman „Der Schat­ten des Win­des“ einen 10-jäh­ri­gen Jun­gen Fol­gen­des sagen:
„In mei­ner Welt war der Tod eine anony­me, unver­ständ­li­che Hand, ein Hau­sie­rer, der Müt­ter, Bett­ler oder neun­zig­jäh­ri­ge Nach­barn mit sich nahm, als wäre es eine Lot­te­rie der Höl­le. Die Vor­stel­lung, der Tod könn­te neben mir ein­her­ge­hen, mit einem Men­schen­ge­sicht und hass­ver­gif­te­tem Her­zen, in Uni­form oder Man­tel, er könn­te vor dem Kino Schlan­ge ste­hen, in Knei­pen lachen oder vor­mit­tags mit sei­nen Kin­dern im Ciu­da­de­la-Park spa­zie­ren gehen, um nach­mit­tags jeman­den in den Ver­lie­sen des Mont­juic oder in einem namen­lo­sen Mas­sen­grab ohne Zere­mo­ni­ell ver­schwin­den zu las­sen, das woll­te mir nicht in den Kopf. Als ich immer wei­ter dar­über nach­grü­bel­te, kam ich auf den Gedan­ken, viel­leicht sei die­se Welt, die ich für selbst­ver­ständ­lich nahm, nichts wei­ter als eine Kulis­se aus Papp­ma­ché.“
Fra­gen nach der eige­nen Iden­ti­tät tre­ten auf, die soweit füh­ren, dass das Kind sich fragt, ob es über­haupt von sei­nen leib­li­chen Eltern abstam­me oder von irgend­wo­her kom­me. Man kann das auch als einen Wen­de­punkt in der Ent­wick­lung des Kin­des anse­hen, an dem es sich aus sei­ner ver­trau­ten Umge­bung lang­sam löst und aus der Fami­li­en­bio­gra­phie gewis­ser­mas­sen her­aus­tritt in die öffent­li­che Gesell­schaft. Die­ser Wen­de­punkt wird in der anthro­po­so­phi­schen Erzie­hungs­kunst bei Rudolf Stei­ner auch als Rubi­kon bezeich­net.

Geschlechtsreife

Nach die­ser Kri­se in der Mit­te der Kind­heit geht es mit mäch­ti­gen Ent­wick­lungs­schrit­ten auf die Geschlechts­rei­fe zu und damit hin zur fast voll­stän­di­gen kör­per­li­chen und bio­lo­gi­schen Rei­fe des Kin­des. Es kommt zur Aus­bil­dung der Geschlechts­or­ga­ne und der Geschlechts­funk­tio­nen. Durch das Wach­sen des Kehl­kopfs tritt beim Jun­gen der Stimm­bruch auf, beim Mäd­chen kommt es zur ers­ten Regel­blu­tung.
Die Kör­per­for­men ver­än­dern sich: Im Kör­per­bau des Kna­ben tritt mehr Mus­kel­pro­fil her­vor, die Schul­tern wer­den brei­ter, das Becken bleibt schmal. Arme und Bei­ne wer­den gegen­über dem Rumpf plötz­lich unver­hält­nis­mäs­sig lang, was die berühm­ten schlak­si­gen Bewe­gun­gen beim Jugend­li­chen her­vor­ruft. Beim Mäd­chen blei­ben die Kör­per­for­men run­der, das Becken wird brei­ter, die Brüs­te bil­den sich aus, was zur typi­schen weib­li­chen Gestalt führt.
Dies sind ein­schnei­den­de Ver­än­de­run­gen im jugend­li­chen Orga­nis­mus, die vor allem das Stoff­wech­sel-Glied­mas­sen­sys­tem als Trä­ger der Wil­lens­im­pul­se betref­fen. Die Jugend­li­chen haben in die­ser Zeit einen star­ken Bewe­gungs­drang; sie trei­ben viel Sport und gehen mit Mut­pro­ben oft bis an die Gren­ze des Mög­li­chen.

Aufgewühltes Seelenleben

Das See­len­le­ben gerät durch die­se Ver­än­de­run­gen zunächst in ein Ungleich­ge­wicht. Anti­pa­thie und Sym­pa­thie, Freu­de und Leid, Mut und Angst gera­ten durch­ein­an­der, so dass der Jugend­li­che sich nur noch durch Pro­vo­ka­ti­on und Ver­stel­lung sei­nes inners­ten Kerns dar­über hin­weg­ret­ten kann. Den­noch bedeu­tet dies kei­ne so exis­ten­zi­el­le Kri­se, wie sie um das 9., 10., 11. Lebens­jahr her­um beschrie­ben wur­de, aber sie ist Aus­druck der Ori­en­tie­rungs­lo­sig­keit, die das See­len­le­ben ziem­lich durch­ein­an­der­ge­bracht hat.
Durch Erleb­nis­päd­ago­gik, das Ken­nen­ler­nen von frem­den Völ­kern und Kul­tu­ren las­sen sich Gren­zen erwei­tern und über­schrei­ten. Dies ist nicht nur für die Jugend­li­chen eine Hil­fe zur Über­win­dung ihrer See­len­kämp­fe, son­dern bie­tet auch für die Umge­bung, die Eltern und Leh­rer eine Mög­lich­keit, sich mit die­sem Alter aus­ein­an­der­zu­set­zen und ein Ver­ständ­nis dafür zu ent­wi­ckeln. Schliess­lich haben wir doch alle die­se Zeit eben­falls ein­mal durch­ge­macht.

Kinderkrankheiten sind selten geworden

Wenn man auf die kör­per­li­chen Krank­hei­ten in der Ent­wick­lungs­pe­ri­ode zwi­schen dem 7. und 14. Lebens­jahr schaut, dann kann man fest­stel­len, dass die­se Zeit eine der ge­sündesten der Kind­heit, ja viel­leicht sogar in der gan­zen Bio­gra­phie ist. Durch die heu­ti­ge Impf­si­tua­ti­on kommt es in die­sem Alter eigent­lich nur noch in sel­te­nen Fäl­len zu Kin­der­krank­hei­ten, in dem sie nor­ma­ler­wei­se den Haupt­an­teil an Krank­hei­ten aus­ge­macht haben.
Der Durch­gang durch die Sin­nes­rei­fung kann zwi­schen dem 7. und 9. Lebens­jahr zu Auf­merk­sam­keits­stö­run­gen, Unru­he oder auch Schlaf­pro­ble­men füh­ren. Meist wird dies auf das äus­se­re Umfeld oder Schwie­rig­kei­ten in der Schu­le zurück­ge­führt, auf Leh­rer, Klas­sen­ka­me­ra­den, Geschwis­ter, Eltern etc. Dabei sind sol­che Stö­run­gen Aus­druck der Sin­nes­rei­fung und des see­li­schen Umbruchs, ver­bun­den mit einer Unsi­cher­heit in Bezug auf die frü­her so gewohn­te Umge­bung. Ver­ständ­nis und Nach­sicht dem Kind gegen­über hel­fen dabei mehr als Zurecht­wei­sun­gen oder eine Erwar­tungs­hal­tung, die nur zu einer wei­te­ren Ver­un­si­che­rung füh­ren.

Altersspezifische Gesundheitsstörungen

In der soge­nann­ten „Mit­te der Kind­heit“ sind dann mehr Stö­run­gen vor­han­den, die mit der Aus­rei­fung des rhyth­mi­schen Sys­tems zu tun haben, wie Herz­klop­fen, Herz­ra­sen oder sogar Herz­schmer­zen. In Zusam­men­hang damit kom­men zudem Kol­laps­zu­stän­de und Schwin­de­lerschei­nun­gen vor. Die Mäd­chen sind davon häu­fi­ger betrof­fen. Durch unter­stüt­zen­de Kreis­lauf­me­di­ka­men­te, viel Bewe­gung an der fri­schen Luft sowie eine aus­rei­chen­de Ernäh­rung vor allem am Mor­gen vor Schul­be­ginn kön­nen sol­che Zustän­de leicht beho­ben wer­den, zumal sie nur ein Durch­gangs­sta­di­um wäh­rend der Zeit eines sehr star­ken kör­per­li­chen Wachs­tums sind.
Geht es dann mehr auf die „Erden­rei­fe“ zu, so sind wie­der­um Krank­hei­ten des Stoff­wech­sel-Glied­mas­sen­sys­tems vor­herr­schend. Nicht sel­ten ist es, dass gera­de in die­sem Alter Blind­darm­ent­zün­dun­gen auf­tre­ten, aber auch dif­fu­se Bauch­schmer­zen, die sich nicht rich­tig ein­ord­nen las­sen. Dies kann bis hin zu Ernäh­rungs­pro­ble­men füh­ren, was im schlimms­ten Fall und im Zusam­men­hang mit über­stei­ger­ten Schön­heits­idea­len sogar in eine Buli­mie, eine Ess­brech-Sucht, oder in eine Mager­sucht über­ge­hen kann. Auch hier sind wie­der­um die Mäd­chen häu­fi­ger betrof­fen. Bei­des, sowohl eine Buli­mie als auch eine Mager­sucht, bedarf drin­gend der Behand­lung durch kom­pe­ten­te Fach­per­so­nen, wobei auch die psy­chi­schen und sozia­len Hin­ter­grün­de mit ein­be­zo­gen wer­den müs­sen.
Aber auch Gelenk- und Kno­chen­be­schwer­den kön­nen auf­tau­chen. Sie haben mit dem star­ken Wachs­tum der Kno­chen vor allem bei Kna­ben zu tun. Die­ses kann bis­wei­len sogar in ein nicht mehr gesteu­er­tes Kno­chen­wachs­tum aus­ar­ten, was im äus­sers­ten Fall zu einem Kno­chen­tu­mor füh­ren kann, der für die­ses Alter typisch ist. Meist tre­ten jedoch Schmer­zen an den Ansatz­punk­ten der Seh­nen zu den Kno­chen auf (Mor­bus Osgood Schlat­ter), die durch ein ver­stärk­tes Wachs­tum der Kno­chen gegen­über den Seh­nen her­vor­ge­ru­fen wer­den. Eine vor­über­ge­hen­de Scho­nung der Gelen­ke bringt dabei schnell Abhil­fe.

Auf zu neuen Ufern

Mit dem Abschluss der Erden­rei­fe wird auch Abschied genom­men von der Kind­heit, in der so viel Grund­le­gen­des geschaf­fen wor­den ist. Nun wird der wei­te­re Weg mehr oder weni­ger sel­ber in die Hand genom­men – mit all den Gefah­ren, aber auch Chan­cen, die damit ver­bun­den sind.

Autoren15

Fach­per­son Erd­mut J. Schä­del
Arbeits­schwer­punk­te Fach­arzt für Kin­der- und Jugend­me­di­zin. Heil­päd­ago­ge. Seit 1986 als Kin­der­arzt an der Ita Weg­man Kli­nik tätig. Neben All­ge­mein­päd­ia­trie lie­gen die Schwer­punk­te haupt­säch­lich in Ent­wick­lungs­päd­ia­trie und Heil­päd­ago­gik. Seit 1995 Schul- und Heim­arzt am Son­nen­hof Arle­sheim. Umfang­rei­che Lehr-, Vor­trags- und publi­zis­ti­sche Tätig­keit.
Kon­takt erdmut.schaedel@wegmanklinik.ch

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