
Biographiearbeit auf der Basis der Anthroposophie gibt es seit den 70er Jahren. In der Lukas Klinik gehört sie zu den vielfältigen Therapien, die bei der Behandlung von Menschen mit Tumorerkrankungen angewandt werden. Verena Jäschke sprach mit den drei Biographiearbeiterinnen der Lukas Klinik Silke Helwig, Cäcilia Weiligmann und Anita Charton.
Biographiearbeit ist Arbeit am eigenen Ich
Das Ziel ist immer die Zukunft“, erklärt mir Cäcilia Weiligmann. „Das Vergangene dient dazu, sich selbst kennen zu lernen, dient der Erkenntnis. Aber es geht um die Frage: Was will als Nächstes kommen?“ Und Anita Charton ergänzt: „Wie kann ich es lernen, das Leben bewusster zu gestalten?“
In der Biographiearbeit schaut man wie von aussen mit Interesse auf das Leben, ganz als objektiver Betrachter. Anita Charton beschreibt es so: „Im Leben schwimmt man mitten im Fluss, in der Biographiearbeit stellt man sich ans Ufer und schaut zu, betrachtet den Fluss genauer.“ Cäcilia Weiligmann unterscheidet, „Ich habe Gedanken, Gefühle, aber ich bin sie nicht. Und so habe ich immer die Möglichkeit, etwas zu ändern in meinem Leben.“
Am Anfang in der Biographiearbeit steht die Frage nach dem, was der Patient wünscht. Da steht meist gar nicht das Gespräch über die Krebserkrankung zuoberst, auch nicht die Angst vor der Krankheit. Sondern es geht oft gleich eine Schicht tiefer, wird existenziell. Das liegt auch im Wesen der Krebserkrankung. Krebspatienten kommen sehr schnell an existenzielle Fragen.
Biographiearbeit ist echtes Interesse am anderen
In der Regel haben die Patienten zunächst ein grosses Bedürfnis zu reden, sich mitzuteilen. Dadurch, dass die Biographiearbeit von echtem Interesse am anderen geprägt ist, entsteht meist schnell ein Vertrauensverhältnis. Die einladende, interessierte Haltung der Biographiearbeiterin schafft den Raum, der es dem Patienten ermöglicht, sich zu öffnen und, durch Fragen angeregt, auf sein Leben zu schauen. Das gelingt nicht immer in erster Instanz. Manchmal muss erst einmal die Möglichkeit geschaffen werden, den Blick wieder zu öffnen. Wenn jemand neu mit der Diagnose Krebs konfrontiert ist, dann überschattet sie zunächst alles. Dann geht es darum, dass die Diagnose ein Teil des Lebens wird.
Die Arbeit an der Biographie geht jeweils nur so weit, wie es der Patient zulässt, wie weit es ihm auch möglich ist, über sich und sein Leben zu sprechen. Es geht nie darum, das Leben des Patienten, seine Empfindungen und sein Verhalten zu analysieren und zu deuten. Es geht auch nicht darum, sein Leben und sein Verhalten zu bewerten. Es gibt kein Drängen und Bohren von Seiten der Biographiearbeiterin. Silke Helwig bestätigt: „Die Gespräche haben keinen direktiven Charakter, sie weisen nicht den Weg, aber sie helfen dem Patienten zur eigenen Erkenntnis. Biographiearbeit ist von der Geste her ein Begleiten.“
Das Leben ergreifen
Heute haben die Menschen zunehmend ein inneres Bedürfnis, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. So fragen sie viel schneller: ‚Was kann ich selbst dazu tun, dass ich gesund werde?’ Die Patienten spüren nach, was ihnen wichtig ist, suchen nach Antworten, wie es für sie weitergehen kann. Sie wollen ihr eigenes Leben auch mit der Krankheit lebenswert machen. Daran können sie gesunden. Die Patienten erahnen, dass Geburt und Tod nicht Anfang und Ende sind. Sie fragen nach dem Sinn des Lebens, nach dem Sinn von Krankheit, nach dem Sinn ihrer Krankheit. Es leben zwei Sehnsüchte in jedem Menschen: Er sehnt sich nach Sinn und nach Begegnung. In der Biographiearbeit wirkt das urchristliche Motiv der Begegnung, der Heilungsimpuls in der wirklichen Begegnung.
Der eigene Lebenslauf als Schulungsweg
In der Biographiearbeit wird der Patient angeregt, selbst aktiv zu werden, aus der Passivität herauszukommen, seine „Opfer-Rolle“ zu verlassen und sein Leben selbst zu bestimmen. Silke Helwig beschreibt mir den Zusammenhang von Krebserkrankung und Freiheit. „Die Krebserkrankung ist eine Karikatur der Freiheit: hier werden alle physischen Gesetze ignoriert, die Krebszelle nimmt sich radikal jede Freiheit und wächst. Um zu gesunden, muss die Freiheit im Seelisch- Geistigen ergriffen werden. Der Mensch muss seine individuelle Freiheit ergreifen, natürlich im sozialen Zusammenhang.“
Cäcilia Weiligmann weist mich darauf hin, „Bereits das Betrachten der eigenen Biographie ist eine erste Ich-Handlung und somit eine Tat in Freiheit.“ Sie schaut mit dem Patienten, was er bereits an Möglichkeiten mitbringt, welche Ressourcen darauf warten, entdeckt zu werden. Und Anita Charton ergänzt: „Bei Beginn der Arbeit öffnet sich der Raum, Themen zeigen sich, Verhaltensmuster. Wenn wir alles angeschaut haben, überlegen wir, was der nächste Schritt ist. Der Patient wird selbst aktiv, ich rege ihn mit meinen Fragen an.“ Wichtig ist allen dreien, dass der Patient, wenn er nach Hause geht, weiss, was er tun kann. Aber er weiss es aus sich heraus. Sie helfen ihm ‚nur’, neue Wege zu finden.
Veränderungen anregen
Im Gespräch mit dem Patienten ergeben sich oft Übungen, die er als ‚Hausaufgaben’ erhält. Manchmal wird der Patient angeregt, in der Natur auf bestimmte Dinge zu achten und so seine Wahrnehmung zu schulen. Oftmals geht es aber auch um ganz alltägliche Dinge, um Situationen, in denen er sein bisheriges Verhalten in kleinen Schritten ändern kann. So kann durchaus einmal eine Aufgabe lauten: „Gehen Sie jeden Tag 10 Minuten halb so schnell wie sonst.“ In der heute meist viel zu hektischen Zeit, in der wir uns dauernd selbst zu überholen scheinen, ist eine solche Aufgabe leichter gesagt als getan und zeigt, wie viel Gesundungspotenzial für viele schon in einer bewussten Gestaltung unseres Alltags liegt. Wir müssen viel bewusster mit unserem Denken, Fühlen und Wollen umgehen lernen. Für manchen Patienten ist es schon ein grosser Fortschritt, auf die eigenen Bedürfnisse zu achten, diese zu artikulieren und auch durchzusetzen. Das lässt sich in einer neuen Umgebung während des Klinikaufenthalts gut üben. Wenn sich der Patient traut, morgens zu läuten, weil die Marmelade fehlt, kann das bereits ein bedeutender Schritt in Richtung Veränderung bedeuten. Das gleiche gilt, wenn der Patient einem Mitpatienten deutlich macht, dass ihn das häufige laute Telefonieren sehr stört.
Biographiearbeit heisst fragen
Auf die Begegnungsqualität im Gespräch kommt es an, darauf, dass der Patient im Gespräch wahrgenommen wird. Die drei Gesprächspartnerinnen bestätigen mir: Es braucht eine fundierte Ausbildung in Biographiearbeit und ein grosses Mass an persönlicher Schulung, d.h. eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben, mit den eigenen Werten, eine innere Verpflichtung zur Arbeit an der eigenen Weiterentwicklung als Mensch. Das Wissen um biographische Gesetzmässigkeiten bildet gepaart mit einem geschulten Einfühlungsvermögen die Substanz für das Führen von biographischen Gesprächen. Die Art, wie die drei Frauen Fragen stellen und welche innere Haltung sie gegenüber ihrer eigenen und der Biographie eines anderen Menschen einnehmen, ist wichtig. Die Fragen bringen den Prozess meist in Gang. Und richtig fragen will gelernt sein.
Anita Charton erklärt mir, „Zuhören ist Hinhören: Wo spüre ich Impulse, wo spüre ich Energie, in dem, was mir der Patient erzählt?“ Dann kann sie dem Patienten entsprechende Fragen stellen. Fragen, die in ihm leben, ihm aber nicht bewusst sind und die ihn durch das Aussprechen erlösen. „So habe ich das aber noch nie gesehen“, äussert sich der Patient dann oft. Und Cäcilia Weiligmann ergänzt: „In unserer Arbeit geht es nicht um Antworten, sondern darum, die richtigen Fragen zu stellen.“
„Wenn man die Arbeit mit einem Patienten beginnt, übernimmt man Verantwortung.“ Das ist Silke Helwig sehr wichtig.
Und sie erläutert, dass das auch eine Zeitfrage ist. „Haben wir eine oder vier Wochen zur Verfügung? Dann liegt es in meiner Verantwortung, das im Bewusstsein zu haben. Denn ich kann nicht nur den Raum öffnen, sondern muss auch helfen, diesen Raum wieder zu füllen.“ Denn das Ziel ist, dass der Patient Boden unter die Füsse bekommt und nicht im Zwischenraum hängen bleibt. Aber sie betont auch, dass es schon in einem Gespräch möglich ist, den Patienten erste Schritte sehen zu lassen, so dass er zumindest ahnt, was er tun kann.
Begeisterung für das eigene Leben
Cäcilia Weiligmann erzählt mir: „In der Biographiearbeit entsteht für den Patienten oft eine Begeisterung für das eigene Leben. Er erlebt plötzlich die Fülle des eigenen Lebens und kann sich daran richtig freuen.“ Erlebbar ist für die Biographiearbeiterin oft, dass es der Patient durch die Gespräche schafft, sich selbst annehmen zu können. Dadurch, dass sie gemeinsam interessiert auf die Biographie des Patienten schauen und eben nicht werten, nicht deuten, lernt er, die Geschehnisse zu akzeptieren. Im offenen Raum, den die Biographiearbeiterinnen schaffen, sprechen zu können, hat bereits einen heilenden Aspekt. Die Begriffe Gesundheit, Gesundung und Heilung werden in der Biographiearbeit neu definiert. So kann die Arbeit am eigenen Lebensweg auch dahin führen, dass ein sterbender Patient sagt ‚Ich habe mich noch nie so gesund gefühlt.’
Silke Helwig schaut gemeinsam mit dem Patienten auf das Leben, nicht auf gesund oder krank, nicht auf gut oder schlecht, sondern darauf, was ihn fördert oder hemmt. „Darin liegt konkretes Gesundungspotenzial.“, ist sie überzeugt. Sich selbst annehmen, das Leben wert schätzen – das ist für alle Menschen gleichermassen wichtig. Im Gespräch wird mir klar, dass Biographiearbeit für jeden eine Möglichkeit sein kann, etwas für seine Gesundheit zu tun.
Fachperson | Cäcilia Weiligmann |
Arbeitsschwerpunkte | Sie ist seit 5 Jahren als Biographiearbeiterin in der Lukas Klinik tätig. |
Kontakt | c.weiligmann@lukasklinik.ch |
Fachperson | Anita Charton |
Arbeitsschwerpunkte | Sie ist seit 25 Jahren Psychotherapeutin/ Biographieberaterin; bildet aus, gibt Seminare und arbeitet Teilzeit in der Lukas Klinik und in eigener Praxis. |
Kontakt | a.charton@lukasklinik.ch |
Fachperson | Silke Helwig |
Arbeitsschwerpunkte | Sie ist seit 23 Jahren Ärztin an der Lukas Klinik mit Schwerpunkt Psychoonkologie und Biographiearbeit |
Kontakt | s.helwig@lukasklinik.ch |