
Seit drei Jahren ist Dr. med. Holger Antropius als Allgemeinmediziner im Ita Wegman Ambulatorium Basel tätig. Viele Patientinnen und Patienten hat er in dieser Zeit in seiner Sprechstunde gesehen, jede und jeder von ihnen mit einer ganz individuellen Geschichte. Jede dieser Biographien will aus sich heraus verstanden werden, in Krisen und auch in alltäglichen Situationen. Dafür benötigt der Arzt immer wieder den Blick vom Detail auf das Ganze und vom Ganzen auf das Detail.
Ein Hausarzt ist für die meisten Patientinnen und Patienten die erste Anlaufstelle bei gesundheitlichen Problemen. Für die Menschen, die in einem Hausarztmodell versichert sind, ist das ohnehin ein Muss und verhilft ihnen meist zu günstigeren Prämien bei ihrer Krankenkasse. Doch von grossem Nutzen ist es auch für die anderen, denn kein Arzt kennt die Krankengeschichte so gut und umfassend wie der Hausarzt.
Wenn der Bauch schmerzt
Magen-Darm-Erkrankungen sind ein häufiger Grund für einen Arztbesuch. Das erlebe ich auch in meiner Sprechstunde: Die entzündliche Erkrankung des Magens (Gastritis) oder des Dickdarms (Colitis), aber auch der Reizdarm, eine der häufigsten Erkrankungen des Magen-Darm-Trakts, veranlassen den Betroffenen, Hilfe beim Hausarzt zu suchen. Ich habe schon etliche Patientinnen und Patienten mit solchen Magen-Darm-Erkrankungen behandelt. Entsprechend viele Erfahrungen liegen vor – und dennoch habe ich kein „Standardrezept“, da jeder Mensch einzigartig ist. Ein Reizdarm ist eben nicht gleich Reizdarm. Die Menschen reagieren unterschiedlich auf Medikamente, sprechen verschieden auf die Therapien an. Insofern kommt es mir immer auf den gemeinsamen Weg von Patient und Arzt an.
Gründliches Kennenlernen
Herr Meyer*, ein 53-jähriger Lehrer, kommt neu in meine Sprechstunde, nachdem sein bisheriger Hausarzt die Praxis altershalber aufgegeben hat. Über die Vorbefunde habe ich mir schon im Vorfeld des ersten Termins einen Überblick verschafft. Ich lasse mir von Herrn Meyer die Beschwerden beschreiben. Aktuell klagt er über meist diffuse Verdauungsbeschwerden, die sich auf die Magengegend konzentrieren. Ich befrage ihn ausführlich zu seinen Ernährungsgewohnheiten und Vorlieben sowie zu seinen Erfahrungen über den Zusammenhang zwischen den Beschwerden und einzelnen Lebensmitteln. Die diagnostischen Untersuchungen von Blut und Stuhl erfolgen in unserem Praxislabor. Die Ultraschalluntersuchung des Bauchraumes übernimmt mein Kollege in unserer Praxis. Um organische Ursachen definitiv auszuschliessen, veranlasse ich eine Magenspiegelung. Da Herr Meyer keine Präferenz für den Ort einer solchen Untersuchung hat, schicke ich ihn in die Fachambulanz der Klinik Arlesheim. Das ist deshalb von Vorteil, weil meine Zusammenarbeit mit den dortigen Fachärzten bereits gut etabliert ist.
Was stärkt die Verdauung?
Die Antwort liegt in der richtigen Bitternis. Der Mensch sucht heute meist Zuflucht im Süssen, doch Hilfe für die Verdauung finden wir im Bitteren. Die Bitterkeit sorgt für Regsamkeit des Verdauungssystems, schützt vor Trägheit, regt feinste Regulationen an und wirkt so ausgleichend. Darüber tausche ich mich mit Herrn Meyer intensiv aus. Er ist einverstanden, bereits vor den Ergebnissen der Diagnostik mit der Einnahme eines pflanzlichen Heilmittels zu beginnen. Ich addiere nicht die einzelnen Symptome und behandele diese, sondern versuche, den gesamten Prozess als Bild zu erfassen und erkenne intuitiv und aus Erfahrung, welche Pflanze der Patient zur Heilung benötigt.
Herrn Meyer verordne ich Wermut, eine Pflanze, die sich bei Magenbeschwerden besonders bewährt. Da er auch von gelegentlichen Krämpfen berichtet, soll er abends vor dem Schlafengehen seinen Bauch mit Kamillenöl einreiben. Ich empfehle ihm, zusätzlich ein warmes Tuch oder eine Wärmflasche aufzulegen.
Der Hausarzt als Übersetzer
Nach der Magenspiegelung kommt Herr Meyer erneut zu mir in die Sprechstunde. Der Gastroenterologe hat ihm bereits die ersten Befunde erläutert. Ich habe oft erlebt, dass Patienten nicht alles verstehen, was ihnen der Facharzt mitteilt. Auch Herr Meyer ist froh, dass ich ihm in Ruhe noch einmal alles erklären kann. Diese Nachbesprechung erfolgt auf der Basis meines Gesprächs mit dem Facharzt. Eine Diagnose braucht ein gutes Fundament, und so setze ich nun die verschiedenen Details zusammen: die Befunde aus dem Labor und vom Ultraschall, die Beurteilung durch den Facharzt und seine Behandlungsempfehlung, die Ausführungen des Patienten sowie meine Wahrnehmung vom Patienten. All das zusammen ergibt ein Bild, das ich mit Herrn Meyer ausführlich bespreche. Gemeinsam beraten wir den weiteren Weg.
Mir ist es wichtig, ein Gesamtbild zu erstellen. In aller Regel hat jeder Facharzt einen kleinen Ausschnitt. Zu berücksichtigen ist auch, dass ein Facharzt, der auch die Anthroposophische Medizin kennt, mir andere Empfehlungen gibt. Ich will die verschiedenen Teile zusammenbringen, so dass das geistige Band sichtbar wird. Das schätzen die Patientinnen und Patienten, da sie merken, dass sie als ganzer Mensch gesehen werden. Ein Patient formulierte das mal so: „Ich habe mich bisher noch nie als Mensch in meiner Krankheit wahrgenommen gefühlt“.
Zeit zum Gesunden
Manchmal haben die Patienten schon einen langen Weg hinter sich und haben bereits die Nebenwirkungen bestimmter Medikamente erlebt. Insofern wägen wir die Art der Behandlung jeweils gut ab. Bei Herrn Meyer haben die Untersuchungen das Vorliegen einer Gastritis gezeigt. Ich verabrede mit ihm, dass er weiterhin pflanzliche Medikamente einnimmt. Wir geben uns eine Zeit von zwei bis drei Monaten dafür. Je nach Rückmeldung von Herrn Meyer über die Wirksamkeit der Medikamente gehen wir dann weiter oder passen die Richtung an. Aus dem Gespräch mit ihm habe ich von seinen Schwierigkeiten in seinem Beruf erfahren. Der damit verbundene Stress wirkt sich natürlich nicht förderlich aus, und so empfehle ich ihm Heileurythmie, um den Stoffwechsel zu stärken.
Gemeinsam für den Patienten da sein
Diese Bewegungstherapie kann Herr Meyer ebenfalls hier im Ambulatorium wahrnehmen. Da wir mit den Therapeuten Tür an Tür arbeiten, können wir uns – mit dem Einverständnis des Patienten – über ihn austauschen und zusammenarbeiten. Das ist für den Patienten ein Gewinn, da von verschiedenen Seiten auf seine Erkrankung geschaut wird. In einem ersten Schritt verordne ich Herrn Meyer die üblichen neun ambulanten Behandlungen. Da er die dort erarbeiteten Übungen auch zu Hause regelmässig macht, sind in den nächsten Wochen erste Ergebnisse zu erwarten.
Zudem verordne ich Herrn Meyer Bauchwickel mit Oxalis, die er mehrmals die Woche selbständig zu Hause anlegen soll. Der Sauerklee wirkt krampflösend, was sich bei Magen-Darm-Problemen empfiehlt, die psychosomatisch verstärkt sind bzw. wenn sich störende seelische Einflüsse auf die Verdauung auswirken. Ich bitte unsere Praxisassistentin, ihm das Anlegen eines solchen Wickels zu zeigen.
Akute Hilfe beim Hausarzt
Herr Meyer ist nun zunächst gut versorgt. Doch sollten sich seine Beschwerden verschlimmern, wird er sich umgehend in der Praxis melden. Wie jeder Arzt im Ambulatorium habe ich eine tägliche Akutsprechstunde, sodass ich kurzfristig einen Termin vergeben kann, wenn Herr Meyer ein akutes Problem hat. Auch ein Hausbesuch ist möglich, wenn es ihm nicht möglich ist zu kommen.
Medikamente, welche die Symptome unterdrücken, nutze ich manchmal als „Notbremse“, damit ein Patient nicht zu viel leidet und zum Beispiel ein Wochenende übersteht, ohne dass er auf den Notfall muss. Aber auch dabei schaue ich, was er zusätzlich längerfristig einnehmen kann, damit seine Magenschleimhaut gestärkt wird. Gerade in solchen akuten Fällen versuche ich, eine Brücke zu schlagen zwischen den schulmedizinischen Medikamenten und ergänzenden Heilmitteln, die über die reine Symptombehandlung hinausgehen. Das Notfallkonzept kennt auch Herr Meyer, was ihm Sicherheit gibt.
Für Zeichen wach sein
Ich habe Patienten, die mehrfach im Jahr mit Infekten in meine Sprechstunde kommen. Da werde ich hellhörig, da das ein wichtiges Erkennungsmerkmal für eine tiefergehende Erschöpfung sein kann. Die funktionellen Kräfte sind dann deutlich vermindert. Je früher wir gegensteuern, desto besser sind die Aussichten, dass der Patient gar nicht erst in ein völliges Burnout kommt. Mit der Zeit habe ich viel Erfahrung darin erlangt, Frühzeichen wie dauernde Müdigkeit, Kraftlosigkeit, chronische Schlafstörungen zu erkennen. Es braucht die Fähigkeit, die Zeichen zu lesen und zu interpretieren. Die normale Diagnostik ergibt in der Regel bei Erschöpfungspatienten nur wenig Messbares. Das Erfragen der wichtigsten Grundfunktionen wie Schlaf, Wärmehaushalt und Verdauung sind oft schon wegweisend. Auch die körperliche Untersuchung mit dem Klopfen der Reflexe und das Beachten der Hautzeichnung (Dermographismus) erzählen dem erfahrenen Arzt, wo die Schwäche liegt.
Gerade bei Erschöpfungskrankheiten spielt die psychosomatische Seite eine grosse Rolle. Ich erhebe zu den körperlichen Symptomen eine zweite Anamnese, was abhängig davon ist, wie offen der Patient für diese Seite seines Lebens ist und wie stark eventuell Ängste und Sorgen ihn beeinflussen. Manche, auch weit zurückliegende Ereignisse können die Seele des Menschen so stark belasten, dass sich dies im Physischen manifestiert.
Akzente setzen
Ich sehe uns Hausärzte als Generalisten, die den Patienten zu den richtigen Fachärzten „lotsen“, wenn es notwendig ist, und auch als Therapeuten, denen die Anthroposophische Medizin vielfältige Möglichkeiten an die Hand gibt, zusätzlich zu den bekannten Wegen mit Heilmitteln auf der Basis von Metallen, Pflanzen und Tieren zu heilen.
Gerade bei sogenannten Erschöpfungserkrankungen benötigen wir oft eine Ausschlussdiagnostik, denn nicht wenige Erkrankungen gehen mit den gleichen Zeichen wie Müdigkeit und Energielosigkeit einher, zum Beispiel Tumorerkrankungen. Das Ita Wegman Ambulatorium hat eine ganze Reihe an diagnostischen Möglichkeiten; für weiterführende Untersuchungen arbeiten wir mit umliegenden Spitälern zusammen oder schicken die Patientinnen und Patienten in die Klinik nach Arlesheim.
Erschöpfungserkrankungen sind heute ein Stück weit „gesellschaftsfähig“ geworden, man kann sich sogar eine „Erschöpfungs-App“ herunterladen. Da kann jeder feststellen, wo er steht. Ich denke, es ist dennoch eine Kunst und eine Aufgabe, eine wirkliche Erschöpfung zu erkennen. Doch genau so wichtig ist, wie dem Patienten konkret geholfen werden kann, damit er mit der Situation umgehen lernt. In der Sprechstunde besprechen wir sowohl den Beitrag, den die Ernährung an seinem Befinden hat, als auch mögliche pflanzliche Heilmittel zur Unterstützung seiner Konstitution sowie die Gestaltung der Arbeitswelt und die Strukturierung seines Alltags. Für den betroffenen Patienten ist es wichtig zu klären, wo er Hilfe bekommen kann.
Der moderne mündige Patient
Es gibt durchaus Patienten, die quasi mit einer Diagnose in die Sprechstunde kommen. Ich schätze es, wenn sie sich schon mit ihrer Gesundheit und ihren Symptomen beschäftigt haben. Ich mag die aufgeklärten Patienten, auch wenn es manchmal Chaos oder eine lebendige Auseinandersetzung bringt, wenn sie mit einer „Diagnose“ aus dem Netz kommen. Wir können zusammen da ansetzen, wo jemand steht und was er mitbringt. Ich versuche, mit ihm das Chaos zu entwirren und in einem konstruktiven Gespräch eine neue Linie zu erarbeiten. Die modernen Informationsmöglichkeiten sind eine Realität. Ich schaue mit dem Patienten darauf, welche möglichen Erklärungen die Google-Suche vielleicht nicht gezeigt hat. Es bedeutet einen erhöhten Aufklärungsbedarf, um diese Art Halbwissen zu heben, doch es macht mir auch Spass. Es ist immer wieder eine Herausforderung, in eine gemeinsame Sprache zu finden, die Vielseitigkeit zu zeigen und auch da in ein Gleichgewicht zu kommen.
*Name des Patienten geändert
Fachperson |
Dr. med. Holger Antropius |
Arbeitsschwerpunkte | Facharzt für Allgemeinmedizin (D), Praktischer Arzt (CH), Fähigkeitsausweis Anthroposophische Medizin VAOAS, Studium in Heidelberg und Mannheim, viele Jahre in eigener Praxis in Stuttgart gearbeitet. Seit 2017 im Ita Wegman Ambulatorium. |
Kontakt | info@wegmanambulatorium.ch |