Mein Kind schläft nicht

Dies ist eine sehr häu­fig gehör­te Kla­ge von Müt­tern, die mit Erschöp­fung auf die Fami­li­en­sta­ti­on kom­men. Hin­ter die­ser ein­fa­chen Aus­sa­ge ver­birgt sich oft ein gros­ses, viel­fäl­ti­ges Pro­blem und eine tie­fe Ver­zweif­lung. Die Schlaf­stö­rung des Kin­des und die Erschöp­fung der Mut­ter ste­hen meist in einer direk­ten Wech­sel­be­zie­hung sowohl in der Ent­ste­hung als auch in der The­ra­pie. Wie kön­nen wir hier hel­fen?

Die ers­ten Tage der Hos­pi­ta­li­sa­ti­on die­nen einer ers­ten Ent­las­tung der Mut­ter und Beru­hi­gung der meist ange­spann­ten Situa­ti­on einer­seits. Ande­rer­seits geht es dar­um, die Pro­ble­ma­tik ken­nen zu ler­nen und zu erfas­sen. Mit Hil­fe eines 24-Stun­den­pro­to­kolls in den ers­ten 3 — 4 Tagen erfas­sen wir den Rhyth­mus im Tages­ab­lauf des Kin­des: Wann erhält es sei­ne Mahl­zei­ten? Wann schläft es, wie lan­ge, wie regel­mäs­sig? Wie sind das Ein­schla­fen und das Durch­schla­fen? Gibt es Schrei­pha­sen – wann, wie lan­ge? Die Aus­sa­ge­kraft eines sol­chen Pro­to­kolls ist sehr hoch und die Basis der wei­te­ren Mass­nah­men. In die­sen ers­ten paar Tagen ändern wir noch nichts, son­dern unter­stüt­zen nur dort, wo es not­wen­dig ist.

Erwor­be­ne Ver­hal­tens­mus­ter

Es ist dann eine ent­schei­den­de Fra­ge, ob das pro­ble­ma­ti­sche Schlaf­ver­hal­ten des Kin­des nur für uns auf der Sta­ti­on ein „Pro­blem“ dar­stellt oder wirk­lich auch für die Mut­ter. Denn eine Schlaf­stö­rung defi­niert sich so, dass das Schlaf­ver­hal­ten des Kin­des für die Eltern ein Pro­blem dar­stellt. Sie äus­sert sich in der Regel durch Schwie­rig­kei­ten beim Zubett­ge­hen, häu­fi­ges nächt­li­ches Erwa­chen oder dadurch, dass das Kind nicht in sei­nem Bett schläft. Es gibt kei­ne all­ge­mein­gül­ti­ge Regel, was nor­mal ist und was ein gestör­tes Schlaf­ver­hal­ten dar­stellt. Dies defi­niert jeder für sich indi­vi­du­ell anders und ist sehr varia­bel.
Die zwei­te Fra­ge ist, ob die Mut­ter etwas dar­an ändern möch­te. Die meis­ten Schlaf­stö­run­gen bei Kin­dern sind nicht ein­fach eine Geis­sel des Schick­sals, son­dern aner­zo­ge­ne Ver­hal­tens­wei­sen und durch die Per­sön­lich­keit des Kin­des und das Umfeld erwor­be­ne Gewohn­hei­ten. Das Kind hat sein Schlaf­ver­hal­ten durch die Reak­ti­on der Eltern erlernt, wobei es Kin­der gibt, die einer­seits durch ihre Per­sön­lich­keit schon eine Nei­gung dazu haben und ande­rer­seits auch schnel­ler Gewohn­hei­ten erler­nen. Dies erken­nen zu müs­sen, ist meist recht ernüch­ternd. Aber gera­de in die­ser Erkennt­nis liegt auch die Chan­ce zur Bes­se­rung, denn ein Kind, das schlech­te Gewohn­hei­ten ange­nom­men hat, wird auch schnell gute Gewohn­hei­ten erler­nen.

Den Tages­ab­lauf genau beob­ach­ten

Es ist für die Mut­ter in der Regel beru­hi­gend zu wis­sen, dass sie mit die­sem Pro­blem nicht allein steht. Die Schlaf­stö­run­gen zäh­len bei 25 — 30 % aller Kin­der zu den häu­figs­ten Ver­hal­tens­stö­run­gen im Säug­lings- und Klein­kind­al­ter. 20 % aller Kin­der mit 12 Mona­ten schla­fen noch nicht durch. Da sich das Schlaf­ver­hal­ten und Gewohn­hei­ten phy­sio­lo­gi­scher­wei­se in den ers­ten 4 — 6 Mona­ten ent­wi­ckeln, macht es auch kei­nen Sinn, vor dem 6. Lebens­mo­nat mit ver­hal­tens­the­ra­peu­ti­schen Mass­nah­men zu begin­nen.
Doch wir kön­nen das Kind in den ers­ten 6 Mona­ten in der Ent­wick­lung eines guten Schla­fes unter­stüt­zen. Dabei ist ein rhyth­mi­scher, ver­läss­li­cher Tages­ab­lauf die abso­lut wich­tigs­te Basis. Regel­mäs­si­ge Mahl­zei­ten zu fest­ge­leg­ten Zei­ten sowie fes­te, ver­bind­li­che Schlaf­zei­ten mit einem ein­fa­chen, aber im wesent­li­chen gleich­blei­ben­den Ein­schlafri­tu­al sind gros­se Hil­fen für das Kind, aber auch für die Eltern.
Mit Hil­fe des 24-Stun­den­pro­to­kolls kön­nen wir erken­nen, inwie­weit ein sol­cher Rhyth­mus schon vor­han­den ist. Wir sehen zudem die Abhän­gig­keit von Ein­schlaf- und Auf­wach­zeit. Die Gesamt­heit der Schlaf­dau­er über 24 Stun­den ist in jedem Alter über län­ge­re Zeit kon­stant, d. h. je län­ger ein Kind über Mit­tag schläft, des­to weni­ger Schlaf braucht es über die Nacht. Je spä­ter ein Kind am Abend ein­schläft, des­to län­ger schläft es am Mor­gen. Je frü­her am Abend die Ein­schlaf­zeit, des­to frü­her wird das Kind am Mor­gen erwa­chen. All die­se Grös­sen sind indi­vi­du­ell und für das ein­zel­ne Kind nur über das 24-Stun­den­pro­to­koll erfass­bar. Dies bespre­che ich mit der Mut­ter zu Beginn einer The­ra­pie anhand des Pro­to­kolls ihres Kin­des.

Gewohn­hei­ten ändern

Bedingt durch das nor­ma­le Schlaf­mus­ter, das sich in den ers­ten 4 — 6 Lebens­mo­na­ten ent­wi­ckelt, schla­fen wir nicht ein­fach ein und dann durch. Son­dern in jeder Nacht durch­lau­fen wir mehr­mals ver­schie­de­ne Schlaf­zy­klen mit ver­schie­den tie­fen Schlaf­pha­sen. In jeder Nacht erwa­chen wir mehr­mals kurz, schla­fen aber gleich wie­der ein. So ist eigent­lich nicht das Erwa­chen in der Nacht ein Pro­blem, son­dern dass das Kind nicht wie­der allein ein­schla­fen kann. Das sieht man meist bei Kin­dern, die schon am Abend nicht ohne Hil­fe der Eltern ein­schla­fen kön­nen.
Sind die­se theo­re­ti­schen Grund­la­gen erläu­tert, wird mit­ein­an­der bespro­chen, was wir errei­chen wol­len und wie. Es geht ja um eine Ände­rung einer Gewohn­heit, die meist mit einem sub­jek­ti­ven Gewinn ver­bun­den ist. Wir wis­sen aus eige­ner Erfah­rung, wie schwie­rig es ist, Gewohn­tes zu ändern. Das ist beim Kind nicht anders. Jedes nor­ma­le Kind wird sei­ne Gewohn­heit nicht frei­wil­lig und ohne Wider­stand ändern und schon gar nicht auf­grund unse­rer ver­nünf­ti­gen Erklä­run­gen, die es noch nicht ver­ste­hen kann. Also hat es nur einen Sinn, ein Ziel und Mass­nah­men ins Auge zu fas­sen, zu denen die Mut­ter oder Eltern „Ja“ sagen kön­nen und die sie auch durch­füh­ren wol­len. Wir von der Fami­li­en­sta­ti­on kön­nen dann die Mut­ter in die­sem Pro­zess unter­stüt­zen. Das sich nun schon mehr­fach bewähr­te Prin­zip beruht dar­auf, dass wir zuerst einen Rhyth­mus in den gan­zen Tages­ab­lauf brin­gen. Das Kind soll ler­nen, immer unge­fähr zur sel­ben Zeit in sei­nem Bett ohne Hil­fe der Mut­ter ein­zu­schla­fen. Erleich­tert wird dies durch ein kla­res, ein­fa­ches, immer gleich ablau­fen­des Ein­schlafri­tu­al. Als wei­te­re Ein­schlaf­hil­fen kom­men nur Gegen­stän­de in Fra­ge, die das Kind in der Nacht allein errei­chen kann.
Wie gesagt, wird das nor­ma­le Kind in der Regel auf die­se Ände­rung mit aus­gie­bi­gem Pro­test­wei­nen reagie­ren. Wir las­sen das Kind dann nicht ein­fach schrei­en, son­dern geben ihm Zuwen­dung und Ver­trau­en durch regel­mäs­si­ges Hin­ein­ge­hen zu fest­ge­leg­ten Zei­ten, neh­men das Kind aber nicht aus dem Bett. Das Kind bekommt so zwar Zuwen­dung, aber nicht genau die, die es haben möch­te.

Neu­es Selbst­ver­trau­en für alle

Unse­re Erfah­rung auf der Sta­ti­on zeigt: Wenn das Kind die Lie­be und den fes­ten Wil­len der Mut­ter spürt, stellt es sich innert weni­ger Aben­de auf die neue Situa­ti­on ein. Die Schrei­pha­sen neh­men rasch ab und sind innert Tagen ver­nach­läs­sig­bar. Die gan­ze Situa­ti­on ver­bes­sert sich. Das Kind schläft in der Fol­ge nicht nur bes­ser und in der Regel durch, es ist tags­über auch zufrie­de­ner. Den Müt­tern tut die Ände­rung sicht­lich gut. Sie haben mehr Schlaf, mehr Zeit am Abend, ein zufrie­de­ne­res Kind und zudem haben sie durch ihren Wil­len und ihr Enga­ge­ment eine Ände­rung einer vor­her aus­weg­los schei­nen­den Situa­ti­on gefun­den. Dies stärkt das Selbst­ver­trau­en.
Aus unse­rer Erfah­rung nimmt das Kind durch die­se ver­hal­tens­the­ra­peu­ti­sche Mass­nah­me kei­nen Scha­den, wenn wir sie aus Lie­be und in Lie­be durch­füh­ren, das Kind nicht ein­fach allein schrei­en las­sen, son­dern ihm Zuwen­dung geben, aber eine etwas ande­re.
Unser Vor­ge­hen lehnt sich an das Buch „Jedes Kind kann schla­fen ler­nen“ und hat die anthro­po­so­phi­sche Men­schen­kun­de und Päd­ago­gik zur Grund­la­ge.

Autoren90

Fach­per­son Dr. med.
Bern­hard Win­gei­er
Arbeits­schwer­punk­te Fach­arzt für Kin­der- und Jugend­me­di­zin,
Aus­bil­dung zum Fach­arzt in der Kin­der­kli­nik in Bern.
Seit 1998 als Kin­der­arzt in der Ita Weg­man
Kli­nik tätig. Seit 1999 in der Sta­ti­ons­lei­tung der Fami­li­en­sta­ti­on. Betreu­ung der Kin­der auf der Fami­li­en­sta­ti­on und Unter­su­chun­gen der Neu­ge­bo­re­nen. Ambu­lan­te Sprech­stun­den­tä­tig­keit für das gan­ze Gebiet der Kin­der­heil­kun­de, im
Spe­zi­el­len auch für anthro­po­so­phi­sche The­ra­pie bei all­er­gi­schen Erkran­kun­gen wie
Asth­ma und Neu­ro­der­mi­tis sowie onko­lo­gi­sche Erkran­kun­gen.
Kon­takt Sekre­ta­ri­at Familien­station
Tel. 061 705 72 72

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