Mehr als nur Sodbrennen

Mehr als nur Sodbrennen

Viel­fäl­ti­ge Beschwer­den im Magen-Darm-Bereich füh­ren die Betrof­fe­nen zunächst zum Haus­arzt, anschlies­send häu­fig in eine gas­tro­en­te­ro­lo­gi­sche Sprech­stun­de. Prof. Mark Fox, Lei­ter des Funk­ti­ons­la­bors an der Kli­nik Arle­sheim, schil­dert eini­ge Bei­spie­le aus sei­ner Pra­xis.

Tan­ja Ger­ber*, eine 18-jäh­ri­ge Stu­den­tin, erbricht nach einer Aus­lands­rei­se immer wie­der. Sie geht zunächst zu ihrer Haus­ärz­tin. In den Mona­ten davor hat sie die­se bereits
wegen Migrä­ne, Schwin­del­an­fäl­len und Blä­hun­gen mit Stuhl­un­re­gel­mäs­sig­kei­ten auf­ge­sucht. Die kör­per­li­che Unter­su­chung, ihre Labor­wer­te und auch ein Ultra­schall des Bau­ches zei­gen kei­ne Auf­fäl­lig­kei­ten. Die Haus­ärz­tin ver­ord­net ihr einen Pro­to­nen­pum­pen­hem­mer (einen Säu­re­blo­cker für den Magen). Die Beschwer­den bes­sern sich dadurch nur unwe­sent­lich. Bereits nach weni­gen Tagen setzt Frau Ger­ber die Medi­ka­men­te wie­der ab, weil sie Durch­fall bekommt. Die­ser ver­schwin­det nach dem Abset­zen des Medi­ka­ments, so dass von einer Arz­nei­mit­tel­ne­ben­wir­kung aus­zu­ge­hen ist.

Umfang­rei­che­re Dia­gnos­tik ist not­wen­dig

Frau Ger­ber erhält nun von ihrer Haus­ärz­tin eine Über­wei­sung für eine wei­te­re Abklä­rung bei einem Gas­tro­en­te­ro­lo­gen. Sie kommt in mei­ne Sprech­stun­de und erläu­tert mir aus­führ­lich ihre Beschwer­den. Eine Magen­spie­ge­lung (Gastro­sko­pie) ergibt kei­ne Anzei­chen einer Reflux­öso­pha­gi­tis, das ist eine Form des Reflu­xes, eines Rück­flus­ses von Magen­säu­re in die Spei­se­röh­re. Auch eine Hia­tus­her­nie (ein Zwerch­fell­durch­bruch) und eine Gas­tri­tis (eine Ent­zün­dung der Magen­schleim­haut) kön­nen so aus­ge­schlos­sen wer­den. Das ist posi­tiv, ändert aber nichts an den star­ken Beschwer­den der Pati­en­tin.
Ich füh­re zur wei­te­ren Abklä­rung phy­sio­lo­gi­sche Unter­su­chun­gen durch. Die hoch­auf­lö­sen­de Mano­me­trie (Druck­mes­sung) zeigt eine hyper­ten­si­ve Moti­li­täts­stö­rung in Form eines Nuss­kna­cker-Öso­pha­gus, das heisst, die Mus­keln im unte­ren Bereich der Spei­se­röh­re zie­hen sich krampf­ar­tig zusam­men. Wäh­rend der 24-Stun­den pH-Impe­danz Metrie (Mes­sung der Säu­re­wer­te) kann ich einen sta­tis­tisch signi­fi­kan­ten Zusam­men­hang zwi­schen den Reflu­xer­eig­nis­sen und den Beschwer­den von Frau Ger­ber doku­men­tie­ren, obwohl die Säu­re­ex­po­si­ti­on der Spei­se­röh­re im Norm­be­reich liegt. Bei die­ser Kon­stel­la­ti­on spre­chen wir dia­gnos­tisch von einer Reflux-Hyper­sen­si­bi­li­tät nach den aktu­el­len Kri­te­ri­en für funk­tio­nel­le Darm­er­kran­kun­gen ROM IV. Die­se Kri­te­ri­en wur­den an einer inter­na­tio­na­len wis­sen­schaft­li­chen Kon­fe­renz in Rom ver­ab­schie­det.

Mög­li­che The­ra­pi­en

Ich habe Frau Ger­ber für zwei Wochen mit einem alter­na­ti­ven Säu­re­blo­cker behan­delt. Auch die­ses Medi­ka­ment ver­trägt sie nicht. Mit zusätz­li­chen pflanz­li­chen Trop­fen, emp­foh­len bei für einen Reiz­darm typi­schen Unter­bauch­be­schwer­den, ver­bes­sern sich ihre Sym­pto­me. Wir bespre­chen wei­te­re Mass­nah­men zur Behand­lung ihrer nicht auf die bis­he­ri­gen The­ra­pi­en anspre­chen­den Beschwer­den, inklu­si­ve eines sehr nied­rig dosier­ten Anti­de­pres­si­vums. Die­ses wird von Frau Ger­ber aller­dings nicht mehr benö­tigt, da nach ihren erfolg­reich absol­vier­ten Abschluss­prü­fun­gen die Sym­pto­me nicht mehr pro­ble­ma­tisch sind.

Ein­fluss der Psy­che auf den Kör­per

Das Bei­spiel von Frau Ger­ber zeigt: Die gas­tro-öso­pha­gea­le Reflu­xer­kran­kung kann auch eine funk­tio­nel­le Magen­darm-Erkran­kung sein. Ein wich­ti­ges Merk­mal ist in einem sol­chen Fall eine erhöh­te vis­ze­ra­le Sen­si­bi­li­tät der Ein­ge­wei­de. Die­se hängt mit phy­si­schen und psy­cho­so­ma­ti­schen (Stress-) Fak­to­ren zusam­men. Pati­en­ten mit Reflux-Hyper­sen­si­bi­li­tät haben auch eine hohe Anfäl­lig­keit für ande­re funk­tio­nel­le Schmerz­syn­dro­me. Die Behand­lung wird oft durch Neben­wir­kun­gen kom­pli­ziert.
Bei Frau Ger­ber ver­schwin­den die Beschwer­den nach dem Bestehen der Abschluss­prü­fung. Das zeigt nach­träg­lich den psy­cho­so­ma­ti­schen Aspekt sehr deut­lich. Im Fall einer chro­ni­schen Belas­tungs­si­tua­ti­on wegen nicht ver­schwin­den­den Stres­so­ren käme dann auch eine psy­cho­so­ma­ti­sche Behand­lung in Betracht.

Hus­ten kann zum Gas­tro­en­te­ro­lo­gen füh­ren

Hans Mül­ler*, 54 Jah­re, kommt zu sei­nem Haus­arzt mit einem chro­ni­schen Hus­ten, der kei­ne Ursa­che in einer Lun­gen- oder HNO-Erkran­kung hat. Er raucht nicht, trinkt nur mäs­sig Alko­hol, neigt aber zu Über­ge­wicht. Sein BMI (Body Mass Index) ist deut­lich über dem Norm­be­reich. Sein Hus­ten ist beson­ders unan­ge­nehm nach dem Essen. Eine sorg­fäl­ti­ge Ana­mne­se ergibt gele­gent­li­ches Sod­bren­nen und sau­res Auf­stos­sen, beson­ders bei kör­per­li­cher Akti­vi­tät und ab und zu in der Nacht. Die­se Reflux­be­schwer­den sind jedoch nie behan­delt wor­den. Frü­he­re Unter­su­chun­gen durch den Pneu­mo­lo­gen und HNO-Arzt haben kein Asth­ma bron­chia­le oder ande­re Erkran­kun­gen nach­wei­sen kön­nen.
Herr Mül­ler wird zu mir in die gas­tro­en­te­ro­lo­gi­sche Sprech­stun­de über­wie­sen. Eine Magen­spie­ge­lung ergibt kei­ne Anzei­chen einer Reflux­öso­pha­gi­tis (einer Rei­zung der Schleim­haut der Spei­se­röh­re), zeigt jedoch eine klei­ne Hia­tus­her­nie. Herr Mül­ler wird des­halb für wei­te­re zwei Wochen mit einem Magen­schutz behan­delt. Die Beschwer­den bes­sern sich dadurch jedoch nur unwe­sent­lich.

Unty­pi­sche Sym­pto­me ver­lan­gen ande­re The­ra­pie­an­sät­ze

Zur wei­te­ren Dia­gno­se­stel­lung füh­ren wir eine hoch­auf­lö­sen­de Mano­me­trie (Druck­mes­sung) und eine 24-Stun­den pH-Impe­danz Metrie durch, eine Mes­sung der Säu­re­kon­zen­tra­ti­on über 24 Stun­den. Die­se Unter­su­chun­gen zei­gen eine mecha­nisch insuf­fi­zi­en­te Reflux­bar­rie­re, eine Säu­re­ex­po­si­ti­on der Spei­se­röh­re und einen sta­tis­tisch signi­fi­kan­ten Zusam­men­hang zwi­schen den Reflu­xer­eig­nis­sen und den Beschwer­den von Herrn Mül­ler inklu­si­ve sei­nes Hus­tens.
Das macht ein­mal mehr deut­lich, dass nicht alle Pati­en­ten mit einer Reflu­xer­kran­kung das typi­sche Sod­bren­nen und sau­re Auf­stos­sen zei­gen. Eine laryn­go-pha­ryn­gea­le Reflu­xer­kran­kung, eine Rück­fluss­erkran­kung im Bereich des Kehl­kop­fes und des Rachens, ist eine übli­che Ursa­che bei chro­ni­schem Hus­ten, ver­än­der­ter Stim­me und wei­te­ren unspe­zi­fi­schen Beschwer­den.
Die Unter­su­chung mit­tels 24-Std pH-Impe­danz­mes­sung zeigt im Fall von Herrn Mül­ler, dass der Hus­ten durch einen nicht-sau­ren Reflux ver­ur­sacht wird. Des­halb besteht der the­ra­peu­ti­sche Ansatz in der Gabe eines Algi­nat­prä­pa­ra­tes (z.B. Gavis­con) zusätz­lich zum Säu­re­blo­cker, der auf der Mahl­zeit eine Schutz­schicht bil­det, die den Rück­fluss des Magen­in­halts ver­hin­dert. Zudem kön­nen phy­sio­the­ra­peu­tisch geführ­te Atem­übun­gen oder Sprach­the­ra­pie zur Stär­kung des Zwerch­fells und der Okklu­si­on der Spei­se­röh­re ein­ge­setzt wer­den. Lang­fris­tig wür­de eine Gewichts­re­du­zie­rung die mecha­ni­schen Vor­aus­set­zun­gen vor allem im Lie­gen ver­bes­sern, indem der intraab­do­mi­nel­le Druck redu­ziert wird (der atem­ab­hän­gi­ge Druck in der Bauch­höh­le). Die The­ra­pie zielt damit mehr auf eine geän­der­te Lebens­wei­se und die Stär­kung der gesun­den kör­per­li­chen Funk­tio­nen als auf das Unter­drü­cken der Säu­re­bil­dung.

Ein jun­ge Mut­ter mit Ver­stop­fung

Die 32-jäh­ri­ge Ursu­la Mai­er* stellt sich ihrem Haus­arzt vor. Seit der Geburt ihres Kin­des vor vier Jah­ren lei­det sie wie­der­holt an Bauch­schmer­zen und Ver­stop­fung. Nach der Geburt hat Frau Mai­er vor­über­ge­hend unge­woll­ten Stuhl­ver­lust. Dies löst sich nach weni­gen Wochen von selbst auf, wird jedoch durch Ver­stop­fung mit har­tem Stuhl, Schwie­rig­kei­ten beim Stuhl­gang und dem Gefühl der unvoll­stän­di­gen Ent­lee­rung ersetzt. Ver­gleich­ba­re Harn­pro­ble­me sind nicht vor­han­den.
Die kör­per­li­che Unter­su­chung, Labor­wer­te und ein Bauch-Ultra­schall erge­ben kei­ne Hin­wei­se. Eine Kolo­sko­pie (Darm­spie­ge­lung) weni­ge Mona­te zuvor zeigt eben­falls kei­ne Auf­fäl­lig­kei­ten und gibt auch kei­ne Hin­wei­se auf Hämor­rhoi­den oder ande­re End­dar­mer­kran­kun­gen. Frau Mai­er erhält ver­schie­de­ne abfüh­ren­de Mit­tel, doch auch bei wei­cher Stuhl­kon­sis­tenz bleibt die Schwie­rig­keit bestehen, auf die Toi­let­te zu gehen.

Wei­ter­füh­ren­de Dia­gnos­tik

Der Haus­arzt über­weist Frau Mai­er in mei­ne gas­tro­en­te­ro­lo­gi­sche Sprech­stun­de. Auf­grund der andau­ern­den, bis­her nicht the­ra­pier­ba­ren Beschwer­den füh­ren wir einen ano­rek­ta­len Ultra­schall und eine hoch­auf­lö­sen­de Mano­me­trie, eine Mes­sung der Mus­kel­funk­ti­on, durch. Die Ana­to­mie des Becken­bo­dens, des Rek­t­ums und des Anal­ka­nals zeigt sich ohne Befund. Die Nar­be des Damm­schnitts bei der Geburt ist gut ver­heilt. Der Ruhe­druck und auch die will­kür­li­che Kon­trak­ti­on des Schliess­mus­kels sind eben­falls erhal­ten.
Doch Frau Mai­er ist nicht in der Lage, abdo­mi­na­len Press­druck im Unter­leib zu erzeu­gen. Wäh­rend des Stuhl­gangs fin­det jedoch eine „para­do­xe Kon­trak­ti­on“ des Schliess­mus­kels statt. Das bezeich­nen wir als „dys­syn­er­ge Defä­ka­ti­on“ (schlecht koor­di­nier­ten Stuhl­gang), frü­her auch als „Anis­mus“ oder „ana­le Reten­ti­on“ bezeich­net. Die­se dys­syn­er­ge Defä­ka­ti­on ist eine übli­che Ursa­che der Ver­stop­fung bzw. Stuhl­ent­lee­rungs­stö­rung.

Hilf­rei­ches Becken­bo­den­trai­ning

Die para­do­xe Kon­trak­ti­on des ana­len Schliess­mus­kels wird nicht direkt durch eine Ver­let­zung des Becken­bo­dens ver­ur­sacht, son­dern ist eine häu­fi­ge will­kür­li­che Reak­ti­on beim schmerz­haf­ten Stuhl­gang. Solch ein Pro­blem kann nach der Geburt auf­tre­ten, wenn in den ers­ten Tagen der Stuhl­gang noch schmerz­haft ist und die Pati­en­tin­nen die­sen dann ver­mei­den, um Schmer­zen zu redu­zie­ren. Ver­stärkt wird die Anspan­nung häu­fig durch zusätz­li­che Angst vor unge­woll­tem Stuhl­gang.
Die­se bei­den Fak­to­ren füh­ren bei Frau Mai­er zu einer unbe­wuss­ten, aber will­kür­li­chen (und ver­ständ­li­chen) „para­do­xen Kon­trak­ti­on“ des ana­len Schliess­mus­kels wäh­rend des Stuhl­gangs. Das kann mit Abführ­mit­teln oder ande­ren Medi­ka­men­ten nicht effek­tiv behan­delt wer­den. Statt­des­sen hilft Bio­feed­back. Beim Bio­feed­back wer­den Kör­per­funk­tio­nen, die nor­ma­ler­wei­se unbe­wusst ablau­fen, mit Hil­fe von Sen­so­ren und elek­tro­ni­schen Gerä­ten gemes­sen und dem Pati­en­ten durch Bil­der und Töne rück­ge­mel­det.
Für Frau Mai­er wird es dadurch mög­lich, die Funk­ti­on ihres Becken­bo­dens zu visua­li­sie­ren. Ihre The­ra­peu­tin zeigt ihr die abnor­men Mus­kel­kon­trak­tio­nen. So kann Frau Mai­er wie­der ler­nen, die­se Kon­trak­tio­nen zu ver­mei­den. Inner­halb eines Monats nach Beginn der The­ra­pie ist das Pro­blem voll­stän­dig gelöst, und Frau Mai­er kann wie­der regel­mäs­sig und ohne die bis­he­ri­gen Schwie­rig­kei­ten zur Toi­let­te gehen.

* Name der Pati­en­tin / des Pati­en­ten geän­dert

Fach­per­son

Prof. Dr. med. Mark Fox

Arbeits­schwer­punk­te Medi­zin­stu­di­um in Oxford, Fach­arzt­aus­bil­dung Gas­tro­en­te­ro­lo­gie in Lon­don, Basel und Zürich, lang­jäh­ri­ge aka­de­mi­sche Tätig­keit in Not­ting­ham
und Zürich, Lei­ten­der Arzt am St. Cla­ra­spi­tal Basel, seit Anfang 2019 Lei­ter des neu­en Zen­trums für die Unter­su­chung und Behand­lung von Moti­li­täts­stö­run­gen und funk­tio­nel­len Erkran­kun­gen des Ver­dau­ungs­sys­tems an der Kli­nik Arle­sheim.
Kon­takt mark.fox@klinik-arlesheim.ch

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