Masern — Chance oder Risiko?

In regel­mäs­si­gen Abstän­den wird in den Medi­en über Masern berich­tet. Auch jetzt ist seit über einem Jahr von einer Masern­epi­de­mie die Rede. Vere­na Jäsch­ke befrag­te den Kin­der­arzt der Ita Weg­man Kli­nik, Dr. med. Bern­hard Win­gei­er, zu Chan­cen und Risi­ken die­ser beson­de­ren Kin­der­krank­heit.

Was macht Masern für vie­le Men­schen so erschre­ckend?

Einer­seits ist es die Krank­heit selbst: Die Kin­der und vor allem auch die Jugend­li­chen und Erwach­se­nen sind wäh­rend des Höhe­punkts wirk­lich krank. Das Fie­ber kann bis über 40 oder gar 41 Grad stei­gen. So hohes Fie­ber macht Angst. Die Eltern fra­gen sich, was ist noch tole­ra­bel, wann muss ich han­deln? Scha­det der­art hohes Fie­ber? Beson­ders aber die mög­li­chen Kom­pli­ka­tio­nen machen Angst. Hier sind vor allem die Masern­pneu­mo­nie (Lun­gen­ent­zün­dung) und Maser­nen­ce­pha­li­tis (Hirn­ent­zün­dung) zu nen­nen. Masern sind kei­ne harm­lo­se Erkran­kung. Man muss ihr mit Respekt begeg­nen. Aber die Aller­meis­ten über­ste­hen die Masern­er­kran­kung gut und wer­den wie­der voll­stän­dig gesund.

Wie hoch ist denn die Wahr­schein­lich­keit, dass Kom­pli­ka­tio­nen auf­tre­ten?

In der Schweiz gab es inner­halb des letz­ten Jah­res rund 1150 Masern­fäl­le. Davon muss­ten 82 Per­so­nen hos­pi­ta­li­siert wer­den, also rund 7%. Bei 52 Pati­en­ten (4.5% der Erkrank­ten) trat eine Lun­gen­ent­zün­dung auf, bei 6 Pati­en­ten (0.5%) eine Hirn­ent­zün­dung. In der Lite­ra­tur fin­det man unter­schied­li­che Anga­ben, die­se lie­gen aber in etwa in die­sem Rah­men. In sel­te­nen Fäl­len kön­nen Masern auch zum Tod füh­ren. Offi­zi­el­le Stel­len gehen in der Schweiz von einem Todes­fall bei 1000 Erkrank­ten aus, wahr­schein­lich ist die­se Zahl deut­lich zu hoch. Bis­her gab es in der Schweiz bei den aktu­el­len Masern­fäl­len zum Glück noch kei­nen Todes­fall. 60% der Todes­fäl­le sind durch eine bak­te­ri­el­le Lun­gen­ent­zün­dung bedingt.

In wel­chem Alter sind die Kom­pli­ka­tio­nen zu erwar­ten?

Kom­pli­ka­tio­nen sind in jedem Alter mög­lich. Die Kompli­kations­rate ist aber gene­rell bei Klein­kin­dern und Erwachs­en­en höher als bei Schul­kin­dern und Jugend­li­chen. Die bes­te Pro­gno­se haben sicher die Schul­kin­der. Dies ent­spricht dem typi­schen Alter für Masern vor der Impfära. Lei­der hat hier durch das Imp­fen eine Ver­schie­bung der Erkran­kung ins
Säug­lings- sowie ins Jugend- und Erwach­se­nen­al­ter statt­gefunden. Inter­es­san­ter­wei­se wird in den Berich­ten nur
all­ge­mein über Kom­pli­ka­tio­nen gespro­chen und nicht die Rela­ti­on zum Alter auf­ge­zeigt. Wich­tig ist auch, dass die Kom­pli­ka­ti­ons­ra­te stark mit dem sozio­öko­no­mi­schen Stand zusam­men­hängt.

Wor­an erkennt man, dass ein Kind die Masern hat?

Die Masern haben ein sehr typi­sches Erschei­nungs­bild. Unge­fähr 9 bis 12 Tage nach der Anste­ckung kommt es zu einem Vor­sta­di­um: Das Kind hat hohes Fie­ber, Schnup­fen und Hus­ten. Die Augen sind ent­zün­det und licht­emp­find­lich. An der Wan­gen­schleim­haut fin­den sich die masern­spe­zi­fi­schen weis­sen Fle­cken. Wäh­rend eines Tages etwa geht das Fie­ber kurz zurück. Dann folgt das Haupt­sta­di­um der Masern mit hohem bis sehr hohem Fie­ber. Der dun­kel­ro­te Aus­schlag beginnt im Gesicht und setzt sich über den gan­zen Kör­per fort. Hin­zu kommt ein läs­ti­ger, hart­nä­cki­ger Hus­ten. Die Kin­der sind wirk­lich krank. Die­ses Sta­di­um dau­ert etwa 4 Tage. Danach gehen die Sym­pto­me meist rasch zurück. Für mich ist es immer wie­der fas­zi­nie­rend zu erle­ben, wie schnell sich die Kin­der erho­len. Man hält es manch­mal fast nicht für mög­lich.

Was braucht ein Kind, das Masern hat?

Ein Masern­kind braucht eine für­sorg­li­che, lie­be­vol­le und zuver­sicht­li­che Betreu­ung. Ich glau­be, das ist das Wich­tigs­te. Die Eltern sol­len Respekt, aber kei­ne Angst vor die­ser Erkran­kung haben. Das Kind braucht viel Ruhe, einen abge­dun­kel­ten Raum und genü­gend zu trin­ken. Dane­ben kann man mit dif­fe­ren­zier­ten Heil­mit­teln die ver­schie­de­nen Sym­pto­me behan­deln.

Wie soll­te man auf das hohe Fie­ber reagie­ren?

Fie­ber gehört zu die­ser Krank­heit. Es gene­rell zu sen­ken, ist falsch. Man kann das Fie­ber aber etwas len­ken, indem man zum Bei­spiel dafür sorgt, dass kei­ne Stau­wär­me ent­steht und die über­schüs­si­ge Wär­me abge­ge­ben wer­den kann. Neben der adäqua­ten Bede­ckung kann das durch Waden­wi­ckel oder Ein­läu­fe gesche­hen. Bei sehr hohem Fie­ber und schlech­tem All­ge­mein­zu­stand darf das Fie­ber auch mal che­misch gesenkt wer­den. Es ist ein gros­ser Unter­schied, ob man so dif­fe­ren­ziert auf eine über­bor­den­de Situa­ti­on reagiert oder gene­rell das Fie­ber gar nicht zulässt. Lässt man die Krank­heit sich nicht rich­tig nach aus­sen ent­fal­ten, mit Fie­ber und Aus­schlag, erhöht sich das Kom­pli­ka­ti­ons­ri­si­ko.
Aber die­ses Zulas­sen und fei­ne Len­ken der Krank­heit muss man aus­hal­ten kön­nen. Ich habe gros­sen Respekt vor all den Eltern und vor allem Müt­tern, die dies mit ihren Kin­dern durch­ge­stan­den haben.

Wes­halb redet man von einer Epi­de­mie? Das klingt so bedroh­lich.

Von einer Epi­de­mie spricht man bei einem stark gehäuf­ten ört­lich und zeit­lich begrenz­ten Auf­tre­ten einer Erkran­kung. Ich habe das Gefühl, dass man ger­ne von einer Epi­de­mie spricht, weil es so bedroh­lich tönt. Schliess­lich will man auch dro­hen und Angst machen. Denn dies erhöht die Impf­be­reit­schaft. So wird die Masern­epi­de­mie zum Teil instru­men­ta­li­siert. Man berich­tet auch vor­nehm­lich über die Kom­pli­ka­tio­nen und nicht über die sehr vie­len guten Ver­läu­fe und Erfah­run­gen.

War­um spricht man bei Masern von einer Kin­der­krank­heit? Was macht sie so beson­ders?

Hier kommt es dar­auf an, ob man eine aus­schliess­lich natur­wis­sen­schaft­li­che Sicht­wei­se hat oder ob man neben der Natur­wis­sen­schaft auch ande­re Qua­li­tä­ten des Lebens aner­kennt. Natur­wis­sen­schaft­lich gese­hen ist eine Kin­der­krank­heit eine Krank­heit, die vor­nehm­lich im Kin­des­al­ter auf­tritt. Das Virus kommt so häu­fig vor und ist so anste­ckend, dass man schon im Kin­des­al­ter davon befal­len wird, die Krank­heit durch­ma­chen muss und dann immun ist. Das arme Kind ist das Opfer, das vom bösen Virus befal­len und krank wird.

Das sieht die Anthro­po­so­phi­sche Medi­zin anders?

In der anthro­po­so­phisch ori­en­tier­ten Medi­zin ver­ste­hen wir eine Kin­der­krank­heit als eine Ent­wick­lungs­krank­heit, mit der das Kind sei­nen von den Eltern ererb­ten Leib nach sei­nen Bedürf­nis­sen umge­stal­tet und sich zu eigen macht. Es ist, als wenn wir in eine neue Woh­nung ein­zie­hen und die­se dann nach unse­ren Bedürf­nis­sen umge­stal­ten. Dies ist ein akti­ver Pro­zess. Es ist klar, dass die­ser dann direkt etwas mit dem Kind zu tun hat. So ist das Kind nicht ein­fach das Opfer der Anste­ckung. Das Virus ist nur der Aus­lö­ser und das Kind wird im Krank­heits­pro­zess selbst aktiv. Wir kön­nen es in die­sem Pro­zess unter­stüt­zen. Die Krank­heits­sym­pto­me sind dann nicht mehr nur rei­ne Funk­ti­ons­stö­run­gen, son­dern kön­nen als akti­ve Funk­ti­ons­äus­se­run­gen des Orga­nis­mus im Sin­ne von Selbst­hei­lungs- und Ent­wick­lungs­pro­zes­sen ver­stan­den wer­den.

Wie kann ich mir das vor­stel­len?

Für mich wird bei den Masern in man­chen Fäl­len unmit­tel­bar erleb­bar, wie sich das Kind des Fie­bers bedient, um die alte Leib­lich­keit zu über­win­den. Es fin­det ein ganz inten­si­ver Stoff­wech­sel­pro­zess statt. Die Abstos­sung des Alten ist im Hus­ten, im Durch­fall und der fei­nen Schup­pung der Haut direkt erleb­bar. Ich habe jetzt man­che Kin­der und Jugend­li­che gese­hen, die nach durch­ge­mach­ten Masern ein­fach anders aus­se­hen, geform­ter, rei­fer. Eine Mut­ter hat mir vor kur­zem gesagt, dass sich ihre Kin­der ver­än­dert haben, mehr Form haben, durch­läs­si­ger, offe­ner sind. Sie haben ein Leuch­ten in den Augen, das vor­her nicht da war.

Wie sieht eine Masern­er­kran­kung aus, wenn man nicht mehr Kind ist?

Beson­ders inten­siv wird die­se Krank­heit von Jugend­li­chen durch­ge­macht. Hier habe ich immer wie­der die Dra­ma­tik die­ser Anstren­gung erlebt. Masern ist eine unheim­lich fas­zi­nie­ren­de und kraft­vol­le Krank­heit. Alle wer­den durch die Masern auf die Pro­be gestellt: der Pati­ent, der sich durch die Krank­heit arbei­tet, aber vor allem die Eltern und auch der betreu­en­de Arzt. So habe ich Masern immer wie­der als Grenz­erfah­rung erlebt. Auch vie­le Jugend­li­che, die ich beglei­ten konn­te, haben mir berich­tet, dass sie ihre Masern­erkrankung als Grenz­erfah­rung erlebt haben. Kei­ner hat sich beklagt.

Man kann gegen Masern imp­fen. Offen­bar tun das vie­le nicht. War­um?

Ja, man kann gegen Masern imp­fen. In der Schweiz sind etwa 20% der Klein­kin­der und 10% der Schul­ab­gän­ger nicht geimpft. Ob das nun viel oder wenig sind, ist Ansichts­sa­che. Es genügt auf jeden Fall, um in regel­mäs­si­gen Abstän­den Epi­de­mi­en aus­zu­lö­sen. Es gibt ver­schie­de­ne Grün­de nicht zu imp­fen. Die gene­rel­len Impf­geg­ner sind recht undif­fe­ren­ziert gegen jeg­li­che Art von Imp­fung und gehen davon aus, dass kei­ne Imp­fung nützt und nur scha­det. Eine ande­re Sicht­wei­se ist die, dass ich nicht imp­fe, weil ich im Durch­ma­chen einer Kin­der­krank­heit etwas Berech­tig­tes sehe, weil ich mich mit der Krank­heit und deren Risi­ken ausein­ander gesetzt habe, bewusst das Risi­ko tra­ge und das Ver­trau­en habe, dass mein Kind zu der gros­sen Mehr­zahl der Kin­der gehört, die kei­ne schwe­ren Kom­pli­ka­tio­nen oder blei­ben­den Scha­den davon­tra­gen. Ich bevor­zu­ge ganz klar die zwei­te Sicht­wei­se, weil sie die Vor­aus­set­zung schafft, mit der Krank­heit bes­ser umge­hen zu kön­nen.

Hält der Impf­schutz ein Leben lang an?

Der Impf­schutz der Masern­imp­fung kann als gut bezeich­net wer­den. Nur 2% der zwei­mal geimpf­ten Per­so­nen erkran­ken an Masern. Man geht heu­te davon aus, dass der Schutz nach zwei Imp­fun­gen ein Leben lang anhält. Aber ich fra­ge mich, ob dies in ein paar Jah­ren, wenn viel­leicht die Masern noch mehr zurück­ge­gan­gen sind und es nicht immer wie­der zu einer Auf­fri­schung durch Masern kommt, immer noch der Fall ist. Ein Pro­blem ist schon heu­te, dass geimpf­te Müt­ter ihren Säug­lin­gen nicht den glei­chen Nest­schutz gegen Masern bie­ten kön­nen wie die­je­ni­gen, die Masern noch selbst durch­ge­macht haben.

Raten Sie zur Imp­fung?

Ab der Puber­tät rate ich zur Imp­fung wegen des erhöh­ten Risi­kos und weil es dann eigent­lich auch kei­ne Kin­der­krank­heit in die­sem Sin­ne ist. Ansons­ten bin ich bei Impf­fra­gen kein Rat­ge­ber; von denen hat es schon genug. Ich bin für einen indi­vi­du­el­len, selbst­ver­ant­wor­te­ten Imp­f­ent­scheid. Ich sehe mei­ne Auf­ga­be dar­in, die Eltern über Chan­cen und Risi­ken der Krank­heit und Imp­fung sach­lich auf­zu­klä­ren. Dabei spie­len bei mir sicher auch noch ande­re Aspek­te eine Rol­le als bei der rei­nen Schul­me­di­zin. Ich schaue dar­auf, ob die Eltern frei ent­schei­den kön­nen, ob sie ver­ste­hen, was sie ent­schei­den und ob sie dies auch tra­gen kön­nen. Ich fin­de es gut, wenn Eltern die Masern als Kin­der­krank­heit ver­ste­hen und dar­um nicht imp­fen wol­len und kann sie dar­in unter­stüt­zen. Wenn ich spü­re, dass die Eltern Angst vor der Krank­heit haben und die Basis für das Durch­ge­hen durch die Erkran­kung nicht gege­ben ist, rate ich zur Imp­fung. Ich bewer­te jedoch den Imp­f­ent­scheid der Eltern nicht. Masern ber­gen ein gewis­ses Risi­ko. Ob es ein unver­ant­wort­li­ches Risi­ko ist, muss jeder per­sön­lich für sich beant­wor­ten.

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Fach­per­son Vere­na Jäsch­ke
Arbeits­schwer­punk­te Seit 1996 an der Ita Weg­man Kli­nik tätig, seit 2001 Redak­ti­on „Quin­te“, seit 2003 Beauf­trag­te für Kommuni­kation an der Ita Weg­man Kli­nik, zustän­dig für Öffent­lichkeitsarbeit und Mar­ke­ting.
Kon­takt verena.jaeschke@wegmanklinik.ch

 

 

 

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Fach­per­son Dr. med. Bern­hard Win­gei­er
Arbeits­schwer­punk­te Fach­arzt für Kin­der- und Jugend­me­di­zin, Aus­bil­dung zum Fach­arzt in der Kinder­klinik in Bern. Seit 1998 als Kin­der­arzt in der Ita Weg­man Kli­nik tätig. Seit 1999 in der Sta­ti­ons­lei­tung der Familien­station. Betreu­ung der Kin­der auf der Fami­li­en­sta­ti­on und Unter­su­chun­gen der Neuge­borenen. Ambu­lan­te Sprech­stun­den­tä­tig­keit für das gan­ze Gebiet der Kin­der­heil­kun­de, im Spe­zi­el­len auch für Anthro­po­so­phi­sche The­ra­pie bei all­er­gi­schen Erkran­kun­gen wie Asth­ma und Neu­ro­der­mi­tis sowie onko­lo­gi­sche Erkran­kun­gen.
Kon­takt +41 (0)61 705 72 72

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