
Der Mensch ist, was er isst. Diese Weisheit geht oft vergessen in einer Welt industriell hergestellter, verarbeiteter und zubereiteter Nahrungsmittel, die aufzunehmen und zu geniessen wir kaum mehr Zeit haben. Nahrungsmittel sind jedoch mehr als blosse Nährstofflieferanten. Sie sind Lebensmittel, Mittel zum Leben, die wir wieder neu schätzen lernen müssen. Das beginnt bei ihrem Anbau und endet beim bewussten Genuss mit allen Sinnen.
«‚Biologie’ stammt aus dem Griechischen und bedeutet wörtlich ‚Lehre vom Leben’. Doch die Frage, was ‚Leben’ sei, kann ein Naturwissenschaftler nicht beantworten. Vom Leben wissen wir nichts, sondern nur etwas von den lebenden Wesen, von deren Gestalt (Form) und deren Funktion (Tätigkeit) und dem Zusammenhang zwischen beiden.» Mit diesen Sätzen beginnt die Einführung in einen Biologie-Lehrgang der AKAD-Schule. Sie machen deutlich: Um das Leben zu verstehen, genügt unser einseitig nur materiell orientiertes Alltagsbewusstsein nicht. Es sind tiefere, ganzheitlichere Einsichten nötig.
Industrienahrung – schnell, bequem und gesund?
Mit der Frage «Was ist Leben?» ist man auch auf dem Gebiet der Ernährung konfrontiert – heute mehr denn je! Eine lebendige, gesunde Agrar- und Esskultur, die sich jahrtausendelang bewährt hat, musste der Industrialisierung und Technisierung in der Nahrungsmittelherstellung weichen. Sie beginnt bereits beim Anbau der modernen Nahrungsmittel: In der konventionellen Landwirtschaft wird hochgezüchtetes, gebeiztes, hybridisiertes oder neuerdings auch genmanipuliertes Saatgut verwendet. Dieses übergibt man einem Boden, der mit mineralischen Salzen – vor allem Stickstoff – auf ein hohes Nährstoffniveau eingestellt und gegen konkurrierendes Unkraut mit Herbiziden behandelt ist. Im Wachstumsverlauf folgen dann Fungizide und Insektizide und, um gegebenenfalls leichter ernten zu können, Totalherbizide zum ‚Todspritzen’ der Kulturen. Die langen Transportwege und die zentrale Einlagerung erfordern anschliessend eine umfangreiche Behandlung mit Konservierungsmitteln. All diese Eingriffe und ‚-zide = Tötungen’ sind dem Leben nicht förderlich. .
Auch bei der Verarbeitung und Zubereitung unserer Nahrungsmittel dominiert die Technik. Die Schlagworte hierzu lauten: Lebensmittelzusatzstoffe und Food Design, Fast und Novel Food, Convenience-Produkte – schnell und bequem, funktionelle Nahrungsmittel, Nahrungs-Ergänzungsmittel, Tiefkühlkost, Mikrowellen-Technik. Die Erforschung und Herstellung von ausgetüftelten, künstlich zusammengesetzten, mit Vitaminen und artfremden Aromen angereicherten Nahrungsmitteln verschlingen Milliardenbeträge und verteuern den Einkauf enorm.
In der EU werden jährlich 170.000 Tonnen industriell hergestellte Aromen verbraucht. Ein Gramm reicht, um ein Kilogramm Lebensmittel zu aromatisieren. In Amerika verschlang die Entwicklung eines ‚fettfreien Fettes’ 200 Millionen Dollar.
Die innere Qualität leidet
Nur: trotz all der scheinbar supergesunden, technisch klug ausgedachten Nahrungs-Angebote, die mit werbetechnischer Raffinesse angepriesen werden, nimmt der Gesundheitszustand der Bevölkerung alarmierende Formen an. So ist in der Schweiz jedes 5. Kind zu schwer, und 37 % der Gesamtbevölkerung sind übergewichtig. Die Kosten, die durch Übergewicht und Adipositas (Fettleibigkeit) sowie durch die damit verbundenen Krankheiten verursacht werden, beliefen sich im Jahr 2001 bereits auf 2.7 Milliarden Franken – in Deutschland sind es gar 75 Milliarden Euro. Die Frage liegt nahe: Geht bei den oben erwähnten Manipulationen nicht die innere Lebendigkeit der Lebensmittel – unserer Mittel zum Leben – verloren? Liegt der Grund dieser Entwicklung wohl darin, dass die wahren Lebenskräfte nicht mehr erkannt werden?
Sieht man den Verdauungsprozess einfach nur als Betriebs-Stoffwechsel an, so können die industriellen und technischen Errungenschaften im Ernährungssektor begrüsst werden. Sie sind zeitgemäss und genügen für die biochemischen Abläufe und zur Förderung eines gewöhnlichen Bewusstseins des Menschen. Wird aber der Leib des Menschen als Wohnstätte von Leben, Seele und Geist angeschaut, so werden andere Ansprüche an die Nahrungsqualität relevant. Die Mahlzeit ist nicht nur ein markenbezogener Ess- und Befriedigungsvorgang. Das Wort ‚Mahl’ kommt von Vermählung! Die innere Beschaffenheit, der Wert des Lebensmittels ermöglicht oder erschwert beim Menschen eine Verbindung mit den ursprünglichen Lebenskräften von Kosmos und Erde.
Gesunde Lebensmittel sind die beste Medizin
Der direkte Bezug zu Lebensmitteln ist heute den meisten Menschen nicht mehr vergönnt. Wer kann noch in der Atmosphäre des Kuhstalles das wohlige Gefühl beim Schlürfen von kuhwarmer Milch erleben? Welcher Schul- oder Arbeitsweg führt noch durch taufrisches Gras, wo man sich durch den Genuss von Sauerampfer wecken lassen kann? Wer hat noch die Möglichkeit, beim herbstlichen Laub-Zusammenrechen – wenn Nebelschleier die Landschaft verhüllen, die Finger klamm sind und der Magen knurrt – die Herbheit einer einsam liegen gelassenen Mostbirne zum Erlebnis werden zu lassen? Schon der erste Biss weckt neue Lebensgeister! Sorgfältig ausgewählte und zubereitete Lebensmittel sind der Schlüssel zu nachhaltiger Gesundheit. Pointiert ausgedrückt: Die Gesundheit und das Wohlergehen der Menschen und der Umwelt liegen in den Händen der Köche und Köchinnen und nicht in denen der Ärzte oder Ärztinnen. Die Kochkunst besteht gerade darin, die Nahrung so herzurichten, dass beim Verzehr etwas dabei erlebt wird, dass die Ich-Organisation aufgerufen wird, sich am Verdauungsprozess zu beteiligen. Das erreicht man am besten, wenn Geschmackssinn und Kauapparat durch vollwertige knusprige, knackige und würzige Gerichte angeregt werden.
Essen als besinnliches Spiel mit den Sinnen
Ein bewusstes Verhältnis zur Ernährung zu erüben hat Zukunfts-Charakter. Ob wohl eine tägliche Übung – ein Besinnungsmoment – an einem natürlichen Lebensmittel das Lebensgefühl nicht erheblich mehr erhöhen würde als alle industriell hergestellten Nahrungsmittel zusam-men? Sich jeden Tag einen Moment der Ruhe gönnen zur bewussten Schulung der Sinne ist wohltuend und erholsam, zum Beispiel einen Apfel ansehen: Farbe, Musterung, Grösse, Form; betasten: rauhe, glatte, schorfige Oberfläche, hart, fettig, wässrig; anhören beim Hineinbeissen: knackig, weich; beriechen: ist der Duft blumig, fruchtig, stumpf, nichtssagend oder verlockend? Schmecken: süss, sauer, mild, wässriger oder voller fruchtiger Geschmack? Damit ist viel gewonnen! Denn neben dem besinnlichen Moment in der Hektik des Alltags wird da-durch der Verdauungsprozess in idealster Weise vorbereitet. Am «besinnlichen Spiel mit den Sinnen» freuen sich auch die inneren menschlichen Organe wie Leber, Galle, Milz, Nieren, Herz und Lungen. Das Kontakt-Aufnehmen über die Sinne heisst, sich auseinandersetzen mit der Biografie eines Lebensmittels. Denn durch die tägliche Ernährung verbindet sich der Mensch in intimster und intensivster Weise mit den Erdenverhältnissen und – meistens unbewusst, aber dadurch nicht weniger real – mit dem Kräftezusammenhang des ganzen Universums. Ernährung ist nur zum Teil eine materiell-physische Angelegenheit. Weitaus bedeutungsvoller ist deren immaterielle, seelisch-geistige Seite. Eine naturbelassene, qualitativ vollwertige Nahrung macht den Körper des Menschen gesund, die Seele beweglich und den Geist frei.
Den ökologischen Landbau fördern
Voraussetzung für die sorgfältige Zubereitung und die bewusste Aufnahme unserer Nahrung ist allerdings ein Landbau, aus dem Pflanzen hervorgehen, die Lebens-Qualität besitzen. Daher kann man sich freuen und dankbar sein, dass sich die biologische und biologisch-dynamische Szene immer mehr etabliert. Mit dem ökologischen Landbau wird versucht, die Landwirtschaft wieder zu verlebendigen und in ein Gleichgewicht zu bringen. Im biologisch-dynamischen Anbau werden die Lebendigkeit, die Form- und Bildekräfte, die spezifischen Geschmacks- und Duftstoffe unter anderem durch den Einsatz von Pflanzenpräparaten verstärkt und verfeinert. Diese machen den Wert der Nahrung aus. Die daraus resultierenden Demeter-Produkte fördern das Leben von Mensch und Erde. Sie sind „Wegbereiter“ zur Wiederverbindung des Menschen mit seinem geistigen Ursprung. Letzthin tauchte ein neuer Ausdruck auf: ‚bewusst-dynamisch’. Wenn die Kosumentinnen und Konsumenten bewusst-dynamisch jeden sozial- und umweltgerechten Landbau unterstützen, werden dadurch die Lebens- und Nahrungsgrundlagen für morgen wieder menschen- und naturgemässer. Wir alle können also die Lebensmittel-Produktion bewusst steuern. Die Unterstützung der ökologischen Anbauweise über das Einkaufsverhalten kann auch Gesetzesänderungen bewirken. So hat doch tatsächlich die EU-Kommission beschlossen, die seit Jahren geltenden Vermarktungsnormen für Gemüse und Obst zu lockern – das ermöglicht wieder grössere Vielfalt und weniger Norm, mehr Lebendigkeit und weniger Uniformität, mehr Verbraucher-Mündigkeit und weniger staatlichen Zwang!
Fachperson | Emma Graf |
Arbeitsschwerpunkte | absolvierte ihre Berufsausbildung in der Lebensmittelbranche und avancierte zur Geschäftsleiterin. Sie besuchte über Jahre ernährungswissenschaftliche Kurse und entwickelte durch persönliches Forschen ihre eigene Kochkunst. Diese macht sie einem breiten Publikum in sechs Kochbuchbänden zugänglich. Die Bücher sind auch in italienischer, eines in französischer, in englischer und in slowenischer Sprache erhältlich. Nebst Kochkursen und Vorträgen im In- und Ausland engagiert sie sich auch für die Aus- und Weiterbildung in anthroposophischer Ernährungslehre an verschiedenen Institutionen. Emma Graf ist Mitglied des Sektionskreises für Ernährung am Goetheanum und arbeitet mit beim Initiativkreis für Ernährungsfragen. |
Kontakt | +41 (0)91 942 09 78 a.e.graf@hispeed.ch |