Lebenskräfte stärken

Vie­le Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten der psy­cho­so­ma­ti­schen Abtei­lung in der Ita Weg­man Kli­nik haben in ihrem All­tag einen Stress­fak­tor, der sie krank macht. Sei es die beruf­li­che Über­for­de­rung, sei es eine Bezie­hungs­kri­se – gemein­sam ist den Pati­en­ten, dass sie es nicht mehr aus eige­ner Kraft schaf­fen, die krank machen­de Situa­ti­on zu bewäl­ti­gen.
Ursu­la Signer, die Sta­ti­ons­lei­te­rin, schil­dert anhand von drei Bei­spie­len den salu­to­ge­ne­ti­schen Ansatz in der Pfle­ge: Die Pati­en­ten ent­de­cken, was ihnen hilft, gesund zu wer­den und zu blei­ben.

Hel­ga Wyss (Name von der Redak­ti­on geän­dert), eine Frau Mit­te 40, ist eine freund­li­che, star­ke Frau. Sie ist beschei­den und arbei­tet viel. Schon früh ist sie Mut­ter gewor­den, hat zwei Kin­der, von denen eines selbst schon sehr früh ein Kind bekommt. So früh, dass haupt­säch­lich Hel­ga Wyss auch für ihr Enkel­kind sor­gen muss. Ihr Mann erlei­det ein paar Jah­re zuvor einen schwe­ren Arbeits­un­fall, der schwe­re Depres­sio­nen nach sich zieht. Er kann sei­ner Arbeit nicht mehr nach­ge­hen und ver­bringt sei­ne Zeit haupt­säch­lich zu Hau­se, meist in depres­si­ver Stim­mung. Auch Hel­ga Wyss ver­liert ihre Arbeits­stel­le, so kom­men nun auch finan­zi­el­le Sor­gen hin­zu. Mit sehr wenig Geld muss sie für ihre Fami­lie sor­gen. Frau Wyss ist zuneh­mend erschöpft. Immer wie­der hat sie am gan­zen Kör­per Schmer­zen, die zwar unter­sucht wer­den, aber nicht erklär­bar sind.
Die Situa­ti­on eska­liert nach einem Todes­fall in der Fami­lie, durch den nun star­ke Trau­er die weni­gen ver­blie­be­nen ­Kräf­te lähmt. Hel­ga Wyss wird auf die psy­cho­so­ma­ti­sche ­Sta­ti­on ein­ge­wie­sen.

Abstand gewin­nen

Wäh­rend Frau Wyss von sich erzählt, ist sofort zu mer­ken, wie erschöpft sie ist. Sie hat selbst bemerkt, dass auch ihre See­le die Situa­ti­on daheim nicht mehr tra­gen kann. Der Schmerz, der sie seit Jah­ren beglei­tet, ist Gesprächs­in­halt, eben­so ihre Schlaf­stö­run­gen.
Sie hat anfäng­lich gros­se Schwie­rig­kei­ten los­zu­las­sen, denn natür­lich sorgt sie sich um ihr Enkel­kind, für das sie sich ver­ant­wort­lich fühlt und das sie ungern allein in dem depres­si­ven Umfeld zurück­lässt. Es fällt ihr schwer anzu­kom­men – plötz­lich hat sie ein Zim­mer für sich allein, muss kei­ne Auf­ga­be erfül­len, sie darf sie selbst sein. Sie braucht fast zwei Wochen, bis sie sich auf die­se neue Situa­ti­on ein­stel­len, sich von den hei­mi­schen Sor­gen abgren­zen kann. In die­ser Zeit wer­den auch die Schmer­zen nicht bes­ser, auch wenn Frau Wyss bemerkt, dass die Mas­sa­gen gut­tun.
Die Sozi­al­ar­bei­te­rin der Kli­nik klärt ab, inwie­weit Frau Wyss finan­zi­ell unter­stützt wer­den kann. Sie hilft ihr, ent­spre­chen­de For­mu­la­re aus­zu­fül­len und sucht nach Mög­lich­kei­ten, wo das Enkel­kind nach­mit­tags betreut wer­den kann. Die sozia­le Situa­ti­on von Frau Wyss wird ent­las­tet, glei­cher­mas­sen geht ihre Anspan­nung zurück.

Lebens­kräf­te auf­bau­en

Frau Wyss hat eine Pfle­gen­de als Bezugs­per­son. Mit ihr kann sie all­mäh­lich ein Ver­trau­ens­ver­hält­nis auf­bau­en. Das hilft ihr eben­so wie der rhyth­mi­sche Tages­ab­lauf. Nach dem Früh­stück geht Frau Wyss mit den ande­ren Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten der Sta­ti­on auf den Mor­gen­spa­zier­gang. Jeden Tag regt eine Pfle­gen­de auf die­sem Gang durch den Gar­ten die Pati­en­ten an, ihre Sin­ne auf etwas Bestimm­tes zu len­ken, auf einen Duft, eine Vogel­stim­me, auf den Him­mel. Nach dem Mit­tag­essen erhält Frau Wyss täg­lich einen stär­ken­den Leber­wi­ckel. Vier­mal wöchent­lich bekommt sie Hei­leu­ryth­mie und Mal­the­ra­pie. Abends ist sie immer häu­fi­ger mit ande­ren Pati­en­ten im Auf­ent­halts­raum zu fin­den. Sozia­le Kon­tak­te sind da mög­lich. Für Frau Wyss eine neue Erfah­rung. Sie merkt, wie gut ihr das tut. Die Kon­tak­te bau­en sie see­lisch wie­der auf. Eine Pati­en­tin bringt ihr das Stri­cken bei. Für sie sind das ruhi­ge, schö­ne Augen­bli­cke, die sie da erlebt.
Frau Wyss erlebt Momen­te, in denen sie unab­hän­gig von ihren Schmer­zen inner­lich zufrie­den ist.
Mit der Zeit ver­bes­sert sich ihr Schlaf. Die abend­li­chen Fuss­einreibungen mit einem wär­men­den Öl las­sen sie ent­span­nen und hel­fen ihr in einen erhol­sa­men Schlaf.

Äus­ser­lich und inner­lich bewe­gen

15 kg hat Frau Wyss in den ver­gan­ge­nen Jah­ren zuge­nom­men wäh­rend einer medi­ka­men­tö­sen Behand­lung, die ihre Schlaf­pro­ble­me lösen soll­te. Die star­ke Gewichts­zu­nah­me beein­träch­tigt sie zusätz­lich. Als Frau Wyss in der Kli­nik ankommt, kann sie auf­grund ihrer Schmer­zen kaum 20 Minu­ten am Stück lau­fen. Sprit­zen mit pflanz­li­chen Sub­stan­zen, Mas­sa­gen und Phy­sio­the­ra­pie unter­stüt­zen sie, damit sie sich mehr bewe­gen kann. Dies wie­der­um führt all­mäh­lich dazu, dass sie an Gewicht ver­liert und dass sie weni­ger Schmer­zen hat.
Frau Wyss lernt, Gren­zen zu set­zen. Sie muss für sich selbst Ver­ant­wor­tung über­neh­men, nicht immer nur für ande­re da sein. Die Gesprä­che mit der Ärz­tin und der Pfle­gen­den hel­fen ihr auf der Suche nach den „Inseln“ im All­tag. Wäh­rend des Kli­nik­auf­ent­hal­tes geht sie übers Wochen­en­de nach Hau­se, sozu­sa­gen als Trai­ning. Von einem die­ser Besu­che kommt sie erfreut zurück, stolz auf den Erfolg, dass sie sich Zeit genom­men hat für sich und das Enkel­kind.
Sechs Wochen ist Frau Wyss auf unse­rer Sta­ti­on. Dass sie gelernt hat, Inseln für sich zu schaf­fen, das hat ihr gehol­fen. Sie hat selbst den Teu­fels­kreis erkannt zwi­schen see­li­scher Über­be­las­tung und ihren Schmer­zen. Sie ist wach gewor­den für ihre Situa­ti­on und sucht nun selbst nach Mög­lich­kei­ten, Kraft zu tan­ken für ihren All­tag. Ihre Situa­ti­on war der­art schwie­rig, dass sie Hil­fe benö­tig­te. Der Sozi­al­dienst erreicht die Finan­zie­rung für die Nach­mit­tags­be­treu­ung des Enkel­kin­des. So hat Frau Wyss Frei­raum, damit sie selbst in der Tages­kli­nik ihres Wohn­or­tes wei­ter behan­delt wer­den kann. Mit deut­lich weni­ger Schmer­zen und weni­ger Schmerz­mit­teln ver­lässt sie die Kli­nik.

Ler­nen, für sich Gutes zu tun

Agnes Bol­li­ker (Name von der Redak­ti­on geän­dert), 52-jäh­rig, ist von diver­sen Schmer­zen, auch in den Gelen­ken, geplagt. Sie hat schon eini­ges an The­ra­pi­en aus­pro­biert, von denen aber kei­ne zu dau­er­haf­tem Erfolg geführt hat. Bei ihrem Auf­ent­halt in der Kli­nik hat sie viel Zeit für sich. Zwi­schen den ver­schie­de­nen The­ra­pi­en hat sie immer wie­der lan­ge Ruhe­zei­ten. Am Anfang hält sie das kaum aus. Sie ist auf sich zurück­ge­wor­fen und meint, dass man mit ihr zu wenig mache. Mit der Zeit erlebt sie: „Ich muss selbst etwas tun.“ Das ist ein schwie­ri­ger Pro­zess, aber sie spürt, dass etwas Wich­ti­ges pas­siert. Sie ergreift selbst die Ver­ant­wor­tung für sich. Die Pfle­gen­de, die für sie zustän­dig ist, bie­tet ihr abends einen gemein­sa­men Rück­blick auf den Tag an. So schau­en sie dar­auf, was Frau Bol­li­ker gut­ge­tan hat an dem Tag, was ihr Freu­de gemacht, was ihre Schmer­zen gelin­dert hat. Die Pfle­gen­de unter­stützt sie jeweils auf ihrer Ent­de­ckungs­rei­se. Aber die Rei­se an sich muss Frau Bol­li­ker in sich selbst ent­wi­ckeln.
Bei ihrem Aus­tritt aus der Kli­nik ist Frau Bol­li­ker nicht völ­lig schmerz­frei. Aber sie hat einen Pro­zess begon­nen, den sie wei­ter­füh­ren wird. Ambu­lan­te The­ra­pi­en unter­stüt­zen sie wei­ter dabei.

Psy­chisch oder soma­tisch?

Hans Flü­cki­ger (Name von der Redak­ti­on geän­dert) ist Anfang 60. Er ist leis­tungs­stark, hat immer funk­tio­niert. Doch sei­ne Schmer­zen sind für ihn uner­träg­lich gewor­den. Die star­ken Schmerz­mit­tel, die er seit gerau­mer Zeit ein­nimmt, rei­chen nicht mehr aus. Dass hin­ter die­sen Schmer­zen eine enor­me Lebens­kri­se steckt, wird erst all­mäh­lich sicht­bar. Erst durch die The­ra­peu­ti­sche Sprach­ge­stal­tung brö­ckelt die Fas­sa­de lang­sam ab, Gefüh­le tau­chen plötz­lich auf. Der Zusam­men­hang zwi­schen der see­li­schen Belas­tung, der er aus­ge­setzt ist, und sei­nen Schmer­zen wird ihm lang­sam klar. Für Hans Flü­cki­ger ist es schon eine Hil­fe, dass er gege­be­nen­falls auf die Reser­ve­me­di­ka­men­te zurück­grei­fen kann. Er weiss, er muss nicht alles aus­hal­ten. Durch das ver­ord­ne­te Bran­dungs­bad und die Sprach­the­ra­pie wird sei­ne gesam­te Gefühls­welt in Bewe­gung gebracht. Die für ihn zustän­di­ge Pfle­gen­de unter­stützt die­sen Pro­zess, ver­mit­telt ihm, dass sei­ne Gefüh­le hier Platz haben, dass sie sein dür­fen. Auch Wut, Ver­zweif­lung, Trau­er gehö­ren zum Leben.
In einem zwei­ten Schritt schaut die Pfle­gen­de mit Herrn Flü­cki­ger, wie er mit den Gefüh­len umgeht. Wenn er ange­spannt ist, unru­hig wird – wie kann das auf­ge­löst wer­den? Was kann er tun? Die Pfle­gen­de unter­stützt und beglei­tet ihn, auf die­se Fra­ge eine Ant­wort zu fin­den, aber auch zu ler­nen, die Gefüh­le anzu­neh­men. Dazu ist ein fei­nes Gespür bei der Pfle­gen­den von­nö­ten. Ein sol­cher Pro­zess muss fein­füh­lig beglei­tet wer­den. Herr Flü­cki­ger darf nicht allein sei­ner Ohn­macht über­las­sen blei­ben. Durch den Ver­trau­ens­auf­bau in der Bezugs­pfle­ge kann die Kri­se bes­ser beglei­tet wer­den. Sie kön­nen zusam­men Stra­te­gi­en ent­wi­ckeln, wohin der Weg führt. Das wird vom gesam­ten Behand­lungs­team unter­stützt. Wöchent­lich fin­det eine gemein­sa­me Visi­te statt mit dem Lei­ten­den Arzt, dem Assis­tenz­arzt und der Pfle­gen­den, die gemein­sam auch das The­ma Umgang mit den Gefüh­len bespre­chen.

Das Leben neu ergrei­fen

Die Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten in der Psy­cho­so­ma­tik haben oft kör­per­li­che Beschwer­den wie zum Bei­spiel Schmer­zen, Ver­dau­ungs­pro­ble­me oder Schlaf­stö­run­gen, deren Ursa­che aber doch mehr im See­li­schen zu fin­den ist. Das kön­nen Lebens­kri­sen sein, Schwie­rig­kei­ten im Arbeits­all­tag oder im fami­liä­ren Rah­men, die den Men­schen aus sei­nem Gleich­ge­wicht brin­gen. Beim Kli­nik­auf­ent­halt hel­fen wir den Pati­en­ten, mög­li­che Zusam­men­hän­ge für ihre Schwie­rig­kei­ten zu erken­nen, das Leben neu in die Hand zu neh­men, neu zu gestal­ten. Oft ist das mitt­ler­wei­le erwach­se­ne Kind aus dem Haus, der Part­ner ist gegan­gen. Es geht dann dar­um, einen neu­en Sinn für das eige­ne Leben zu fin­den, um sich damit so ver­bin­den zu kön­nen, dass es trägt. In die­sem Pro­zess sind die Pati­en­ten ein­an­der oft eine gros­se Hil­fe. Sie gehen gemein­sam spa­zie­ren oder unter­hal­ten sich. Sie unter­stüt­zen sich gegen­sei­tig und hel­fen ein­an­der, den Tag zu gestal­ten.

Autoren30

Fach­per­son Ursu­la Signer,
dipl. Pfle­ge­fach­frau
Arbeits­schwer­punk­te Seit 1992 an der Ita Weg­man Kli­nik,
am Auf­bau der psy­cho­so­ma­ti­schen Abtei­lung betei­ligt. Sta­ti­ons­lei­te­rin
der Abtei­lung Psy­cho­so­ma­tik.
Kon­takt ursula.signer@wegmanklinik.ch

Die Kommentarfunktion ist geschlossen.