
Bei der Frage, ob die Komplementärmedizin in unserer Bundesverfassung verankert werden soll, geht es auch um Kosten und Nutzen komplementärmedizinischer Therapien. Das grossangelegte Programm Evaluation Komplementärmedizin (PEK) hat interessante Daten dazu geliefert.
Die Umfragen sprechen eine deutliche Sprache: Für die Schweizer Bevölkerung ist Komplementärmedizin ein wichtiger Teil der medizinischen Versorgung, dem künftig ein grösserer Stellenwert zukommen sollte. 58 % sind der Meinung, die Medizin in der Schweiz benötige mehr Alternativmedizin (GFS-Forschungsinstitut 2001), 55 % würden die Behandlung in einem komplementärmedizinischen Spital derjenigen in einem herkömmlichen Spital vorziehen (Polyquest 2001 und 2005), und 81 % wollen, dass die Komplementärmedizin wieder in der Grundversicherung enthalten ist (Sondage santé 2008).
Geringer Kostenanteil
Wie jedoch verhält es sich mit den Kosten für komplementärmedizinische Behandlungen? Besteht nicht die Gefahr, dass die Gesundheitskosten erst recht weiter steigen werden, wenn die Komplementärmedizin grössere Verbreitung findet? Und gilt das nicht besonders dann, wenn die ärztliche Komplementärmedizin wieder in die Grundversicherung aufgenommen wird?
Vorerst: Wie viel die Komplementärmedizin in der Schweiz kostet, darüber gibt es wenig offizielle statistische Daten. Aufgrund eigener Schätzungen bin ich jedoch zum Schluss gelangt, dass der Anteil bei höchstens 2 Prozent der gesamten Gesundheitskosten liegen kann.1 Die jährlichen Kostensteigerungen im schweizerischen Gesundheitswesen von 3 bis 5 Prozent haben also wenig mit der Komplementärmedizin, sondern weit mehr mit teuren schulmedizinischen Behandlungen zu tun. Das machte auch das Programm Evaluation Komplementärmedizin (PEK) deutlich, bei dem ich als Gesundheitsökonom für die Prüfung der Wirtschaftlichkeit der ärztlichen Komplementärmedizin zuständig war. Bevor 1999 fünf Methoden der ärztlichen Komplementärmedizin in die obligatorische Krankenpflegeversicherung (OKP) aufgenommen wurden, hatte das Bundesamt für Gesundheit geschätzt, dass dies Kostenfolgen von 110 Millionen Franken haben werde. Der Basler Gesundheitsökonom Jürg H. Sommer behauptete damals sogar, das sei bei weitem zu tief geschätzt, und rechnete mit einem Kostenanstieg von mindestens 200 Millionen. Die Analyse der PEK-Daten ergab demgegenüber einen Kostenanstieg von lediglich 36 Millionen Franken, was 0.25 Prozent der gesamten OKP-Kosten entsprach.2
Komplementärmedizinische Ärzte sind kostengünstiger
Diesem geringfügigen Kostenanstieg sind die Kosteneinsparungen gegenüberzustellen, die sich anderweitig erzielen lassen, sowie der Nutzen, der darüber hinaus entsteht. Auch hierzu lieferte das PEK-Projekt interessante Daten, die allerdings erst zum Teil publiziert werden konnten.Vorerst gilt es festzuhalten, dass ein Arzt mit einem komplementärmedizinischen Fähigkeitsausweis im Durchschnitt pro Jahr rund 30 Prozent tiefere OKP-Kosten generiert als ein rein schulmedizinischer Arzt, der ebenfalls als Grundversorger tätig ist. Dies ist umso erstaunlicher, als der komplementärmedizinische Arzt im Durchschnitt mehr chronisch kranke Patienten und – sowohl nach eigener Einschätzung als auch nach Einschätzung seiner Patienten selber – schwerer kranke Patienten behandelt als der Arzt, welcher ausschliesslich Schulmedizin einsetzt. Letzterer behandelt demgegenüber mehr lebensbedrohliche Krankheiten.3
Vor allem bei den heute vorherrschenden chronischen Krankheiten ist ein Arzt, der auch Komplementärmedizin einsetzt, durchwegs kostengünstiger als sein ausschliesslich schulmedizinisch tätiger Kollege. Dies ist der Fall, obwohl bei ihm Konsultationen erheblich länger dauern als beim reinen Schulmediziner und obwohl die Anzahl Konsultationen pro Patient und Jahr etwas höher liegt. Er kompensiert offensichtlich die Kosten, die durch den längeren und intensiveren Arzt-Patienten-Kontakt entstehen, durch deutlich tiefere Medikamentenkosten und durch tiefere Kosten für medizintechnische Apparaturen.4
Positives Bild auch bei den Kosten pro Patient
Weil ein Arzt mit einem komplementärmedizinischen Fähigkeitsausweis sich mehr Zeit für seine Patienten nimmt als ein reiner Schulmediziner, behandelt er pro Jahr deutlich weniger Patienten. Die Kosten pro Patient sind in der Folge statistisch gesehen gleich hoch wie diejenigen beim reinen Schulmediziner,5 allerdings unter der Voraussetzung, dass zum Beispiel Kosten für teure technische Untersuchungen wie Computertomogramme (CT) oder Magnetresonanzanalysen (MRI) sowie Spitaleinweisungen darin nicht enthalten sind.
Könnten diese zusätzlichen Kosten ebenfalls dem einzelnen Arzt zugerechnet werden, lägen wohl auch die Kosten pro Patient beim komplementärmedizinisch tätigen Arzt tiefer. Darauf jedenfalls deutet die Auswertung der Gesundheitsbefragung 2002 hin, die ebenfalls Bestandteil von PEK war. Dort zeigte sich, dass Personen, die innerhalb eines Jahres Komplementärmedizin in Anspruch genommen hatten, durchschnittlich einen halben Tag weniger lang im Spital lagen als Nicht-Anwender von Komplementärmedizin (0.9 gegenüber 1.4 Tagen) und dies trotz eines schlechteren subjektiven Gesundheitszustandes. Bei Befragten, welche ausschliesslich Komplementärmedizin und nur bei einem diplomierten Arzt in Anspruch genommen hatten, betrug die Differenz sogar 0.9 Tage (0.5 gegenüber 1.4 Tage), in diesem Fall jedoch bei vergleichbarem subjektivem Gesundheitszustand.6
Komplementärmedizinische behandeltePatienten sind zufriedener
Für die Beurteilung der Wirtschaftlichkeit der ärztlichen Komplementärmedizin sind aber nicht nur die Kosten, sondern auch der Nutzen relevant. Im Rahmen des PEK-Projekts wurde auch die Patientenzufriedenheit ermittelt. Es zeigte sich, dass Patienten von zertifizierten Komplementärmedizinern mit der Behandlung durchwegs zufriedener waren als jene von reinen Schulmedizinern und dass auch die Erwartungen an die Behandlung insgesamt besser erfüllt wurden.7
Auch bei der Zufriedenheit mit der ärztlichen Versorgung ergab sich ein Bild, das klar zugunsten der komplementärmedizinisch tätigen Ärzte ausfiel. Besonders ausgeprägt gilt dies für den Bereich „Kommunikation und Arzt-Patienten-Beziehung“, aber auch für die Bereiche „Patienteninformation und -motivation“ und „Betreuungskontinuität und Kooperation“. Die positivste Ausprägung „ausgezeichnet“ wurde von den Patienten der Ärzte mit komplementärmedizinischer Zusatzausbildung jeweils klar häufiger gewählt als von jenen der reinen Schulmediziner.8
Darüber hinaus gilt es in Rechnung zu stellen, dass offensichtlich eine Wechselwirkung besteht zwischen der Inanspruchnahme von Komplementärmedizin und der Mitverantwortung für die eigene Gesundheit. Wie ebenfalls die Auswertung der Gesundheitsbefragung 2002 gezeigt hat, verhalten sich jene Befragten, die Komplementärmedizin in Anspruch nehmen, deutlich gesundheitsbewusster als jene Befragten, bei denen dies nicht der Fall ist.9
Komplementärmedizin als integraler Teil der Gesundheitsversorgung
Vor dem Hintergrund all dieser Tatsachen erscheint es naheliegend und zweckmässig, die Komplementärmedizin in der Schweizerischen Bundesverfassung zu verankern und in einem nächsten Schritt die ärztliche Komplementärmedizin wieder in die Grundversicherung aufzunehmen. Es macht sowohl unter dem Aspekt der Kosten als auch des Nutzens Sinn, dass sich Schul- und Komplementärmedizin hin zu einer integrativen Medizin ergänzen.
Wie sehr sich im Übrigen wohl auch die nichtärztliche Komplementärmedizin kostendämpfend auswirkt, kann ebenfalls aus dem PEK-Projekt abgeleitet werden. Jedenfalls zeigte sich dort, dass Personen mit einer komplementärmedizinischen Zusatzversicherung in der Grundversicherung signifikant tiefere Kosten verursachen.10 Und als weiteres Beispiel kann mein Wohnkanton Appenzell Ausserrhoden dienen, wo die freie Heiltätigkeit bereits seit mehr als hundert Jahren in der Verfassung verankert ist. Trotz einer Ärztedichte, die sich im gesamtschweizerischen Durchschnitt bewegt, und trotz eines hohen Anteils älterer Menschen gehört Appenzell Ausserrhoden zu jenen Kantonen mit den tiefsten OKP-Kosten.
Quellenangaben:
1 Ferroni B, Studer HP: Komplementärmedizin, in: Kocher G, Oggier W (Hrsg.) Gesundheitswesen Schweiz 2007–2009, Verlag Hans Huber,
Bern 2007, 124
2 Vgl. Melchart D, Mitscherlich F, Amiet M, Eichenberger R, Koch P:
Programm Evaluation Komplementärmedizin, Schlussbericht,
Bern, 14. April 2005, 52, 55f
3 Melchart et al., 2005, 37ff, 43
4 Melchart et al., 2005, 50
5 Melchart et al., 2005, 50
6 Crivelli L, Ferrari D, Limoni C: Inanspruchnahme von 5 Therapien
der Komplementärmedizin in der Schweiz. Statistische Auswertung
auf der Basis der Daten der Schweizerischen Gesundheitsbefragung
1997 und 2002, SUPSI, 30. September 2004, 131f
7 Melchart et al., 2005, 39
8 Melchart et al., 2005, 41f
9 Crivelli et al., 2004, 39f
10 Melchart et al., 2005, 54
Fachperson | Dr. oec. Hans-Peter Studer |
Arbeitsschwerpunkte | war im Programm Evaluation Komplementärmedizin (PEK) für die Beurteilung der Wirtschaftlichkeit komplementärmedizinischer Methoden zuständig und ist seit 2005 Mitglied des Redaktionsteams der Quinte. |
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