Keine Angst vor der Angst

Angst ist ein beson­de­res Phä­no­men, das uns durch unser Leben beglei­tet. Wel­che Bedeu­tung hat Angst? Wann macht Angst krank? Der Psych­ia­ter Dr. med. Mar­kus Schlem­mer spürt die­sen Fra­gen nach, geht auf die ver­schie­de­nen For­men der Angst­er­kran­kun­gen ein und gibt Anre­gun­gen zum Umgang mit der Angst.

Wir alle ken­nen sie, die Angst. Angst ist ein all­ge­gen­wär­ti­ges Phä­no­men, sie beglei­tet uns von frü­hes­ter Kind­heit an durch das gan­ze Leben. Sie ist zunächst ein ganz nor­ma­les Ele­ment unse­res See­len­le­bens. Oft macht sie sich bemerk­bar durch ein unan­ge­neh­mes, bedrän­gen­des, bedrü­cken­des Gefühl, das uns ganz in Besitz neh­men kann. Der Begriff „Angst“ lei­tet sich ab vom latei­ni­schen Wort „angus­tiae“, was so viel bedeu­tet wie „Enge, enger Raum“. Dies weist dar­auf hin, dass Angst eine sehr leib­na­he Erfah­rung ist mit deut­li­chen kör­per­li­chen Sym­pto­men und Aus­wir­kun­gen, häu­fig eben mit einem Druck- und Enge­ge­fühl im Brust­be­reich, mit Herz­klop­fen, Schwit­zen und Zit­tern. Angst ergreift aber auch unser Den­ken. Ängst­li­che, „kata­stro­phi­sie­ren­de“ Gedan­ken kön­nen sich leicht auf­schau­keln. Hier­her gehört auch die Sor­ge. Noch etwas zeigt sich bei der Angst: sie ver­an­lasst uns, bestimm­te Din­ge zu tun oder eben nicht zu tun. Vie­le unse­rer Hand­lun­gen – bis hin zu gros­sen geschicht­li­chen Ereig­nis­sen – grün­den letzt­lich in Angst.

Nur der Mensch kann sich der Angst bewusst wer­den

Auch Tie­re haben Angst, sind ihrer Angst mög­li­cher­wei­se beson­ders aus­ge­setzt. Aber die mensch­li­che Angst bekommt eine spe­zi­fi­sche Prä­gung durch die Tat­sa­che, dass der Mensch das ein­zi­ge Lebe­we­sen auf der Erde ist, das ein Bewusst­sein hat von sei­ner End­lich­keit. Und unse­re Epo­che, die Moder­ne, wird durch­zo­gen von einer tie­fer­lie­gen­den Angst, einer unter­schwel­li­gen Lebens­angst. Am Aus­gangs­punkt die­ser Epo­che, in der ers­ten Hälf­te des 19. Jahr­hun­derts, bezeich­ne­te der däni­sche Phi­lo­soph und Theo­lo­ge Sören Kier­ke­gaard die Angst als „das grund­le­gen­de Lebens­ge­fühl der Moder­ne“. Dies ist wohl die Kehr­sei­te der Tat­sa­che, dass uns die Moder­ne eine Befrei­ung von vie­len, oft über­kom­me­nen und erstarr­ten Kon­ven­tio­nen, Nor­men, Regeln und Wer­ten gebracht hat. Damit ist aber auch vie­les ver­lo­ren gegan­gen, was Halt, Ori­en­tie­rung und Begren­zung gibt. Dem aus­ge­setzt zu sein mit der Anfor­de­rung, sich selbst aus Frei­heit Halt, Ori­en­tie­rung und Begren­zung zu geben, kann beträcht­li­che Angst erzeu­gen.

Angst kann uns schüt­zen

Angst hat zunächst eine Schutz­funk­ti­on. Stel­len Sie sich ein­mal vor, Sie hät­ten gar kei­ne Angst, über­haupt kei­ne! Wäre das erstre­bens­wert? Ein Zuwe­nig an Angst ist min­des­tens so pro­ble­ma­tisch wie ein Zuviel. Angst lässt uns vor­sich­tig und umsich­tig – „ver­nünf­tig“ – sein. Das kommt uns und ande­ren zugu­te.
Angst kann dazu füh­ren, dass wir uns beson­ders gut auf etwas vor­be­rei­ten, und dass es dann auch bes­ser gelingt. Es ist nach­ge­wie­sen, dass uns ein mitt­le­res Angst­ni­veau, zum Bei­spiel bei Prü­fun­gen oder Vor­trä­gen, zu bes­se­ren Leis­tun­gen anregt. Als beson­de­res Bei­spiel möch­te ich hier bedeu­ten­de Musi­ker nen­nen, die ihr mit­un­ter erheb­li­ches und auch nach Jahr­zehn­ten noch quä­len­des Lam­pen­fie­ber im Kon­zert umwan­deln kön­nen in eine luzi­de, ganz geis­tes­ge­gen­wär­ti­ge, hoch­ge­spann­te und sen­si­ble Auf­merk­sam­keit und Krea­ti­vi­tät.

Wenn die Angst über­hand nimmt

Angst kann sich ver­selb­stän­di­gen. Sie hat die Ten­denz, ein Eigen­le­ben zu füh­ren und eine Eigen­dy­na­mik zu ent­wi­ckeln. Sie steht dann nicht mehr in einem kon­kre­ten Bezug zur Wirk­lich­keit, hat kei­nen Grund. Sie wird unrea­lis­tisch, über­trie­ben, kreist in sich und kann sich dabei immer mehr auf­schau­keln. Angst ist dann nicht mehr hilf­reich und schüt­zend, im Gegen­teil, sie beginnt uns zu hem­men und gefan­gen zu neh­men. Angst kann zur Krank­heit wer­den. Die Gren­zen zwi­schen „nor­ma­ler Angst“ und „krank­haf­ter Angst“ sind flies­send, und es gibt ängst­li­che und weni­ger ängst­li­che Men­schen. Wenn Angst jedoch zu einem anhal­ten­den see­li­schen Lei­den und zu Behin­de­run­gen und Beein­träch­ti­gun­gen in viel­fäl­ti­gen Lebens­be­rei­chen führt, liegt eine Angst­er­kran­kung vor. Heu­te spricht man von Angst­stö­run­gen.

Bei den spe­zi­fi­schen Pho­bi­en rich­tet sich die Angst auf ein bestimm­tes Objekt oder auf eine bestimm­te Situa­ti­on. Typi­sche Bei­spie­le sind die Flug­angst oder eine über­mäs­si­ge Prü­fungs­angst.
Agor­a­pho­bie bezeich­net die Angst vor Orten oder Situa­tio­nen, die kei­nen unmit­tel­ba­ren und sofort nutz­ba­ren Flucht­weg zulas­sen. Für die Betrof­fe­nen ist dabei häu­fig der Gedan­ke bestim­mend, sie könn­ten in eine hilf­lo­se Situa­ti­on gera­ten, zum Bei­spiel ohn­mäch­tig wer­den. Die­se Angst kann sich bis zu Panik­zu­stän­den stei­gern. Men­schen­an­samm­lun­gen, Kauf­häu­ser, öffent­li­che Ver­kehrs­mit­tel, Kino, Kon­zert­saal, Thea­ter und ähn­li­che Orte kön­nen nicht mehr betre­ten wer­den. Man­che Betrof­fe­ne wagen es nicht mehr, die eige­nen vier Wän­de zu ver­las­sen. Die Fol­gen sind schwer­wie­gend.
Panik­zu­stän­de, Panik­at­ta­cken kön­nen auch iso­liert auf­tre­ten, ohne wahr­nehm­ba­re aus­lö­sen­de Situa­ti­on, auch aus dem Schlaf her­aus. Man spricht dann von einer Panik­stö­rung. Men­schen, die an einer sozia­len Pho­bie lei­den, fürch­ten Situa­tio­nen, in denen sie unter den Augen ande­rer Men­schen irgend­et­was tun, aus­füh­ren müs­sen, zum Bei­spiel in der Öffent­lich­keit essen oder spre­chen. Betrof­fe­ne haben meist ein schlech­tes Selbst­wert­ge­fühl und reagie­ren sehr emp­find­lich auf Kri­tik.

Die gene­ra­li­sier­te Angst­stö­rung ist gekenn­zeich­net durch eine fort­ge­setz­te über­mäs­si­ge ängst­li­che Anspan­nung mit deut­li­chen kör­per­li­chen Sym­pto­men, stän­di­ger Ner­vo­si­tät und Beklom­men­heit. Es ist eine per­ma­nen­te, nicht auf Bestimm­tes bezo­ge­ne, „frei flot­tie­ren­de Angst“, die sich situa­ti­ons­be­dingt ver­stär­ken kann. Dazu kommt eine star­ke Nei­gung zu Sor­gen, Befürch­tun­gen und nega­ti­ven Vor­ah­nun­gen. Angst­stö­run­gen kön­nen sich als schwe­re und ein­schnei­den­de Erkran­kun­gen äus­sern. Betrof­fe­ne Men­schen benö­ti­gen pro­fes­sio­nel­le psych­ia­trisch-psy­cho­the­ra­peu­ti­sche Hil­fe. Eine medi­ka­men­tö­se The­ra­pie kann erfor­der­lich sein, wobei die Medi­ka­men­te der Anthro­po­so­phi­schen Medi­zin unter­stüt­zen kön­nen. Es kann auch nötig sein, Psy­cho­phar­ma­ka zu ver­ab­rei­chen.

Nicht alles liegt in unse­rer Macht

Im Umgang mit Angst sind zwei Fak­to­ren beson­ders bedeut­sam: Eine star­ke Angst­er­fah­rung kann zu der Furcht füh­ren, eine ähn­li­che Angst könn­te erneut auf­tau­chen. Und damit ist oft der drin­gen­de Wunsch ver­bun­den, dass Ähn­li­ches auf kei­nen Fall mehr pas­sie­ren dür­fe. Damit ist die Angst vor der Angst cha­rak­te­ri­siert, die Erwar­tungs­angst, die allein schon Anspan­nung und Unru­he erzeugt und damit zum Bei­spiel die Wahr­schein­lich­keit erhöht, dass es tat­säch­lich zu einem erneu­ten Ang­s­t­an­fall kommt. Fol­ge ist häu­fig das Ver­mei­den angst­aus­lö­sen­der Situa­tio­nen, was schnell dazu füh­ren kann, dass der Bewe­gungs­um­kreis immer klei­ner wird und aus­ser­dem die Angst­pro­ble­ma­tik auf­recht erhal­ten wird.
Ein Wei­te­res ist zu beden­ken: Vie­le unse­rer Ängs­te dre­hen sich um Risi­ken, Gefah­ren und Ereig­nis­se, die mög­li­cher­wei­se in der Zukunft ein­tre­ten kön­nen, für die es aber kei­ner­lei Anzei­chen gibt und die für die Gegen­wart kei­ne tat­säch­li­che Bedeu­tung haben. Wenn wir uns aber kon­se­quent bewusst machen, dass es im mensch­li­chen Leben vie­le Din­ge – auch ganz wesent­li­che Din­ge – gibt, die nicht in unse­rer Macht lie­gen, und die wir nicht kon­trol­lie­ren kön­nen – auch nicht dadurch, dass wir uns ängs­ti­gen und uns Sor­gen machen – wenn wir dies ein­fach als Tat­sa­che zu akzep­tie­ren ver­su­chen, kön­nen vie­le Ängs­te an Bedeu­tung ver­lie­ren und einer Gelas­sen­heit wei­chen. Es ist im Übri­gen gar nicht sinn­voll und erstre­bens­wert, alles kon­trol­lie­ren und in der Hand haben zu wol­len.

Den Umgang mit der Angst erler­nen

Im Umgang mit Angst geht es nicht dar­um, kei­ne Angst mehr zu haben, alle Angst abzu­le­gen und zu „besie­gen“, und es geht über­haupt nicht dar­um, ein „furcht­lo­ser Held“ zu wer­den oder gar ein risi­ko­rei­ches Ver­hal­ten zu ent­wi­ckeln. Es geht viel­mehr dar­um, sei­ner Angst nicht aus­zu­wei­chen, ihr ins Auge zu schau­en, ein ande­res Ver­hält­nis zu ihr zu fin­den – und dadurch ein ande­res Ver­hält­nis zu sich selbst. Das Bewäl­ti­gen einer Angst setzt eine Begeg­nung mit ihr vor­aus. Dabei ist wich­tig zu bemer­ken, dass wir uns immer zumin­dest ein Stück von unse­rer Angst distan­zie­ren und uns Abstand schaf­fen kön­nen. Wir müs­sen unse­re Angst nicht ein­fach nur pas­siv hin­neh­men. Wir kön­nen uns gegen sie weh­ren, kön­nen nüch­tern blei­ben. Wir kön­nen die Angst zulas­sen und ihr begeg­nen, ohne uns ganz von ihr ein­neh­men und über­spü­len zu las­sen. Sie kann uns eigent­lich nichts anha­ben. Und jede Über­win­dung von Angst ist eine posi­ti­ve, befrei­en­de und genuss­vol­le Erfah­rung.

Als eine Art Quint­essenz hat Sören Kier­ke­gaard, selbst geplagt von Ängs­ten und Depres­sio­nen, for­mu­liert: „Es muss jeder ler­nen, sich zu ängs­ti­gen, denn sonst geht er zugrun­de dadurch, dass ihm nie Angst war, oder dadurch, dass er in der Angst ver­sinkt. Wer hin­ge­gen gelernt hat, sich recht zu ängs­ti­gen, der hat das Höchs­te gelernt“.

Autoren46

Fach­per­son Dr. med. Mar­kus Schlem­mer
Arbeits­schwer­punk­te Fach­arzt für Psych­ia­trie und Psy­cho­the­ra­pie FMH. Medi­zin­stu­di­um in Mün­chen. 4 ½ Jah­re Assis­tenz­arzt auf der Inter­nis­ti­schen Abtei­lung eines klei­ne­ren Kreis­kran­ken­hau­ses im All­gäu. Dar­auf­hin Wech­sel in die Psych­ia­trie: 16-mona­ti­ge Assis­tenz­arzt­tä­tig­keit in der Fried­rich Huse­mann Kli­nik bei Frei­burg i. Br. und anschlies­send je 2 Jah­re Assis­tenz­arzt in der Kan­to­na­len Psych­ia­tri­schen Kli­nik Lies­tal und bei den Exter­nen Psych­ia­tri­schen Diens­ten Bru­der­holz. Drei­jäh­ri­ge Aus­bil­dung in Kogni­ti­ver Ver­hal­tens­the­ra­pie im Rah­men der Post­gra­dua­len Stu­di­en­gän­ge in Psy­cho­the­ra­pie (PSP) der Psy­cho­lo­gi­schen Fakul­tät der Uni­ver­si­tät Basel. Seit Novem­ber 2003 sta­tio­nä­re und ambu­lan­te Tätig­keit an der Ita Weg­man Kli­nik AG.
Kon­takt +41 (0) 61 705 72 81

Die Kommentarfunktion ist geschlossen.