
Auf den akutsomatischen Stationen der Klinik Arlesheim sind seit wenigen Wochen drei Oberarztstellen neu besetzt. Was bewegt junge Ärztinnen und Ärzte, sich für eine Arbeit auf einer internistischen Station zu entscheiden – und das mit einer integrativmedizinischen Ausrichtung? „Quinte“-Redaktorin Verena Jäschke sprach mit ihnen über diese und ähnliche Fragen.
An einem Freitagvormittag, mitten im Sommer, treffe ich drei junge Menschen in der Klinik: Judith Biechele, die seit wenigen Monaten auf der Station Innere Medizin tätig ist und kurz vor der Facharztprüfung steht, Facharzt Boris Federlein, der gerade seine ersten Tage an der neuen Arbeitsstelle hinter sich hat, nachdem er einige Jahre als Oberarzt in einem Schweizer Vollversorger-Krankenhaus gearbeitet hat, und Severin Pöchtrager, der bereits als Assistenzarzt in der Klinik Arlesheim war und nun nach intensiver Tätigkeit an einem Kantonsspital und seinem Facharztabschluss wieder zurückgekehrt ist. Sie sind das neue Oberarzt-Trio für die Akutsomatik und in Rotation verantwortlich für die Innere Medizin, die Onkologie und die Notfallstation. Alle drei bestätigen mir: „Man fällt nicht als Oberarzt vom Himmel“. Das müssen sie auch nicht, denn sie erhalten für ihre neue Funktion eine fundierte Ausbildung.
Was bedeutet für Euch junge Ärzte die Arbeit in einem Spital?
J. Biechele Ich mag die Kollegialität in einem Spital, den Austausch mit den Kollegen. Andere Meinungen fördern den Erfahrungsaustausch. Ich sehe meine Zukunft ganz klar im Spital, die Vielfalt an Patientinnen und Patienten, die diversen Indikationen, das Akute im Spital begeistern mich. Wichtig ist für mich die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit den Fachärzten des Spitals. Da sind wir gut aufgestellt. Ich mag auch die Arbeit mit den Assistenten. Ich lerne das zwar erst kennen, stelle aber bereits fest, dass mir das Lehren Spass macht. Was ich ebenfalls schätze, ist die Zusammenarbeit mit den Pflegenden und das intensive therapeutische Miteinander.
S. Pöchtrager Das Herausragende an Spitälern mit einem
integrativmedizinischen Therapieansatz ist die Arbeit am Therapiekonzept. Das finde ich persönlich sehr spannend, denn da spielen neben dem Fachwissen sowohl der interdisziplinäre Austausch als auch die interprofessionelle Zusammenarbeit eine grosse Rolle. Sich gemeinsam um Patientinnen und Patienten kümmern – was gibt es Schöneres?
B. Federlein In einer Arztpraxis habe ich den Vorteil, dass ich mit dem Patienten einen längeren Weg gemeinsam gehen kann. Das ist im Spital so nicht möglich. Dafür ermöglicht das Spital die Arbeit im Team – mehr Augen sehen in der Regel mehr. Mir gefällt es, dass man im Team Strukturen aufbauen kann, die tragfähig sind. Wir haben dann eine gemeinsame Basis. Wenn wir das bewusst pflegen, kann dies eine ganz spezielle Kraft sein. Für uns drei empfinde ich es als eine besondere Aufgabe, dass wir als „Team der Mitte“ eine Konstanz in die stationäre Arbeit bringen.
Wie erlebt Ihr die Arbeit in einer anthroposophischen Klinik?
J. Biechele Ich habe vorher noch nicht in einem anthroposophischen Spital gearbeitet. Ich erlebe das als sehr erfrischend, allein schon mit dem gemeinsamen Wochenbeginn, der komplett interprofessionell ist – da treffen sich meist 60 Mitarbeitende aus den verschiedensten Berufsgruppen! Die Arbeit hier ist sehr kommunikativ, auch Fehler werden offen diskutiert. Ich erlebe hier eine grosse Offenheit, auch die Wirksamkeit medizinischer Interventionen zu hinterfragen. Zudem erlebe ich ein enormes Interesse an Weiterentwicklung.
B. Federlein Es ist erlebbar, dass bestimmte Werte gepflegt werden. Soziale Wärme zum Beispiel gehört dazu. Es kann durchaus vorkommen, dass aus einem Harmoniebedürfnis heraus bestimmte Sachen nicht thematisiert werden, dass man sich sanfter anfasst.
Warum seid Ihr an die Klinik Arlesheim gekommen?
S. Pöchtrager Ich erlebe die Medizin hier als eine sehr zukünftige Medizin: eine gute Schulmedizin mit all ihren therapeutischen und diagnostischen Standards und dazu die therapeutische Vielfalt der Anthroposophischen Medizin. Pflanzliche, tierische und mineralische Heilmittel, Äussere Anwendungen, Kunsttherapien, Rhythmische Massage, Heileurythmie und Biographiearbeit bereichern unsere therapeutischen Möglichkeiten. Damit können wir neben der physischen Grundlage des Menschen auch seine Lebenskräfte, sowie seine seelisch-geistigen Aspekte in der Therapiefindung berücksichtigen.
J. Biechele Ich sehe die Notwendigkeit einer menschlichen und menschengemässen Medizin. Wir machen vernünftige Schulmedizin. Ich will das gar nicht trennen. Ich hoffe, dass es eine solche menschliche Medizin künftig überall geben kann. Ich habe vor zweieinhalb Jahren in der Ärzteausbildung die Anthroposophische Medizin und ein junges, hoch motiviertes Ärzteteam kennengelernt. Davon war ich so angetan, dass ich das theoretisch Gelernte in der Praxis erleben wollte.
B. Federlein Hier in Arlesheim befindet sich ein wichtiges Zentrum für die Anthroposophische Medizin. Ich komme mit grossen Fragen: Wie wirksam ist die Anthroposophische Medizin? Was kann sie leisten? Wo muss sie noch weiterentwickelt werden? An der Erhöhung der Wirksamkeit will ich gerne mitarbeiten.
Ich habe eine sehr gute Schulmedizin kennen lernen dürfen und bin gespannt, ob dieses Repertoire im Sinne des Patienten noch erweiterbar ist.
Was ist das Besondere hier – auch für Euch als Arzt/Mensch?
S. Pöchtrager Ich erlebe hier eine Medizin, die sich an der Entwicklung des Menschen orientiert. Ganz besonders stark erlebbar wird das in der Begleitung von Menschen mit chronischen Erkrankungen und in der Palliativmedizin. In diesen Bereichen der Medizin geht es ja weniger um die Frage, „Wie kann ich den Patienten von dieser oder jener Erkrankung heilen?“. Es geht neben der professionellen, medizinischen Versorgung auch um das Begleiten und Unterstützen der Ressourcen, die trotz schwersterkrankten Körpern eine Entwicklung ermöglichen. In meiner medizinischen Ausbildung durfte ich Patienten, körperlich schwerst erkrankt und in anderen Bereichen des Menschseins gesundet, an die Schwelle begleiten. Das gibt mir immer wieder aufs Neue die Gewissheit, dass es auch bei schwerster Erkrankung lohnenswert ist, sich an den gesunden und in Entwicklung befindenden Aspekten zu orientieren.
B. Federlein Man ist sich der Grenzen als kleines Spital bewusst und setzt auf Zusammenarbeit mit den grossen Anbietern der Region, die sehr gut funktioniert. Die gegenseitigen Konsiliardienste entwickeln sich aktuell an bestimmten Fällen. Das kann noch mehr institutionalisiert werden.
Wie erlebt Ihr die Arbeit mit den Patientinnen und Patienten?
S. Pöchtrager Viele unserer Patienten kommen speziell für die Anthroposophische Medizin zu uns. Andere stossen per Zufall auf unsere Klinik, weil sie „etwas anderes“ in der Medizin suchen, und viele Menschen nutzen die Klinik Arlesheim als regionalen Gesundheitsversorger. Oft sind wir bereits die vierte oder fünfte medizinische Anlaufstelle, und unsere Patienten schauen sehr wach auf das, was gemacht oder eben nicht gemacht wird. Wir haben auch häufig Patienten, die sich aktiv mit ihrer Biografie auseinandersetzen, die bereit sind, etwas im Leben zu ändern, um selbstwirksam an ihrer Gesundheit mitzuwirken. Es ist schön zu sehen, wie gross das salutogenetische Potential jedes einzelnen Menschen ist.
B. Federlein Es ist spannend, mit Patienten zu arbeiten, die ihre Erkrankung als existenziell erleben und darauf mit grundlegenden Veränderungen reagieren möchten. Gerade, wenn sie bereits einen längeren Weg hinter sich haben und uns als Begleiter annehmen, kann das fruchtbar sein. Die Patienten werden hier sehr umsorgt, es wird viel auf sie eingegangen, wobei manchmal ein klares Wort hilfreicher sein könnte.
J. Biechele Dass ich individuell auf den Patienten eingehen kann, hat für mich einen enormen Wert. Ebenso, dass wir die Konstitution des Patienten einbeziehen, seine Lebensgeschichte. Der Arzt-Patienten-Kontakt ist teilweise intensiver. Die Frage „Wie geht es Ihnen heute seelisch?“ kenne ich aus anderen Kliniken nicht.
S. Pöchtrager Die Patienten spüren, dass ihre Behandlung hier nicht nur vom Arzt, sondern von einem grossen interdisziplinären und interprofessionellen Team getragen wird. Medizin in der Klinik Arlesheim ist eine Teamleistung! Und dazu gehört auch unserer Klinikküche. Denn beim Essen geht es uns nicht nur um unmittelbare Patientenzufriedenheit – das ist mit Schnitzel und Pommes oft schneller erreicht –, sondern wir bemühen uns um eine gesunde Küche, die den Patienten beim Gesundwerden unterstützen soll.
J. Biechele Wir haben einen Kochabend für Ärzte organisiert, bei dem Ärzte zusammen mit der Küchenchefin in
der Klinikküche ein Essen zubereiten, um die Ernährungsgrundsätze selbst kennenzulernen und zu erleben.
Wie erlebt Ihr die Wirkung der Anthroposophischen Medizin bei den Patientinnen und Patienten?
J. Biechele Vor allem bei den Äusseren Anwendungen und den Therapien erlebe ich einen grossen Benefit für die Patienten. Der grosse Körperkontakt ist klar heilsam.
B. Federlein Ich habe unsere Medizin in Einzelfällen als sehr wirksam erlebt, auch wenn ausschliesslich anthroposophische Heilmittel gegeben wurden. Es ist notwendig
festzulegen, was ich mit diesem Medikament erreichen will. Teilweise sind symptomatische Verbesserungen nach einer Medikamentengabe erkennbar, teilweise ermöglichen sie seelische Entwicklung. Es gibt Medikamente, die Zeit benötigen, bis eine Wirkung erkennbar ist. Wie kommt man schneller dazu, das richtige Heilmittel zu finden? Hier will ich noch mehr Erfahrung sammeln. Ich sehe Entwicklungspotenzial in der Heilmittelfindung. Dafür wäre auch eine vergleichende Forschung hilfreich.
S. Pöchtrager Die enorme Wirksamkeit der Äusseren Anwendungen möchte ich ebenfalls klar unterstreichen. Doch auch das ganze Spektrum der schulmedizinischen Therapie gehört zur Anthroposophischen Medizin. Es kommt auf die Kombination, auf das Zusammenspiel von schulmedizinischen Therapien und Heilmitteln aus den Naturreichen, Kunsttherapien und Äusseren Anwendungen wie Wickel, Einreibungen, Bäder oder Rhythmische Massage an. An der richtigen Stelle angewandt, ist das die wirksamste Therapie. Manchmal können wir auf chemische Medikamente verzichten, in anderen Situationen benutzen wir ebenso den reichen Schatz der schulmedizinischen Diagnostik und Therapie. Daher arbeiten wir auch mit vielen grossen Gesundheitsanbietern der Region zusammen. Anthroposophischer Arzt zu sein bedeutet aber auch, eine Geisteshaltung zu
leben, die versucht, jeden Menschen in seiner leiblichen, seelischen und geistigen Dimension zu erfassen. Diese innere Haltung habe ich auch in anderen Spitälern als wirksam erlebt, hier gehört sie zum Alltag.
Fachperson |
Dr. med. Judith Biechele |
Arbeitsschwerpunkte | Medizinstudium in Homburg Saar (D) und Paris (F), wissenschaftliche Tätigkeit am Institut für Mikrobiologie und Hygiene an der Universitätsklinik des Saarlandes (D), Assistenzärztin für Innere Medizin im Spital Bad Säckingen (D) und am Universitätsspital Basel, Assistenzärztin für Angiologie am Universitätsspital Basel (CH), anthroposophische Ärzteausbildung an der Klinik Arlesheim, seit Mai Stv. Oberärztin Innere Medizin in der Klinik Arlesheim. |
Fachperson |
Dr. med. univ. Severin Pöchtrager |
Arbeitsschwerpunkte | Medizinstudium in Wien, anthroposophisches Ärzteseminar an der Eugen Kolisko Akademie in Filderstadt, Assistenzarzt Innere Medizin in der Klinik Arlesheim und am Kantonsspital Liestal, Facharzt für Allgemeine Innere Medizin (FMH), seit September 2019 Oberarzt Innere Medizin in der Klinik Arlesheim. Mitbegründung der Ärzteausbildung Arlesheim und aktuell im Ausbildungskollegium tätig. |
Fachperson |
Boris Federlein |
Arbeitsschwerpunkte | Facharzt Innere Medizin, Fachkunde Rettungsdienst, in den letzten vier Jahren Oberarzt Innere Medizin am Kantonsspital Zug, Assistenzarzt Innere Medizin am Kantonsspital Baden. Medizinstudium an der Universität Witten Herdecke mit integriertem Begleitstudiengang Anthroposophische Medizin. Zusatzausbildungen: Rhythmische Massage für Ärzte nach Ita Wegman (Universität Witten Herdecke, Charlotte Almer), Bioresonanztherapie, integrative Osteopathie, anthroposophisch basierte Psychotherapie (Grundkurs, Dr. Reiner, M. Treichler) |