Ist nicht die ganze Ewigkeit mein?“ Das Leben oder die Kunst des Abschiednehmens

Wie oft müs­sen wir Men­schen Abschied neh­men – und wie sehr trach­ten wir alle danach, dass doch blei­ben möge, was uns lieb gewor­den, was wir manch­mal leich­ter, manch­mal mühe­voll schon erreicht und erar­bei­tet haben. Erst recht gilt dies für den letz­ten Abschied von die­ser Welt, der aber wohl leich­ter fällt, wenn wir auch hier los­las­sen und dar­auf ver­trau­en kön­nen, dass das Leben wei­ter­geht.

Genau­er betrach­tet beglei­tet uns das Abschied­neh­men vom ers­ten Atem­zug an: Wir ver­las­sen eine geschütz­te Umge­bung, in der alles um uns her­um mil­de und gedämpft erscheint, kei­ne lau­ten Geräu­sche stö­ren, kein grel­les Licht blen­det, in der nur der ruhi­ge, gleich­mäs­si­ge Herz­schlag unse­rer Mut­ter tag­aus, tag­ein den beru­hi­gen­den Takt gibt. Wir neh­men Abschied vom Mut­ter­leib, in wel­chem wir uns, von güti­gen Kräf­ten genährt, ohne jeg­li­che bewuss­te Anstren­gung ent­wi­ckelt haben, und dann end­lich unter oft dra­ma­ti­schen Umstän­den das Licht die­ser Welt erbli­cken. Wir set­zen unse­ren ers­ten Atem­zug an, gefolgt vom kräf­ti­gen Ein­satz unse­rer Stim­me: dem ers­ten Schrei!
Wir ver­ab­schie­den uns von einer schüt­zen­den Hül­le und begin­nen das gros­se Wag­nis, die gros­se Rei­se einer ste­ten Vor­wärts­be­we­gung, hin­ter uns las­send, was nicht mehr ange­mes­sen ist, ergrei­fend, was uns neu­en Erfah­run­gen zuführt, um uns ste­tig wei­ter zu ent­wi­ckeln und nie­mals ste­hen zu blei­ben.
Der Kna­be nimmt unwei­ger­lich Abschied vom Kin­de, der jun­ge Mann vom Jüng­ling, der alte Mensch von der voll­stän­dig ent­fal­te­ten Tätig­keit der Blü­te- und Rei­fe­zeit, wo Kraft und Erfah­rung sich die Waa­ge hal­ten. Er wird so eigen gütig und wie­der­um beschei­den, denn ist auch viel erreicht wor­den, so weiss doch der gereif­te Mensch, dass er immer alles (noch) viel bes­ser und för­dern­der für ande­re und gleich­falls für sich selbst hät­te gestal­ten kön­nen.

Krank­heit – die gestei­ger­te und ver­dich­te­te Her­aus­for­de­rung

Wie viel mehr noch braucht es inne­ren Mut, wenn Krank­heit oder das nahen­de Lebens­en­de den unaus­weich­li­chen Abschied ver­dich­ten und star­ke Trau­er die See­le erschüt­tert und sie voll­stän­dig zum Wesent­li­chen hin öff­net. Nicht vie­len ist es gege­ben, ange­sichts des nahen Todes die eige­ne Begrenzt­heit so selbst­ver­ständ­lich und offen anzu­neh­men wie Wolf­gang Ama­de­us Mozart es dazu­mal, am 5. Dezem­ber 1791 in Wien, kurz nach Mit­ter­nacht, konn­te.
Am Vor­abend sei­nes Able­bens näm­lich rief der am Requi­em Arbei­ten­de Sophie Haibl, einer Freun­din sei­ner Frau Kon­stan­ze, die zur Unter­stüt­zung hin­zu­ge­kom­men war, fest und bestimmt zu: „Ach gut, lie­be Sophie, dass Sie da sind, Sie müs­sen heu­te Nacht dablei­ben, Sie müs­sen mich ster­ben sehen!“. Und als die­se, müh­sam die Fas­sung bewah­rend, ihm jene Gedan­ken aus­zu­re­den such­te, mach­te Mozart sei­ne Gewiss­heit und sei­ne Lie­be zu sei­ner Frau deut­lich: „Ich habe ja schon den Toten­ge­schmack auf der Zun­ge, und wer wird dann mei­ner liebs­ten Kon­stan­ze bei­ste­hen, wenn Sie nicht hier­blei­ben?“
Mozart war es nicht gege­ben, das Requi­em in d-Moll, das er am Ende als sei­ne eige­ne Ster­be­mes­se bezeich­ne­te, zu voll­enden, wenn er es auch mit jeder Faser sei­nes Lei­bes woll­te. Und so ergeht es viel­leicht den meis­ten Men­schen vor dem gros­sen Abschied, wenn das Lebens­ta­bleau inner­lich all jenes auf­leuch­ten lässt, was schon erreicht wer­den konn­te, aber auch jenes hin­zu­tritt, was ange­legt war, was qua­si träu­mend im Kokon ver­blieb, einer Mög­lich­keit gleich, eine bis dahin unge­leb­te Kraft, die nicht ver­schwin­det, son­dern als Ener­gie im Kern unse­res Wesens harrt und wur­zelt, und der Zukunft stark ent­ge­gen hofft.

Schlaf, der klei­ne Bru­der des Todes

Dem blin­den und armen Wan­der­sän­ger Homer wird die tief­sin­ni­ge Aus­sa­ge zuge­schrie­ben: „Der Schlaf ist der klei­ne Bru­der des Todes.“ Jeden Mor­gen erwa­chen wir wie selbst­ver­ständ­lich aus der geheim­nis­vol­len Nacht, die uns wie eine güti­ge Quel­le neue Kräf­te zuführt, in unser Tag­werk hin­ein. Hier set­zen wir fort, was wir zuvor begon­nen, ent­wi­ckeln fleis­sig wei­ter, was schon gebaut und erwor­ben wer­den konn­te, brin­gen zur Rei­fe, was ange­legt wur­de.
Der klei­ne Bru­der beglei­tet uns selbst­ver­ständ­lich das gan­ze Leben lang. Kommt dann der gros­se Bru­der zu uns, sind wir von sei­ner Anwe­sen­heit tief bewegt. Hier wer­den wir fra­gend, tas­tend und suchend, wie denn der grös­se­re Schlaf gelin­gen mag, zu wel­chem Erwa­chen er führt. Das Selbst­ver­ständ­li­che schwin­det uns unter den Füs­sen hin­weg, und wir gehen durch eine gros­se Ver­un­si­che­rung.

Nah­tod­erfah­run­gen wer­fen ein Licht zwi­schen die bei­den Brü­der

In sei­nem lesens­wer­ten und lehr­rei­chen Buch „End­lo­ses Bewusst­sein. Neue medi­zi­ni­sche Fak­ten zur Nah­tod­erfah­rung“ beschreibt der Kar­dio­lo­ge Pim van Lom­mel am Anfang, wie bei ihm das Inter­es­se an Nah­tod­erfah­run­gen (NTE) geweckt wur­de. Im Zen­trum stan­den dabei für ihn die bei­den Fra­gen, wie es sein kann, dass Pati­en­ten wäh­rend eines Herz­still­stands ein Bewusst­seins­er­le­ben haben, und wie oft das vor­kommt.

Daher begann ich 1986 sys­te­ma­tisch alle Pati­en­ten, die je in der Poli­kli­nik, in der ich tätig war, reani­miert wor­den waren, zu befra­gen, ob sie Erin­ne­run­gen an die Zeit ihres Herz­still­stan­des hät­ten. Und ich war nicht wenig erstaunt, dass mir von fünf­zig Pati­en­ten, die in der Ver­gan­gen­heit einen Herz­still­stand über­stan­den hat­ten, zwölf von der­ar­ti­gen Nah­tod­erfah­run­gen berich­te­ten.“

Und wei­ter schreibt er:

Doch die zahl­rei­chen Berich­te, die ich nun zu hören bekam, weck­ten mei­ne Neu­gier. Denn schliess­lich ist es nach dem heu­ti­gen Stand der Medi­zin nicht mög­lich, Bewusst­sein zu erfah­ren, wenn das Herz nicht mehr schlägt. Wäh­rend eines Herz­still­stands ist ein Pati­ent kli­nisch tot. Als kli­ni­schen Tod bezeich­net man eine Pha­se der Bewusst­lo­sig­keit, die auf eine unzu­rei­chen­de Blut­ver­sor­gung des Gehirns bei Kreis­lauf­ver­sa­gen und/oder Atem­still­stand zurück­geht.“

Schnell wie ein Pfeil in eine glück­se­li­ge Welt

Im zwei­ten Kapi­tel „Eine Nah­tod­erfah­rung und das Leben danach“ gibt van Lom­mel die Schil­de­rung einer NTE einer schwan­ge­ren Frau wäh­rend der Ent­bin­dung ihres Kin­des wie­der (Sei­te 28/29):
„Plötz­lich bemer­ke ich, dass ich von oben auf eine Frau hin­ab­schaue, die auf dem Bett liegt, ihre Bei­ne ruhen auf Stüt­zen. Ich sehe die Panik der Pfle­ge­kräf­te und Ärz­te, ich sehe eine Men­ge Blut auf dem Bett und auf dem Boden und gros­se Hän­de, die sehr fest auf ihren Bauch drü­cken, und dann sehe ich, wie sie von einem Kind ent­bun­den wird.
Das Kind wird sofort in einen ande­ren Raum gebracht. Die Pfle­ge­kräf­te wir­ken nie­der­ge­schla­gen. Alle war­ten. Mit einem har­ten Schlag fällt mein Kopf nach hin­ten, als man mir das Kopf­kis­sen mit einem Schwung weg­zieht. Wie­der sehe ich, wie hek­ti­sche Betrieb­sam­keit auf­kommt. Schnell wie ein Pfeil schies­se ich durch einen dunk­len Tun­nel. Ein inten­si­ves fried­li­ches und seli­ges Gefühl durch­strömt mich. Ich füh­le mich von Grund auf zufrie­den, glück­lich, ruhig und fried­voll. Ich höre herr­li­che Musik. Ich sehe schö­ne Far­ben und eine gros­se Wie­se mit herr­li­chen Blu­men, in allen nur denk­ba­ren Schat­tie­run­gen. In der Fer­ne leuch­tet ein schö­nes, hel­les, war­mes Licht. Dort muss ich hin. Ich sehe eine Gestalt in einem lich­ten Gewand. Sie war­tet auf mich und streckt mir ihre Hand ent­ge­gen. Ich füh­le, dass sie mich herz­lich und lie­be­voll emp­fängt. Hand in Hand gehen wir auf das schö­ne war­me Licht zu. Dann lässt sie mei­ne Hand los und dreht sich um. Ich spü­re, wie mich ein Sog zurück­zieht. Ich muss zurück. Ich mer­ke, wie eine Kran­ken­schwes­ter mich hart auf die Wan­ge schlägt und mich ruft.“

Schwie­rig ein­zu­ord­nen­de Erfah­run­gen

Die­se dra­ma­ti­sche Schil­de­rung einer NTE steht aller­dings bei wei­tem nicht allei­ne da. Van Lom­mel führt wei­ter aus (Sei­te 35/36):
„Neue­re ame­ri­ka­ni­sche und deut­sche For­schun­gen haben erge­ben, dass unge­fähr 4,2 Pro­zent der Bevöl­ke­rung von
einer NTE berich­ten… For­schun­gen haben zudem erge­ben, dass die meis­ten Pati­en­ten über ihre NTE schwei­gen, weil man ihnen beim ers­ten vor­sich­ti­gen Ver­such, über ihre Erfah­rung zu spre­chen, kei­nen Glau­ben schenk­te.“
Es ist bei allem Kul­tur­fort­schritt, den die Men­schen zwei­fels­oh­ne in den letz­ten Jahr­hun­der­ten voll­zie­hen konn­ten, nicht erstaun­lich, dass Schil­de­run­gen, die geis­ti­ge, also nicht auf Kör­per­pro­zes­se gestütz­te Erfah­run­gen wie­der­ge­ben, unge­wöhn­lich, ja viel­leicht unglaub­wür­dig erschei­nen. Denn wir sind sehr dar­auf sozia­li­siert, fast aus­schliess­lich auf das irdisch Fass­ba­re zu fokus­sie­ren, die­ses ein­zig anzu­er­ken­nen und gel­ten zu las­sen. Wir sind geis­ti­ge Erfah­run­gen ein­fach nicht beson­ders gewohnt.
Beim Lesen der aus­ser­ge­wöhn­li­chen Erfah­run­gen der schwan­ge­ren Frau wäh­rend ihrer dra­ma­ti­schen Ent­bin­dung fra­gen wir uns viel­leicht, ob es sein kann, was da aus­ge­sagt ist, ob es nicht eine Täu­schung von irgend­wo­her sei. Wir ver­ges­sen dabei, dass prak­tisch alle alten Kul­tu­ren, von denen wir irgend­wie Kennt­nis haben, ein ganz kla­res und ein­deu­ti­ges Ver­hält­nis zum geis­ti­gen Dasein ein­nah­men, es sogar vor­aus­setz­ten und als Ori­en­tie­rung wich­tig nah­men.
Eigen­stän­di­ge Exis­tenz der See­le

Die alten Phi­lo­so­phen wuss­ten selbst­ver­ständ­lich von der Prä- und Post­exis­tenz der See­le. Als berühm­tes und ein­fluss­rei­ches Bei­spiel mag hier der anti­ke Phi­lo­soph Pla­ton die­nen, gebo­ren 428/427 v. Chr. in Athen oder Aigi­na, gestor­ben 348/347 v. Chr. in Athen. Als Schü­ler von Sokra­tes begrün­de­te er die berühm­te Pla­to­ni­sche Aka­de­mie, die ältes­te insti­tu­tio­nel­le Phi­lo­so­phen­schu­le Grie­chen­lands, von der aus sich das dort gepfleg­te Wis­sen über die gan­ze anti­ke Welt ver­brei­te­te.
Pla­ton hat­te kla­re Vor­stel­lun­gen zur eigen­stän­di­gen Exis­tenz der See­le. Sie gilt ihm als imma­te­ri­el­les Prin­zip des Lebens, als unsterb­lich näm­lich, besteht vor dem Auf­bau
einer leib­li­chen Hül­le (des Kör­pers), schafft sich im Kör­per eine ande­re, dem irdi­schen zuge­wand­te Wohn­statt und kehrt im Tode in die geis­ti­ge Hei­mat zurück. Hier kann die See­le auch wie­der auf unge­trüb­te Wei­se erken­nen, sind ihr die wesent­li­chen Din­ge nicht ver­hüllt.
Des­halb war das Ver­hält­nis zum Tod für Pla­ton ein durch und durch posi­ti­ves, hat­te über­haupt nichts Beängs­ti­gen­des, im Gegen­teil. Die See­le konn­te nach dem Able­gen des Lei­bes, nach Mass­ga­be des geleb­ten Daseins, in einer der Rein­heit der See­le ange­mes­se­nen Umge­bung, ein glück­li­ches Leben im Ange­sicht der Göt­ter rea­li­sie­ren, bis sie sich wie­der­um erneut mit einer irdi­schen Wohn­statt umgibt und reinkar­niert.

Die Geset­ze des Wie­der­kom­mens und der Schick­sals­ge­stal­tung

War­um soll­te ich nicht so oft wie­der­kom­men, als ich neue Kennt­nis­se, neue Fer­tig­kei­ten zu erlan­gen geschickt bin?“, fragt Gott­hold Ephraim Les­sing 1780 am Ende sei­nes reli­gi­ons­phi­lo­so­phi­schen Haupt­werks „Die Erzie­hung des Men­schen­ge­schlechts“. Erneut tritt hier der Gedan­ke des Wie­der­kom­mens und der Schick­sals­ge­stal­tung auch im christ­li­chen Euro­pa ganz eigen­stän­dig unter die Son­ne der Öffent­lich­keit.
Was die Alten noch wuss­ten, ver­blass­te nach und nach, wur­de ver­ges­sen, spiel­te irgend­wann im offi­zi­el­len Leben gar kei­ne Rol­le mehr. Aris­to­te­les sel­ber, auch ein Sohn Grie­chen­lands und lan­ge Zeit ein Schü­ler Pla­tons an sei­ner Aka­de­mie, hat­te die­se Ent­wick­lung ein­ge­lei­tet. Das aris­to­te­li­sche Gedan­ken­gut wur­de für das latei­nisch­spra­chi­ge Mit­tel­al­ter prä­gend. Bis in die frü­he Neu­zeit bezog man sich mass­geb­lich auf die seit dem 12./13. Jahr­hun­dert voll­stän­dig in latei­ni­scher Spra­che vor­lie­gen­den aris­to­te­li­schen Schrif­ten, setz­te sich mit ihnen aus­ein­an­der, gleis­te Natur­wis­sen­schaft und For­schung anhand sei­ner Theo­ri­en auf.
Pla­tons See­len­leh­re, in der die Ide­en­welt als Her­kunft und Ursprung alles Wesent­li­chen und auch des Sinn­lich-Wahr­nehm­ba­ren geschaut wird, trat in die­ser Ein­deu­tig­keit in den Hin­ter­grund. Voll­stän­dig ver­sie­gelt wur­de dies dann mit dem Sie­ges­zug der moder­nen Natur­wis­sen­schaft, die eine empi­ri­sche Vor­ge­hens­wei­se ent­wi­ckel­te und begann, sys­te­ma­tisch Daten zu sam­meln, die das Sinn­lich-Phy­si­sche beschrei­ben soll­ten.
Wäh­rend der Uni­ver­sal­ge­lehr­te Ori­gi­nes von Alex­an­dria (185–254) wegen sei­ner Leh­re der Prä­exis­tenz der See­le ver­bannt und der eben­falls von der See­len­wan­de­rung über­zeug­te Phi­lo­soph und Theo­lo­ge Gior­da­no Bru­no (1548–1600) auf dem Schei­ter­hau­fen ver­brannt wur­de, erfragt Les­sing 1780 ganz unver­hoh­len das Wie­der­kom­men als Mög­lich­keit, gebun­den nur an das Motiv der eige­nen Befä­hi­gung und Wei­ter­ent­wick­lung. Ja, er fragt kon­se­quent wei­ter:
„Brin­ge ich auf ein­mal so viel weg, da es der Mühe wie­der zu kom­men etwa nicht loh­net? Dar­um nicht? – Oder, weil ich es ver­ges­se, daß ich schon da gewe­sen? Wohl mir, daß ich das ver­ges­se. Die Erin­ne­rung mei­ner vori­gen Zustän­de wür­de mir nur einen schlech­ten Gebrauch des gegen­wär­ti­gen zu machen erlau­ben. Und was ich auf jetzt ver­ges­sen muß, habe ich denn das auf ewig ver­ges­sen?“
Auch für Johann Wolf­gang von Goe­the (1749–1832) war das Kon­zept der Wie­der­ge­burt eine Selbst­ver­ständ­lich­keit, wie er es in den Gesprä­chen mit Ecker­mann anschau­lich und ein­drück­lich zum Aus­druck bringt:
„Wenn einer fünf­und­sieb­zig Jah­re alt ist, kann es nicht feh­len, daß er mit­un­ter an den Tod den­ke. Mich läßt die­ser Gedan­ke in völ­li­ger Ruhe, denn ich habe die fes­te Über­zeu­gung, daß unser Geist ein Wesen ist ganz unzer­stör­ba­rer Natur, es ist ein Fort­wir­ken­des von Ewig­keit zu Ewig­keit. Es ist der Son­ne ähn­lich, die bloß unse­ren irdi­schen Augen unter­zu­ge­hen scheint, die aber eigent­lich nie unter­geht, son­dern unauf­hör­lich fort­leuch­tet.“

Ler­nen und Wir­ken für die Ewig­keit

Im Jahr 1904 erschien das Buch Rudolf Stei­ners „Theo­so­phie, Ein­füh­rung in über­sinn­li­che Welt­erkennt­nis und Men­schen­be­stim­mung“. Die Erst­aus­ga­be ist dem Geis­te Gior­da­no Bru­nos gewid­met, der im Jahr 2000 von Papst Johan­nes Paul II teil­wei­se reha­bi­li­tiert wur­de. Im Kapi­tel „Wie­der­ver­kör­pe­rung des Geis­tes und Schick­sal“ ent­wi­ckelt Rudolf Stei­ner grund­le­gend und eigen­stän­dig die Gedan­ken von Wie­der­ge­burt und Schick­sals­ge­stal­tung.
Wie anders fühlt es sich an, wenn der Mensch dar­um weiss, dass die Bio­gra­fie nicht mit einem Leben beschlos­sen ist, dass wei­te­res Ler­nen mög­lich, noch nicht Gelun­ge­nes in Zusam­men­ar­beit mit dem vor­han­de­nen Men­schen­um­kreis wei­ter­ent­wi­ckelt wer­den kann. Set­ze ich vor­aus, dass ich mit den Men­schen, mit denen ich zusam­men gekom­men bin, wie­der zusam­men kom­men wer­de, dass ich eine neue Chan­ce erhal­te, För­dern­des für die Ande­ren und mich selbst anzu­brin­gen, dann kann die gan­ze inne­re Stim­mung des Men­schen ver­söhn­lich wer­den, ruhig und ver­trau­end. Denn es geht ja nichts ver­lo­ren, weder die Men­schen, die wir lie­ben, noch die Auf­ga­ben, die wir voll­brin­gen möch­ten, und auch nicht die Fer­tig­kei­ten, die schon errun­gen wer­den konn­ten.
Die Taten, die wir voll­brin­gen konn­ten, leben in der Welt wei­ter, weben sich die­ser ein, sind auf­find­bar. In unse­ren Erin­ne­run­gen tief behü­tet tra­gen wir alle Erleb­nis­se, die wir gestal­ten und erfah­ren konn­ten, unver­brüch­lich durch die Zeit. Unser eige­nes Wesen, das sich in immer neu­en Ansich­ten gestal­ten muss, umfasst alle Schät­ze der Erin­ne­rung und spürt die schon gezo­ge­nen Lini­en der Hand­lun­gen auf, fühlt sich zuge­hö­rig, und setzt mit neu­er Kraft wie­der­um an.
So kann man in die so durch und durch auf­bau­en­den Gedan­ken von Les­sing hin­ein­schwin­gen und sich wei­ter­tra­gen las­sen, durch alle Abschie­de hin­durch. Sind es doch Neu­be­gin­ne eines sich immer umfas­sen­der zei­gen­den Wesens, das sich durch das Geheim­nis der Zeit zu neu­en Offen­ba­run­gen hin­durch­ar­bei­tet:
„Oder, weil so zu viel Zeit für mich ver­lo­ren gehen wür­de? – Ver­lo­ren? – Und was habe ich denn zu ver­säu­men?
Ist nicht die gan­ze Ewig­keit mein?“

Fach­per­son

Alex­an­der Fal­dey

Arbeits­schwer­punk­te Stu­di­um der Sprach­kunst in Dor­n­ach.
Sprach­the­ra­peut an der Kli­nik Arle­sheim seit 1999.
Mit­glied der Kli­nik­lei­tung.
Kon­takt alexander.faldey@klinik-arlesheim.ch

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