Im Atemholen sind zweierlei Gnaden

Durch Sprachgestaltungs-Therapie den Atemraum weiten

Immer wenn wir spre­chen, wird die Atmung des Men­schen gestal­tet. Jeder ein­zel­ne Laut, jede Sil­be und jedes Wort bestehen aus strö­mend geform­ter Aus­at­mung. Voll­stän­dig inein­an­der ver­wo­ben sind Spre­chund Atmungs­vor­gang wäh­rend der sprach­li­chen Äus­se­rung, bei­des wirkt unmit­tel­bar auf­ein­an­der ein.

Schon Johann Wolf­gang von Goe­the hat das rhyth­misch-wech­seln­de Wesen des Atmungs­vor­gangs poe­tisch-tief­sin­nig und tref­fend aus­ge­drückt:

Im Atem­ho­len sind zwei­er­lei Gna­den:
Die Luft ein­ziehn, sich ihrer ent­la­den;
Jenes bedrängt, die­ses erfrischt;
So wun­der­bar ist das Leben gemischt.
Du dan­ke Gott, wenn er dich presst,
Und dank ihm, wenn er dich wie­der ent­lässt.

Die Vor­stel­lung aber, dass mit den Atmungs­vor­gän­gen nicht nur phy­sio­lo­gi­sche Pro­zes­se im Kör­per ablau­fen, son­dern viel umfas­sen­der noch das Ver­bin­den und Lösen in Wech­sel­wir­kung mit der Welt real statt­fin­den, wuss­ten die alten Kul­tu­ren offen­bar genau und gaben ent­spre­chen­de, weit auf­ge­spann­te Begrif­fe:

Atman – Atman bzw. Atma (Sans­krit, ātman, Pali: atta, ursprüng­lich: Lebens­hauch, Atem) ist ein Begriff aus der indi­schen Phi­lo­so­phie. Er bezeich­net das indi­vi­du­el­le Selbst, die unzer­stör­ba­re, ewi­ge Essenz des Geis­tes und wird häu­fig als See­le über­setzt.

Odem – „Da mach­te Gott der HERR den Men­schen aus Erde vom Acker und blies ihm den Odem des Lebens in sei­ne Nase. Und so ward der Mensch ein leben­di­ges Wesen.“ (1. Mose 2,7)

Pneu­ma – Das Pneu­ma (von grie­chisch πνεῦμα pneũ­ma, „Geist“, „Hauch“, „Luft“, „Atem“, ver­glei­che etwa Pneu­mo­lo­gie oder Pneu­ma­tik) weist Bezü­ge zum Geist auf. So kann Hagi­on Pneu­ma als Hei­li­ger Geist über­setzt wer­den. Das anti­ke Kon­zept des Pneu­mas ist aber nicht nur auf den Geist bezo­gen, son­dern wei­ter gefasst. Es bedeu­tet auch so etwas wie Wir­bel, Wind­hauch oder Druck und hat Bezü­ge zu ähn­li­chen Kon­zep­ten wie dem chi­ne­si­schen Qì (Chi) oder dem indi­schen Pra­na bzw. dem indi­schen Aka­sha, vgl. auch Atem­see­le.
Bei den Stoi­kern wird pneu­ma auch als eine Art „feu­ri­ger Luft­hauch“ gebraucht, der alles durch­dringt und somit kos­mi­sche Macht hat (eine Art Schick­sal).

Wenn man sich nur ein wenig in die­se Begrif­fe hin­ein­ar­bei­tet, bei­spiels­wei­se beim Wort Atman, wei­tet sich der Hori­zont schnell:

Im Zeit­al­ter der Upa­nis­ha­den (750–500 v. Chr.) wer­den die Wel­ten­see­le Brah­man und das indi­vi­du­el­le Selbst, Atman, als Wesens­ein­heit begrif­fen, die das wah­re Wesen der Welt reprä­sen­tiert. Die­ses Eine wer­de im Kos­mos als Brah­man, im Ein­zel­nen als Atman erkenn­bar. Als Ziel des Lebens gilt es hier, die Ein­heit von Atman und Brah­man zu erken­nen. Atman sei stän­dig exis­tent und nie von der kos­mi­schen Kraft, dem Brah­man, getrennt, es ver­än­de­re sich nicht. Die indo­ger­ma­ni­sche Sprach­wur­zel von Atman ist im deut­schen Wort „Atem“ wie­der­erkenn­bar (von ēt-men, sie­he auch alteng­lisch æthm).

Es kann einem in der Besin­nung auf die tie­fer­lie­gen­de Bedeut­sam­keit der Atem­phy­sio­lo­gie kla­rer wer­den, wie stark die kör­per­lich-see­li­sche und geis­ti­ge Ver­fas­sung des Men­schen im Erkran­kungs­fall der sach­ge­mäs­sen und behut­sa­men Unter­stüt­zung bedür­fen, sei es in der aku­ten und bis­wei­len dra­ma­tisch ablau­fen­den Situa­ti­on der Lun­gen­ent­zün­dung, sei es im oft lang­wie­ri­gen und manch­mal auch müh­sa­men Ver­lauf der mög­li­chen chro­ni­schen Erkran­kun­gen der Lun­ge, wie bei­spiels­wei­se Asth­ma, COPD (chro­nisch obstruk­ti­ve Lun­gen­er­kran­kung) oder Lun­gen­fi­bro­se.
In der Kli­nik Arle­sheim tra­gen wir die­sen Auf­ga­ben­stel­lun­gen durch mög­lichst fein abge­stimm­te Behand­lungs­kon­zep­te Rech­nung und för­dern die Hei­lung des Pati­en­ten von ver­schie­de­nen Sei­ten. Behut­sam aus­ge­wählt, unter­stüt­zen pfle­ge­ri­sche Anwen­dun­gen wie bei­spiels­wei­se Brust­wi­ckel mit Ing­wer- oder Senf­an­wen­dung, Nie­ren­wi­ckel mit Schach­tel­halm oder Ing­wer, Brust­auf­la­gen mit Thy­mi­an- oder Laven­del­öl die Selbst­hei­lungs­kräf­te. Ver­schie­de­ne anthro­po­so­phi­sche Medi­ka­men­te kom­men nach sorg­fäl­ti­gen Über­le­gun­gen zum Ein­satz. In der aku­ten und womög­lich fieb­ri­gen Situa­ti­on ermög­li­chen wir durch genü­gend Ruhe die begin­nen­de Gene­sung. Hat sich die Ver­fas­sung des Pati­en­ten ein wenig kon­so­li­diert, kön­nen kunst­the­ra­peu­ti­sche Ansät­ze (Spra­che, Musik, Malen und Gestal­ten) sowie Hei­leu­ryth­mie die Heil­pro­zes­se wei­ter beför­dern.

Sprach­ge­stal­tungs-The­ra­pie als Anlei­tung zum eigen­stän­di­gen Üben

Die Sprach­ge­stal­tungs-The­ra­pie erar­bei­tet mit den Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten Übun­gen, die das Atem­vo­lu­men ver­grös­sern und den Atem­pro­zess bewusst und nach­hal­tig ver­bes­sern. Die­se Übun­gen kön­nen schnell erlernt und bald selb­stän­dig durch­ge­führt wer­den.
Dabei ist anfangs von gros­ser Bedeu­tung, dass erlernt wird, das Zwerch­fell, den wich­tigs­ten Atem­mus­kel, der genau wie eine Dop­pel­kup­pel zwi­schen Brust­raum und Bauch­raum liegt, beim Ein­at­men immer wei­ter nach unten zu sen­ken. Die­ses nach unten Sen­ken erwei­tert das Atem­vo­lu­men in die inne­ren Orga­ne Leber und Milz hin­ein, die sich von unten in die Zwerch­fell-Kup­peln hin­ein­schmie­gen.
Die­ser Pro­zess der Ein­at­mung ist phy­sio­lo­gisch aktiv und wird durch die The­ra­pie nach und nach immer tie­fer nach unten geführt. Die Welt der inne­ren Stoff­wech­sel-Pro­zes­se wird gestal­tet und ange­regt, Leber und Milz wer­den sys­tem­ge­mäss ange­spro­chen und akti­viert. Die Lebens­kräf­te des Orga­nis­mus erfah­ren eine ihnen nahe­lie­gen­de Anre­gung und Rhyth­mi­sie­rung.
Ande­rer­seits kann dann der Aus­at­mungs­strom – gestützt durch die Bauch- und Rumpf­mus­keln, die eine gere­gel­te Luft­aus­at­mung und Stimm­fes­tig­keit ermög­li­chen – nach und nach bes­ser und voll­stän­di­ger akti­viert wer­den. In der Fol­ge kann sowohl bei der Ein- als auch der Aus­at­mung ein ver­tief­ter und ver­fei­ner­ter Bezug zum Kör­per­erle­ben und zur Eigen­ak­ti­vi­tät gespürt und umge­setzt wer­den.
Die Aus­at­mung ist phy­sio­lo­gisch eigent­lich pas­siv. In der Sprach­ge­stal­tungs­the­ra­pie akti­vie­ren und inten­si­vie­ren wir sie jedoch gezielt und ange­mes­sen. Das ist durch die will­kür­li­che Mus­ku­la­tur im Rumpf nach und nach immer dif­fe­ren­zier­ter gestalt­bar und im Fort­schritt nur an das über­schau­ba­re, selb­stän­di­ge Üben gebun­den. Prak­tisch alle Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten sind davon posi­tiv über­rascht: “Man kann also ganz viel sel­ber tun, um die Atmung bes­ser zu regu­lie­ren.” Die Selb­stän­dig­keit schafft das nöti­ge Ver­trau­en und Selbst­be­wusst­sein. “Ich spü­re, dass sich etwas Umfas­sen­des in mei­nem Kör­per und mei­nem Befin­den ver­bes­sert — und ich kann aktiv etwas dazu bei­tra­gen!”

Lau­te gestal­ten und dif­fe­ren­zie­ren den Atem

Inner­halb der Sprach­ge­stal­tungs­the­ra­pie kom­men Laut-, Sil­ben-, Wort- und Satz­übun­gen gezielt zum Ein­satz. Jeder Laut modu­liert die Aus­at­mung auf eige­ne, sehr spe­zi­fi­sche Wei­se. Es gibt Lau­te, die den Atem­strom fast unge­hin­dert durch­flies­sen las­sen, wie bei­spiels­wei­se die Blas­elau­te F, SCH, H. Ande­re Lau­te stau­en in einem kur­zen Span­nungs­mo­ment die Aus­at­mung zurück in Lun­ge, Atem­hilfs­mus­ku­la­tur und Zwerch­fell — nur um dann die Luft stark dyna­misch und schnell nach aus­sen zu kata­pul­tie­ren. Das sind Stoss-Lau­te wie P, B — D, T — K, G. Die­se inten­si­ven Stau­un­gen und Ent­span­nun­gen gestal­ten die Lun­ge, die Atem­hilfs- und Rumpf­mus­ku­la­tur ganz aus­ser­or­dent­lich anre­gend, för­dernd und stär­kend.
Die indi­vi­du­ell zusam­men­ge­stell­ten Übungs­pro­gram­me wer­den kon­ti­nu­ier­lich den wie­der­erwa­chen­den und wach­sen­den Selbst­hei­lungs­kräf­ten der Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten ange­passt. Es hat oft etwas sehr Befrei­en­des, den gesund­heit­li­chen Fort­schritt auch durch die eigen­stän­di­ge Übungs­ak­ti­vi­tät wei­ter zu för­dern und zu fes­ti­gen.
So mag viel­leicht auch Johann Wolf­gang von Goe­the sich erleich­tert gefühlt haben, als er, sich aus einer ihn hem­men­den und belas­ten­den Lebens­si­tua­ti­on befrei­end, nach einer Boots­fahrt auf einem Schwei­zer See nie­der­schrieb:

Und fri­sche Nah­rung, neu­es Blut
Saug’ ich aus frei­er Welt;
Wie ist Natur so hold und gut,
Die mich am Busen hält!
Die Wel­le wie­get unsern Kahn
Im Ruder­takt hin­auf,
Und Ber­ge, wol­kig him­mel­an,
Begeg­nen unserm Lauf…

 

Fach­per­son

Alex­an­der Fal­dey

Arbeits­schwer­punk­te Stu­di­um der Sprach­kunst in Dor­n­ach.
Sprach­the­ra­peut an der Kli­nik Arle­sheim seit 1999.
Bereichs­lei­ter The­ra­pi­en
Kon­takt alexander.faldey@klinik-arlesheim.ch

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