Heilsame Klänge

Die Musik­the­ra­pie wird von Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten als wohl­tu­end beru­hi­gend wie auch bele­bend emp­fun­den. Die lösen­de und befrei­en­de Wir­kung ist bei aku­ten und chro­ni­schen Erkran­kun­gen der Atem­we­ge von gros­ser Bedeu­tung. Vio­la Heckel, Musik­the­ra­peu­tin an der Kli­nik Arle­sheim, berich­tet von viel­fäl­ti­gen Erleb­nis­sen bei ihrer Tätig­keit.

Die Atmung ist der Grund­rhyth­mus unse­res Lebens. Als ein zen­tra­ler Lebens­pro­zess ver­sorgt er unse­ren Orga­nis­mus mit dem not­wen­di­gen Sauer­stoff. Gleich­zei­tig ist der Atem­rhyth­mus ein wich­ti­ger Indi­ka­tor des Gesund­heits­zu­stan­des. Das Bemer­kens­wer­te am gesam­ten Atmungs­vor­gang ist, dass die Lun­ge selbst über­haupt kei­ne Mus­ku­la­tur hat. Dank der Unterstützung durch frem­de Mus­keln erhält sie gleich­sam eine “exter­ne” Atem­hil­fe.

Die Seele beweglich machen

Bei Erkran­kun­gen der Atem­we­ge ist der Atem­rhyth­mus meist gestört, er wird unre­gel­mäs­sig; oder aber das Atmungs­sys­tem ist sogar wie erstarrt und in der Atem­tie­fe ein­ge­schränkt. Musik­the­ra­pie kann hier eine Dyna­mik aus­lö­sen und den Atem wie­der zum Strö­men brin­gen. Der Ansatz geht über das see­li­sche Erleb­nis. Das In-Schwin­gung-Kom­men der See­le über­trägt sich unmit­tel­bar auf die phy­sio­lo­gi­schen Pro­zes­se: Die Atmung ver­tieft sich, die Lun­gen­funk­ti­on wird ver­bes­sert. Sin­gen ist gesund. Der Atem wird belebt und har­mo­ni­siert. Der Klang, der durch die mensch­li­che Gestalt hin­durch schwingt, bringt gestau­te Ener­gi­en wie­der in Fluss. Dabei spie­len die Lau­te eine gros­se Rol­le: Die Bil­dung von Kon­so­nan­ten regt form­ge­ben­de Pro­zes­se an, das voka­li­sche Sin­gen spricht mehr das see­li­sche Emp­fin­den an und ermög­licht eine inner­li­che Ver­tie­fung. Beson­ders wich­tig ist die Arbeit mit Lau­ten, die den Kehl­be­reich und den Zun­gen­grund beweg­li­cher machen, die Atem­we­ge durchlüften und durch­blu­ten und eine schleim­lö­sen­de Wir­kung ent­fal­ten. Durch die Metho­de von Wer­beck-Svärd­ström (sie­he Kas­ten­text auf der nächs­ten Sei­te) wird die Auf­merk­sam­keit auf die fei­nen Mus­kel­be­we­gun­gen gerich­tet, die für die Ent­ste­hung der Lau­te not­wen­dig sind, immer in Ver­bin­dung mit dem klin­gen­den Ton als tra­gen­dem Ele­ment. Die Wir­kung auf den Atem voll­zieht sich mehr indi­rekt.

Die Stimme entfalten

Manch­mal ist dem Pati­en­ten das Sin­gen zunächst nicht mög­lich – etwa wenn die Stim­me zu wenig gebraucht und wie „ver­schüt­tet“ ist. Die gesangs­the­ra­peu­ti­schen Übun­gen hel­fen, die Stim­me wie­der zum Vor­schein zu brin­gen. Unter­stüt­zend kann ein beglei­ten­den­des Instru­ment, das vom The­ra­peu­ten gespielt wird, eine Hülle schaf­fen, in die hin­ein sich die Stim­me ent­wi­ckelt. Bewährt hat sich hier die Lei­er mit ihrem einhüllenden Klang, der ein lau­schen­des Hören anregt.1
Die heil­sa­me Wir­kung von Musik konn­te ich immer wie­der auch bei Ster­ben­den mit Lun­gen­pro­ble­men erfah­ren. In der Arbeit mit ihnen zeig­te sich, wie Melo­di­en und Klän­ge, beson­ders Sin­gen befrei­end und unter­stüt­zend wirk­ten und Sym­pto­me wie Angst und Atem­not gelin­dert wur­den. In eini­gen Situa­tio­nen war sogar Sel­ber-Sin­gen bzw. Mit­sin­gen mit der The­ra­peu­tin mög­lich.

Die Singstimme wiederfinden

Eine 70-jäh­ri­ge Pati­en­tin berich­tet, dass das Sin­gen immer zu ihrem Leben dazu­ge­hört habe. Eini­ge Jah­re zuvor änder­te sich dies, die Stim­me wur­de plötz­lich sprö­de, bekam einen har­ten Klang, gehorch­te ihr nicht mehr. Beim Ver­such zu sin­gen spürte sie ein Bren­nen hin­ter dem Brust­bein. Die Stim­me wur­de ihr zuneh­mend frem­der, und sie gab die Sing­ver­su­che auf. Den Ver­lust ihrer Stim­me emp­fand sie gleich­zei­tig als Ver­lust ihrer Iden­ti­tät. Gesund­heit­lich ging es ihr zuneh­mend schlech­ter, Atem­not und Kraft­lo­sig­keit stell­ten sich ein. Unter­su­chun­gen erga­ben, dass sie aus­ser an ihren bereits bekann­ten asth­ma­ti­schen Beschwer­den mit bron­chia­ler Über­emp­find­lich­keit zusätz­lich an COPD litt, einer chro­nisch obstruk­ti­ven Lun­gen­er­kran­kung, was in der Kom­bi­na­ti­on auch als Asth­ma-COPD-Über­lap­pungs­syn­drom (ACOS) bezeich­net wird. Sie kam in die Musik­the­ra­pie und merk­te sehr schnell, dass das Bren­nen in der Brust nach­liess und mit Hil­fe der gesangs­the­ra­peu­ti­schen Übun­gen die Stim­me ganz lang­sam wie­der­kam. „Ich spü­re, wie ich durch die­se The­ra­pie­stun­den wie­der zu mir selbst, zu mei­ner Iden­ti­tät und auch zu mei­ner Lebens­quel­le fin­den kann“, berich­tet sie. Allein fällt das Sin­gen ihr noch schwer, ihre Lebens­kräf­te sind schnell erschöpft. Es ist ein­fa­cher, gemein­sam in der The­ra­pie an die­se Erfol­ge anzu­knüp­fen. Das Asth­ma und die COPD haben sich wesent­lich gebes­sert. Der Atem ist frei­er gewor­den. Es ist der eigen­schöp­fe­ri­sche Vor­gang der Ton­bil­dung, der geis­tig-see­li­sche Tätig­keit auf­ruft und hei­len­de Sub­stanz ent­ste­hen lässt. Die kör­per­ei­ge­nen Abwehr­kräf­te wer­den auf die­se Wei­se gestärkt, und das Immun­sys­tem kann Fremd­ein­flüs­se so bes­ser ver­ar­bei­ten.

Musikalischer Atem

Sin­gend wer­den wir sel­ber zum Instru­ment und erle­ben eine unmit­tel­ba­re Wir­kung auf den Atem. Spie­len wir ein Instru­ment, voll­zieht sich über die Hör­tä­tig­keit und die Bewe­gung eine Rück­wir­kung auf phy­sio­lo­gi­sche Vor­gän­ge. Der Atem wird je nach Spiel­art modi­fi­ziert. Die Tenor-Chrot­ta ist ein in der The­ra­pie bevor­zug­tes, im Inter­vall der Quint gestimm­tes, vier­sai­ti­ges Streich­in­stru­ment, ent­spre­chend der Ton­la­ge eines Cel­los, das zwi­schen den Bei­nen gehal­ten wird.2 Der wohl­tu­en­de Klang in Ver­bin­dung mit der rhyth­mi­schen Streich­be­we­gung des Bogens im Wech­sel von Abund Auf­strich über die lee­ren Sai­ten befreit den Atem. Das Quin­tin­ter­vall spricht ins­be­son­de­re das musi­ka­li­sche Atem­erleb­nis an. So ver­mit­telt die auf­wärts geführte Quin­te eine fra­gen­de See­len­hal­tung, ein­her­ge­hend mit dem Gefühl see­li­scher Ein­at­mung. Erklingt das Quin­tin­ter­vall von oben nach unten, erle­ben wir einen Ant­wort­cha­rak­ter, der zu see­li­scher Aus­at­mung führt. Die tie­fe Ton­la­ge för­dert eine Erwär­mung bis in die Bei­ne, auch dadurch, dass der Pati­ent die Schwin­gun­gen des Instru­ments sel­ber spürt.

Ein Pati­ent, Mit­te 50, mit der Dia­gno­se einer Bron­chio­pneu­mo­nie bei einer bestehen­den COPD war so geschwächt, dass ihm die Kraft zum Auf­ste­hen fehl­te, eben­so die Kraft zum Sin­gen. Aber er konn­te, im Bett lie­gend, die Zim­bel spie­len: Dabei wer­den zwei aus Bron­ze geschmie­de­te fla­che Klang­tel­ler zusam­men­ge­führt, bis im Moment der Begeg­nung ein hel­ler Ton erklingt, eine sich aus­brei­ten­de Arm­be­we­gung beglei­tet den lan­gen Nach­klang. Die rhyth­mi­sche Spiel­ge­bär­de der Arme zwi­schen Zen­trum und Umkreis reg­te bei dem Pati­en­ten ein ganz­heit­lich durch­schwin­gen­des Klang­er­le­ben an. Sein Brust­be­reich wei­te­te sich, die Atmung rhyth­mi­sier­te und ver­tief­te sich. Sie wur­de nicht mecha­nisch trai­niert, son­dern über die see­li­sche Wahr­neh­mung belebt und hat­te dadurch eine ande­re Qua­li­tät. Als beson­ders ange­nehm erleb­te er die tie­fen Töne der Tenor-Chrot­ta. Ich leg­te ihm die Chrot­ta unter sei­ne Fuss­soh­len und strich die Sai­ten. Bei die­ser Art der Anwen­dung tre­ten zum Hör­ein­druck Vibra­ti­ons­er­leb­nis­se von aus­sen hin­zu: Ein war­mes Gefühl brei­te­te sich in ihm aus, die Ver­kramp­fung im Brust­be­reich begann sich zu lösen, und er konn­te wie­der bes­ser aus­at­men. Für einen ande­ren Pati­en­ten hat sich nach einer Lungenentzündung das Spie­len der tie­fen Block­flö­ten bewährt, um den Atem ins Strö­men zu brin­gen und die Aus­at­mung anzu­re­gen. Eine Pati­en­tin mit einem Bron­chi­al­kar­zi­nom fühlte sich beim Spiel der Bor­dun­lei­er3 vom Atem der Musik getra­gen und brach­te das so zum Aus­druck: „Der flies­sen­de Klang geht zusam­men mit der Melo­die des Lie­des, mit dem Rhyth­mus der Melo­die — ein Erleb­nis gros­ser Frei­heit“.

In den Rhythmus bringen

Musik wirkt als Gefühls­er­leb­nis auf die Atem­be­we­gung, den Atem- und Herz­rhyth­mus und so indi­rekt auf Bewe­gung und Durch­blu­tung aller Orga­ne. Sie gleicht die pola­ren Span­nun­gen zwi­schen ver­här­ten­den oder mehr zur Auf­lö­sung nei­gen­den Krank­heits­ten­den­zen rhyth­mi­sie­rend aus. Bei Atem­pro­ble­men lie­gen häu­fig auch Pro­ble­me mit dem Rhyth­mus vor, zum Bei­spiel ein gestör­ter Lebens­rhyth­mus. Um dem ent­ge­gen­zu­wir­ken, brau­chen wir den rhyth­mi­schen Wech­sel von Bin­den und Lösen. Die in Melo­di­en, Har­mo­ni­en und Rhyth­men zur Ent­fal­tung kom­men­de Musik bil­det im Klin­gen und Ver­klin­gen der Töne die­ses rhyth­mi­sche Wech­sel­ge­sche­hen wie in einem übergeordneten Atem­pro­zess ab. Durch das Rhyth­mi­sche schaf­fen wir Leben­dig­keit. Men­schen mit Atem­pro­ble­men haben oft ein beeng­tes Gefühl im Brust­korb. Sie füh­len sich wie ein­ge­schnürt. Dann machen wir Übun­gen, die die Leben­dig­keit anre­gen, den Klang heben, den Atem nach unten füh­ren und dadurch befrei­end wir­ken. Bei den immer kür­zer wer­den­den Auf­ent­halts­dau­ern im Spi­tal kann in der The­ra­pie meis­tens ein wich­ti­ger ers­ter Impuls gege­ben wer­den. Für eine nach­hal­ti­ge Wir­kung ist es sinn­voll, die The­ra­pie ambu­lant fort­zu­set­zen.

Aufschlussreiche Forschung

Das oben beschrie­be­ne musi­ka­li­sche Hören „heil­sa­mer Klän­ge“ regt den Atem der See­le an und kann die Phy­sio­lo­gie, ins­be­son­de­re das Zusam­men­spiel von Atmung, Herz und Kreis­lauf, in posi­ti­ver Wei­se beein­flus­sen. So kommt dem Zuhö­ren auf eine vor­ge­spiel­te oder vor­ge­sun­ge­ne Musik in der The­ra­pie erheb­li­che Bedeu­tung zu, beson­ders bei sehr geschwäch­ten Pati­en­ten. Beob­ach­tun­gen von Ver­än­de­run­gen des Atems von onko­lo­gi­schen Pati­en­ten bei live gespiel­ter bzw. gesun­ge­ner Musik waren Aus­gangs­punkt einer im Rah­men mei­ner Mas­ter­ar­beit in Zusam­men­ar­beit mit Dani­el Krüer­ke von der For­schungs­ab­tei­lung der Kli­nik Arle­sheim durchgeführten Pilot­stu­die an gesun­den Pro­ban­den zur Wir­kung von Musik auf Atemund Herz­rhyth­mus.4 Die spe­zi­ell für the­ra­peu­ti­sche Zwe­cke ent­stan­de­ne Kom­po­si­ti­on „Mer­kur­bad“ von Maria Schüp­pel, aus­ge­führt mit Lei­er und Gesang, erschien in den genann­ten Situa­tio­nen beson­ders geeig­net und wur­de des­halb als zu unter­su­chen­de Inter­ven­ti­on aus­ge­wählt. Die Ergeb­nis­se der phy­sio­lo­gi­schen und psy­cho­lo­gi­schen Mes­sun­gen an den Pro­ban­din­nen und Pro­ban­den regen dazu an, die Stu­die auch mit Pati­en­ten durch­zu­füh­ren. The­men zur Wir­kung von Musik, spe­zi­ell zur Musik­the­ra­pie, kom­men zuneh­mend in den Fokus der For­schung. Die Kli­nik Arle­sheim möch­te sich wei­ter im Rah­men ihrer Mög­lich­kei­ten dar­an betei­li­gen.

1 Die „neue“ Lei­er wur­de 1926 von dem Musi­ker Edmund Pracht (1898–1974)
und dem Bild­hau­er Lothar Gärt­ner (1902–1979) gemein­sam ent­wi­ckelt.

2 Die Tenor-Chrot­ta stammt ab vom gäli­schen Crwth und wur­de
für die The­ra­pie wei­ter­ent­wi­ckelt.

3 ein klei­nes Sai­ten­in­stru­ment, gestimmt in der Ton­fol­ge eines
Dur- oder Moll­drei­klangs, das als Klang­lei­er ver­wen­det wird.
Wenn der Spie­ler mit einem Fin­ger über die Sai­ten glei­tet,
ver­bin­den sich Töne zu einem har­mo­ni­schen Klang.

4 Heckel V. (2015) Ver­än­de­run­gen der Atmung bei live-gespiel­ter Musik,
Mas­ter­ar­beit, HS Mag­de­burg-Sten­dal.

 

Fach­per­son

Vio­la Heckel M.A.

Arbeits­schwer­punk­te Musik-und Gesangs­the­ra­peu­tin.
Chor­lei­te­rin.
Anthro­po­so­phi­sche Kunst­the­ra­pie SVAKT.
Kon­takt viola.heckel@klinik-arlesheim.ch

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