
Eine gute Therapie beginnt mit einer guten Aufklärung. Dabei sollte der Umstand, dass alle Untersuchungen unauffällige Befunde liefern, nicht dazu führen, dass dem Patienten gesagt wird, er habe nichts. Unauffällige Befunde schliessen lediglich strukturelle Ursachen für die Beschwerden aus. Beim Reizdarmsyndrom liegt die Problematik nicht auf der Ebene struktureller Defekte, sondern in einer funktionellen Störung; das heisst, bestimmte Abläufe und Prozesse verlaufen anders als normal. Auch diese funktionellen Störungen könnten gemessen und objektiviert werden. Allerdings eignen sich die möglichen diagnostischen Verfahren noch nicht für die Routineanwendung, sondern haben nur in der aktuellen Forschung einen entsprechenden Stellenwert.
Massvoll diagnostizieren und wirksam therapieren
Routinemässig messbar oder nicht – die Vermittlung einer klaren Diagnose und der guten Prognose, die mit dieser Diagnose verbunden ist, hat immer eine klärende und wohltuende Wirkung, auch auf die Patienten-Arzt-Beziehung. Dennoch ist es für die Patientinnen und Patienten nicht immer einfach, die Diagnose anzunehmen. Da gilt es dann aus ärztlicher Sicht, notwendige Diagnostik zu veranlassen, aber überflüssige zu unterbinden.
Die klassische Therapie eines Reizdarmsyndroms ist symptomorientiert. Verstopfung wird durch Abführmittel, Durchfälle werden durch den Darm verlangsamende oder entzündungshemmende Medikamente behandelt. Sinnvoller und nachhaltiger ist es, auch tieferliegende Ursachen mit in Betracht zu ziehen und in geeigneter Weise anzugehen.
Lebensstil mitberücksichtigen
Durch die Berücksichtigung seelisch-geistiger Aspekte des Patienten und die damit verbundene Erweiterung des ärztlichen Blickwinkels entstehen zusätzliche therapeutische Ideen. Immer sollten Erwartungen geklärt und realistische Ziele gesteckt werden. Insbesondere der Einbezug des Patienten in die Therapie zeitigt gute Erfolge. Er sollte befähigt werden, mit seinen Beschwerden selbständig und aktiv umzugehen.
Grundlegende Therapieempfehlungen umfassen folgende Eckpunkte:
- Schlafhygiene
— Ängste ernst nehmen, Stressreduktion
— körperliche Ertüchtigung, Sport
Die beschriebene Überwachheit, die häufig mit Ängsten und Schlafstörungen zusammen auftritt, kann durch allgemeine Lebensstilveränderungen angegangen werden. Zur Schlafhygiene könnten folgende Aspekte förderlich beitragen:
- regelmässige Schlafzeiten
— Beachten einer guten Schlafumgebung
— Ritual vor dem Schlafengehen, zum Beispiel Lesen
— kein Fernsehen mindestens 30 Minuten vor dem Schlafen (reizarme Übergangssituation)
— Rückschau-Übung: 5 Minuten lang den Tag rück- wärts durchdenken und dabei Wesentlichesvon
Unwesentlichem trennen – Was war mir heute wichtig, was war unwichtig?
Bewegung hat einen entspannenden und Schlaf fördernden Aspekt. Insbesondere beim Reizdarmsyndrom vom Verstopfungs-Typ ist Bewegung eine wichtige therapeutische Massnahme, denn sie regt die Peristaltik an, die muskuläre Fortbewegung des Stuhls im Darm. Es empfiehlt sich Ausdauersport wie Joggen, Schwimmen, Wandern.
Ernährungsumstellung
Viele Patientinnen und Patienten profitieren von diätetischen Massnahmen. Um Mangelerscheinungen oder durch strenge Diäten entstehende soziale Einschränkungen zu vermeiden, sollten diätetische Massnahmen in Rücksprache mit dem Arzt oder begleitet durch einen Ernährungstherapeuten durchgeführt werden.
Erstaunlicherweise gibt es einen grossen Anteil Patienten, der von einer glutenfreien Kost profitiert, ohne dass von einer vorliegenden Gluten-Unverträglichkeit ausgegangen werden kann (kein Hinweis auf Zöliakie). Medizinisch sprechen wir in solchen Fällen von einer Gluten-Sensitivität. Erfreulicherweise sind glutenfreie Produkte in Europa meist gut verfügbar, so dass keine relevante Einschränkung der Lebensqualität aus einer solchen Diät resultieren muss.
Ein nächster Schritt wäre eine sogenannte FODMAP-arme Diät, bei der auf bestimmte Kohlenhydrate verzichtet wird. Obwohl es bereits einige Apps gibt, die die Patientinnen und Patienten bei solchen Diäten unterstützen können, sollte eine FODMAP-arme Diät nur in Begleitung durch eine entsprechend geschulte Ernährungsberaterin oder einen Ernährungsberater erfolgen.
Medikamentöse Therapie
Auch die konventionelle Medizin behandelt erst einmal phytotherapeutisch. Bewährteste Mittel sind die Kräutermischung Iberogast (eher bei Oberbauchschmerzen) und das Pfefferminzölpräparat Colpermin. Bei fehlender Wirkung stehen mittlerweile mehrere Substanzgruppen und eine Vielzahl von Medikamenten zur Verfügung, um die Symptome zu lindern.
In der Regel wird stufenweise vorgegangen, so dass bei fehlender Wirkung die Therapie schrittweise intensiviert oder umgestellt wird. Spannend ist, dass neben Medikamenten, die die Stuhltätigkeit regulieren, auch Psychopharmaka in niedrigster Dosierung zum Einsatz kommen, um die Schmerzverarbeitung, die sich in der beschriebenen Überwachheit ausdrückt, therapeutisch anzugehen.
In der Anthroposophischen Medizin bestehen bei Oberbauchschmerzen gute Erfahrungen mit Chamomilla/Malachit und bei Durchfällen und Blähungen mit Birkenkohle, bei Blähungen ebenso mit Carvon. Beim Reizdarmsyndrom vom Verstopfungs-Typ aufgrund verminderter Motilität hat sich Gentiana lutea 30% 3x20 Tropfen vor den Mahlzeiten, pur eingenommen, bewährt. Auch andere Bittermittel kommen häufig zum Einsatz. Aufgrund der in der Regel angespannten seelischen Situation sind zudem kupferhaltige Präparate oft hilfreich.
Konstitutionelle Behandlungen
Ziel der Anthroposophischen Medizin ist, über die Behandlung der akuten Symptomatik hinaus auch eine konstitutionelle Therapie zu beginnen, so dass sich die Bedingungen (der Kontext) des Erkrankens verändern können. Konstitutionsbehandlungen, für die wir verschiedene anthroposophische Mittel verwenden, werden in der Regel individuell angepasst, so dass integrative Therapiekonzepte entstehen, die mit einem ganzheitlichen Ansatz auch die regulativen Kräfte des Patienten ins Gesundungsgeschehen einbinden sollen.
Äussere Anwendungen
Besonders stark wirksam werden von den Patientinnen und Patienten Äussere Anwendungen erlebt. Lavendel-Brustauflagen unterstützen gerade am Abend die Entspannung und vertiefen den Schlaf. Kamillen-Bauchwickel oder Bauchauflagen können bei krampfartigen Schmerzen helfen. Wenn es zu störenden Blähungen kommt, haben sich Baucheinreibungen mit Anis/Kümmel-Öl nicht nur bei Kindern bewährt. Kann ein Völlegefühl nicht durch Bittermittel vor den Mahlzeiten – zur Verdauungsförderung durch Anregung der Gallebildung – ausreichend behandelt werden, so kann ein Schafgarben-Leberwickel entsprechende Linderung bringen.
Zu allen Äusseren Anwendungen ist zu sagen, dass sie als höchst wirksam erlebt werden und gerade durch die erforderliche Nachruhe, die im Anschluss eingehalten werden sollte (mindestens 20 Minuten), auch einen entspannenden und rhythmisierenden Einfluss auf den Tagesablauf haben können.
Bewegungs- und Kunsttherapien
In den aktuellen Leitlinien der DGVS (Deutsche Gesellschaft für Gastroenterologie, Verdauungs- und Stoffwechselerkrankungen) sind Bewegungstherapien (Physiotherapie), autogenes Training, Biofeedback und darmbezogene Hypnotherapie klar empfohlene Therapieansätze. Meist werden sie durch mangelnde Verfügbarkeit entsprechender Therapeuten limitiert.
Die Anthroposophische Medizin empfiehlt hier zusätzlich Kunsttherapien und Heileurythmie. Insbesondere die
Mal-Therapie kann helfen, bei seelischen Konflikten die Bearbeitung zu erleichtern und dadurch die Sorgen zu reduzieren. Bei dominierender Anspannung mit Ängsten profitieren Menschen häufig von Musiktherapie, und die Heileurythmie kann als Bewegungstherapie eine Wirksamkeit bis in die funktionellen Ebenen des Patienten entwickeln.
Mit der Sprachtherapie, welche auch gezielt die Atemprozesse anregen kann, hat man eine weitere Therapiemöglichkeit an der Hand, um Stoffwechselvorgänge im Sinne einer Durchwärmung und angemessenen Gestaltung zu harmonisieren. Die Auswahl der Therapieansätze erfolgt in Absprache mit dem Patienten unter Berücksichtigung der individuellen gesundheitlichen Situation.
Es geht der Patientin deutlich besser
Bei der 36-jährigen Patientin, die im vorangegangenen Artikel beschrieben wurde, wurde ein Reizdarmsyndrom vom Durchfall-Typ diagnostiziert. Die Bauchschmerzen besserten sich mit Iberogast und die Blähungen durch Einnahme von Birkenkohle-Kapseln, Digestodoron (ein anthroposophisches Präparat aus verschiedenen Pflanzen) und Gentiana lutea (Enziantinktur).
Im Verlauf der Konsultationen wurde deutlich, dass die Patientin zusätzlich schlecht schläft und in einer familiären Krise steckt. Wir haben daher das Therapiekonzept durch abendliche Lavendelöl-Brustauflagen ergänzt und eine Mal-Therapie verordnet. Insgesamt geht es bereits deutlich besser. Die Schmerzen sind seltener geworden, die Blähungen ebenfalls, und Durchfälle treten nicht mehr täglich auf, sondern nur noch in besonders stressigen Situationen. Der Bauch bleibt für die Patientin ein Thema, aber er bestimmt nicht mehr den Alltag. Im Verlauf der Therapie ist sie auch mit den familiären Fragen einen grossen Schritt weitergekommen.
Als behandelnder Arzt ist es immer ein Geschenk, über solch ein Krankheitsbild auch Einblicke in die Entwicklungsfelder der Patientinnen und Patienten bekommen zu dürfen. Gerade beim Reizdarmsyndrom scheint eine geduldige Begleitung der Patienten ein ganz wesentlicher Faktor für eine erfolgreiche Therapie zu sein.
Fachperson |
Philipp Busche |
Arbeitsschwerpunkte | Facharzt für Innere Medizin und Gastroenterologie (D). Zusatzbezeichnung Notfallmedizin. Fachbereichsleitung Spezialisten Klinik Arlesheim. Anthroposophische Medizin (GAÄD). Unterrichtet seit 2004 an der Eugen-Kolisko-Akademie (D). Seit 2016 Leiter der Ärzteausbildung Arlesheim. |
Kontakt | philipp.busche@klinik-arlesheim.ch |