Grenzen erfahren — Der Umgang mit den eigenen Kräften

Unser All­tag ist geprägt von Stress, Zeit­man­gel und Rou­ti­ne. All­zu oft funk­tio­niert der Mensch nur noch. Zum Gestal­ten reicht sei­ne Kraft dann nicht mehr. Auf Dau­er manö­vriert er sich in eine Erschöp­fung. Über die­ses Phä­no­men und mög­li­che Lösungs­an­sät­ze sprach Vere­na Jäsch­ke mit Vita Mun­da, Lei­ten­de Ärz­tin an der Ita Weg­man Kli­nik.

Erle­ben Sie in Ihrer Pra­xis tat­säch­lich eine Zunah­me an erschöpf­ten Pati­en­ten?

Ja, die Zahl an erschöpf­ten Pati­en­ten, die Zahl an Erkran­kun­gen, die eigent­lich auf Erschöp­fung zurück­zu­füh­ren sind, nimmt zu. Viel­leicht ist es eine Art Ant­wort auf die Geschwin­dig­keit unse­res Lebens. Ich stel­le aber auch fest, dass die Men­schen heu­te frü­her und offe­ner dar­über spre­chen. Frü­her haben die Men­schen nicht in dem Mas­se über ihre Befind­lich­kei­ten gespro­chen. Sie haben die Müdig­keit, die Erschöp­fung so lan­ge durch­ge­hal­ten, bis sie schwer erkrank­ten.
Ich beob­ach­te heu­te oft, dass das Lebens­kräf­te­pols­ter bei den Men­schen zu dünn ist. Es ist dann not­wen­dig, die­ses auf­zu­bau­en, sonst wird aus der Erschöp­fung, die noch im funk­tio­nel­len Bereich liegt, eine Krank­heit.

Was den­ken Sie, wor­an liegt es, dass heu­te so vie­le Men­schen an ihre Gren­zen kom­men?
Ver­fü­gen die Men­schen tat­säch­lich überweni­ger Kräf­te?

Die Zunah­me an Erschöp­fung beob­ach­te ich bereits im Schul­al­ter. Die Kin­der ste­hen zu früh unter Leis­tungs­druck, sowohl von Sei­ten der Schu­le, aber auch durch die Eltern.
In der Schu­le beginnt die Spi­ra­le des Sich-Über­for­derns, zum Bei­spiel weil zu früh Mög­lich­kei­ten der Ent­wick­lung ein­ge­schränkt wer­den. Wenn die Leis­tun­gen nicht aus­rei­chen, droht der Wech­sel ins Gym­na­si­um nicht zu klap­pen. Ohne Abitur ist der Zugang zum Stu­di­um erschwert. Ohne die rich­ti­ge Aus­bil­dung ist kein gut bezahl­ter Beruf mög­lich. Die­se Spi­ra­le geht in Stu­di­um und Aus­bil­dung wei­ter, im Arbeits­all­tag erst recht. Man arbei­tet viel, über­for­dert sich. Man will Leis­tung brin­gen, um posi­tiv auf­zu­fal­len.
Zudem hat der Medi­en­kon­sum erheb­lich zuge­nom­men. Die Fül­le an Infor­ma­tio­nen, die im Lau­fe des Tages bewusst oder auch unbe­wusst an uns her­an­kom­men, muss erst ­ein­mal ver­ar­bei­tet und ver­daut wer­den. Da kann es leicht zu einem Stau kom­men. Auch heisst Erho­lung heu­te oft­mals, mit Cola und Chips vor dem Fern­se­her oder der Spiel­kon­so­le „abzu­hän­gen“. Dass dadurch nur noch mehr Unver­dau­tes in uns lagert, wird sel­ten genug bewusst.

Was raten Sie Ihren Pati­en­ten?
Wie arbei­ten Sie mit ihnen?

In der Arbeit mit erschöpf­ten Pati­en­ten zeigt sich oft, dass sie nicht mehr wis­sen, was sie gern tun wür­den, wel­che Hob­bys sie haben. Sie haben sich auf ihrem Weg ver­lo­ren und funk­tio­nie­ren nur noch. Ihnen ist der Sinn für ihr Tun abhan­den gekom­men. Dann gehe ich mit ihnen im Gespräch oft bis in ihre Kind­heit zurück. Wir erfor­schen gemein­sam, was ihnen damals Freu­de mach­te, womit sie sich gern beschäf­tigt haben. Oft­mals ist es mög­lich, dar­an anzu­knüp­fen.
Man­chen Pati­en­ten rate ich, am Abend auf den Tag zurück­zu­schau­en mit der Auf­ga­be, nach „Wun­dern“ Aus­schau zu hal­ten. Das ist ein wenig wie fischen gehen. Aller­dings klappt das meist nicht sofort. Wun­der im All­tag zu ent­de­cken, lernt man erst all­mäh­lich. Aber dann ist es sehr ­berei­chernd. Vor allem kann es hel­fen, aus dem Kreis­lauf des Funk­tio­nie­ren-Müs­sens her­aus­zu­kom­men. Nicht nur aus Pflicht­ge­fühl die Erwar­tun­gen erfül­len wol­len, son­dern bewusst den Tag erle­ben, auf­merk­sam sein auf die klei­nen Din­ge, die Freu­de machen, die das Herz erwär­men.
Als Kin­der haben wir Idea­le gehabt, Ster­ne, die uns be­gleiten. Men­schen, die müde sind, haben oft kei­ne Idea­le mehr. Sie sind ihnen ver­lo­ren gegan­gen. Auch hier schaue ich mit mei­nen Pati­en­ten dar­auf zurück, wel­che Idea­le sie frü­her hat­ten, ob man sie auf­grei­fen kann. Idea­le geben Kraft, inne­res Licht, las­sen uns enthu­si­as­tisch wer­den und ermög­li­chen neue Lebens­kei­me.

Die Men­schen sind heu­te im Berufs- und Alltags­leben stark gefor­dert. Leis­tung wird erwar­tet.
Wie kann der Ein­zel­ne dem gerecht wer­den,ohne sich stän­dig zu ver­aus­ga­ben?
Wo lie­gen
die Quel­len unse­rer Kraft?

Unse­re Lebens­kräf­te wer­den durch den Rhyth­mus gestärkt. Bei der heu­ti­gen Hek­tik ver­ges­sen wir uns selbst, wir ver­ges­sen, zu trin­ken und Pau­se zu machen. Wir ach­ten nicht auf unse­re Lebens­kräf­te, zer­stö­ren sie viel­mehr durch unser unre­gel­mäs­si­ges Leben.

Doch das Leben, der All­tag müs­sen bewusst rhyth­misch gestal­tet wer­den, um die Lebens­kräf­te immer wie­der zu ­rege­ne­rie­ren. Man kann zum Bei­spiel auch eine Er­holungskur zu Hau­se machen, wenn man einen Monat lang ­kon­se­quent zu den­sel­ben Zei­ten schla­fen geht, auf­steht, isst, Pau­sen macht. Die­ser Monats­rhyth­mus ist beson­ders wich­tig, damit sich die Lebens­kräf­te erho­len kön­nen. Das kann man auch beob­ach­ten, wenn man Gewohn­hei­ten ändern will. Dann dau­ert es auch einen Monat, bis die neue Gewohn­heit ver­in­ner­licht ist.
Aus­ser­dem brau­chen wir etwas für unse­re See­le. Wenn wir bei­spiels­wei­se jeden Abend vor dem Schla­fen­ge­hen etwas Schö­nes machen, etwas, das uns Freu­de berei­tet, uns auf­baut, dann kön­nen wir dadurch sehr viel für unse­re
Gesund­heit tun. Das wird für jeden etwas ande­res sein, klas­si­sche Musik machen oder hören, im Gar­ten arbei­ten, die Natur beob­ach­ten, lau­fen. Die Haupt­sa­che ist, dass es einem Freu­de macht. Es geht also dar­um, sich Zeit für sich zu neh­men, Zeit, um etwas zu tun, was gut für einen ist und dadurch Kraft geben kann. Ganz bewusst zu ent­schei­den, das will ich jetzt für mich tun.

Und das hilft, um gesund zu wer­den und gesund zu blei­ben?

Ich habe beob­ach­tet, dass Men­schen kalt wer­den, wenn sie unter Stress ste­hen. Ihnen fehlt die Wär­me, auf kör­per­li­cher aber auch auf see­li­scher Ebe­ne. Sie wis­sen nicht mehr, was ihnen gut tut. Dann geht es dar­um, die Men­schen zu durch­wär­men. Zum einen see­lisch – etwas Schö­nes machen, sich etwas Gutes tun, sich ver­wöh­nen, zulas­sen, dass die Freu­de in uns ein­kehrt. Im Phy­si­schen wer­den wir durch Bewe­gung warm, durch Spa­zie­ren, Schwim­men. Wenn der Mensch sehr erschöpft ist, kann er sich kaum zu akti­ver Bewe­gung auf­raf­fen. Es ist wich­tig, wenigs­tens etwas und das regel­mäs­sig zu tun. Durch Bewe­gung erwärmt sich der Mensch am ehes­ten. Die­se Wär­me hält auch län­ger an.
Dann habe ich schon vom Rhyth­mus gespro­chen. Die­ser hilft, die Lebens­kräf­te im Ein­klang zu hal­ten. Und auf geis­ti­ger Ebe­ne sind es die Gesprä­che, die Begeg­nun­gen von Mensch zu Mensch, wo wir uns inner­lich erwär­men, sowie auch unse­re Idea­le. Man liest einen Satz, hat ein gutes Gespräch. Das kann oft schon eine Hil­fe sein.
In dem Moment, in dem der Mensch, meist sind es Frau­en, sein Leben wie­der in die Hand neh­men und ändern will, gibt es oft Wider­stän­de im Umfeld, in den Fami­li­en. Denn an das Funk­tio­nie­ren gewöhnt sich das Umfeld ja auch mit. Auch das Umfeld muss also umden­ken, umler­nen. Da braucht es manch­mal ein offe­nes Gespräch mit dem ­Pati­en­ten, an dem auch der Part­ner teil­nimmt.

Wie schaf­fe ich es, die Gren­zen zu spü­ren, auch zu akzep­tie­ren und den­noch Leis­tun­gen zu brin­gen?

Das kann ein Schu­lungs­weg für den Ein­zel­nen sein, um zu erken­nen, wo die Gren­ze jeweils ist. Man macht sicher ein paar Mal die Erfah­rung, an sei­ne Gren­zen zu stos­sen, sie dadurch aus­zu­tes­ten. Man hat die Mög­lich­keit, von den Erleb­nis­sen ande­rer zu ler­nen oder von den eige­nen.

Autoren29

Fach­per­son Vita Mun­da
Arbeits­schwer­punk­te Fach­ärz­tin All­ge­mein­me­di­zin
Stu­di­um und Wei­ter­bil­dung in Lett­land
und Ber­lin (Gemein­schafts­kran­ken­haus Havel­hö­he). Aus­bil­dung in Homöo­pa­thie und Anthro­po­so­phi­scher Medi­zin.
Arbei­tet in der Ita Weg­man Kli­nik als
Lei­ten­de Ärz­tin im sta­tio­nä­ren Bereich
mit Schwer­punkt bei rheu­ma­to­lo­gi­schen Erkran­kun­gen.
Kon­takt vita.munda@wegmanklinik.ch

 

Autoren10

Fach­per­son Vere­na Jäsch­ke
Arbeits­schwer­punk­te Diplo­mier­te Public Rela­ti­ons-Bera­te­rin
Seit 1996 an der Ita Weg­man Kli­nik tätig, seit 2001 Redak­ti­on „Quin­te“, seit 2003 Beauf­trag­te für Kommuni­kation an der Ita Weg­man Kli­nik, zustän­dig für Öffent­lichkeitsarbeit und Mar­ke­ting.
Kon­takt verena.jaeschke@wegmanklinik.ch

Die Kommentarfunktion ist geschlossen.