Gesund alt werden

Je älter der Mensch wird, des­to häu­fi­ger wer­den Besu­che beim Haus­arzt not­wen­dig. Chris­toph Oling befrag­te Dr. med. Gerd Löb­bert, Inter­nist an der Ita Weg­man Kli­nik und Mit­be­grün­der der Deut­schen Gesell­schaft für Ger­ia­trie, zu den Beson­der­hei­ten einer Alters­me­di­zin.

Herr Dr. Löb­bert, Sie sind Fach­arzt für Inne­re Medi­zin, Psy­cho­so­ma­ti­sche und Psy­cho­so­zia­le Medi­zin. Wel­ches sind Ihre Behand­lungs­schwer­punk­te an der Ita Weg­man Kli­nik?

Ich bin Grund­ver­sor­ger und gehö­re wie mei­ne Haus­arzt­kol­le­gen zur ers­ten Anlauf­stel­le für Men­schen mit medi­zi­ni­schen Pro­ble­men aller Art. Mit unse­rem Not­fall, der rund um die Uhr besetzt ist, haben wir hier idea­le Bedin­gun­gen für eine kom­pe­ten­te Pri­mär­ver­sor­gung. Als Psy­cho­so­ma­ti­ker ist mir ein Ur-Anlie­gen der Anthro­po­so­phi­schen Medi­zin beson­ders wich­tig: Ich will mei­nen Pati­en­ten – die­sen einen Men­schen, der jetzt bei mir ist – mit sei­ner gan­zen Bio­gra­phie in Gesund­heit und Krank­heit ver­ste­hen.

Dabei geht es auch um mög­li­che Hin­ter­grün­de und grös­se­re Zusam­men­hän­ge einer Erkran­kung?

Ja, da wird die Fra­ge nach dem Sinn des Krank­seins als mög­li­chem Selbst­hei­lungs­ver­such, die Salu­to­ge­ne­se, eben­so wich­tig wie die sonst übli­che Fra­ge nach den Ursa­chen, die Patho­ge­ne­se. In der psy­cho­so­ma­ti­schen Medi­zin wird in For­schung und Aus­bil­dung der Arzt-Pati­en­ten-Bezie­hung beson­de­re Auf­merk­sam­keit geschenkt und auch der Fra­ge, wie ein Arzt mit sei­ner Per­sön­lich­keits­struk­tur die­sen Selbst­hei­lungs­ver­such för­dern oder auch stö­ren kann. Dies ist auch als Bal­int-Arbeit bekannt.

Einer Ihrer Schwer­punk­te ist die Alters­me­di­zin.
Wie kön­nen Sie Ihre dies­be­züg­li­che Erfah­rung in der Kli­nik ein­brin­gen?

In Deutsch­land habe ich schon vor über 30 Jah­ren die Anfän­ge einer ger­ia­tri­schen Medi­zin mit­ge­stal­ten kön­nen, unter ande­rem als Chef­arzt, aber auch als Mit­glied der ers­ten Wei­ter­bil­dungs­kom­mis­si­on der Deut­schen Gesell­schaft für Ger­ia­trie. Eine kom­pe­ten­te Ver­sor­gung der Betag­ten steht ja nun aktu­ell auch ganz oben auf der Agen­da der ­„Initia­ti­ve Haus­ärz­te Schweiz“.

Um was geht es bei der Alters­me­di­zin?

Vor­nehms­tes Ziel der Alters­me­di­zin ist der Erhalt und die För­de­rung der Selb­stän­dig­keit der Betag­ten ange­sichts einer sehr kom­ple­xen Situa­ti­on von aku­ten und chro­ni­schen Gesund­heits­pro­ble­men, auch Mul­ti­mor­bi­di­tät genannt.
Die­ses Ziel – die Erhal­tung der Selb­stän­dig­keit – im Auge zu behal­ten, das macht den guten Geria­ter aus. Ihm muss dabei die Zusam­men­ar­beit mit ambu­lan­ten Diens­ten wie der Spitex, Sozi­al­ar­bei­tern, The­ra­peu­ten und auch mit den Ange­hö­ri­gen ein Her­zens­an­lie­gen sein. Spe­di­ti­ver Infor­ma­ti­ons­fluss und sau­be­re Doku­men­ta­ti­on sind für die­se Zusam­men­ar­beit extrem wich­tig.

Das bedingt eine ande­re Aus­rich­tung des Gera­trie-Arz­tes?

Die Ger­ia­trie ist vor allem eine Fra­ge der inne­ren Hal­tung. Wer im „Alt-Wer­den“ nur ein „Weni­ger-Wer­den“ sehen kann, für den also das Defi­zit-Modell des Alterns zen­tral ist, soll­te sich mei­ner Mei­nung nach ein ande­res Arbeits­ge­biet suchen. Im erst kürz­lich ver­öf­fent­lich­ten Pris­cus- Pro­jekt (Pris­cus – lat. für alt/ehrwürdig) wur­den euro­pa­weit Arz­nei­mit­tel auf­ge­lis­tet, die bei ger­ia­tri­schen Pati­en­ten oft zu kata­stro­pha­len Neben­wir­kun­gen füh­ren und die lei­der den­noch in gros­sem Umfang ver­ord­net wer­den. Dar­un­ter waren beson­ders häu­fig Psy­cho­phar­ma­ka und Seda­ti­va zu fin­den. Geria­ter sind eher Ärz­te, die gezielt Medi­ka­men­te abset­zen, und Ärz­te, die ihre Pati­en­ten gehend sehen wol­len – also in Bewe­gung. Beweg­lich­keit und Vita­li­tät, auch geis­tig-see­lisch. Die­se Aspek­te sind eng mit­ein­an­der ver­bun­den.

Man hört immer wie­der, die Alters­de­menz neh­me zu. Ist das wirk­lich so? Und wie weit gehö­ren zum Bei­spiel Ver­gess­lich­keit, Sin­nes­täu­schun­gen, Verwirrtheits­zustände noch zum nor­ma­len Altern?

Demenz kommt bekannt­lich aus dem latei­ni­schen de-mens, das heisst Abwe­sen­heit von Geist, Geist­lo­sig­keit – ist das nicht eher eine zutref­fen­de Dia­gno­se für wei­te Tei­le unse­rer vom Mate­ria­lis­mus gepräg­ten Kul­tur? Die betrof­fe­nen Men­schen sind dann die Sym­ptom­trä­ger, sie tra­gen Mensch­heits­schick­sal. „Wir sind viel zu gescheit gewor­den, als dass wir ohne Weis­heit über­le­ben könn­ten“, das sagt zum Bei­spiel E. F. Schu­ma­cher, der Autor von „Small is Beau­ti­ful“ (zu Deutsch: die „Rück­kehr zum mensch­li­chen Mass“). Dass in unse­rer Kul­tur nicht mehr zwi­schen Geist – und damit der unzer­stör­ba­ren ewi­gen Indi­vi­dua­li­tät eines Men­schen – und sei­ner See­le unter­schie­den und nicht dem­ge­mäss gehan­delt wird, ist der tie­fe­re Grund für die „epi­de­mi­sche“ Zunah­me der Demenz.

Wie vie­le sind mitt­ler­wei­le davon betrof­fen?

Gemäss der deut­schen Alz­hei­mer-Gesell­schaft lei­den in den west­li­chen Indus­trie­län­dern zwi­schen 6 und 9 Pro­zent der über 65-Jäh­ri­gen an einer Demenz im Sinn einer erwor­be­nen Beein­träch­ti­gung der geis­ti­gen Leis­tungs­fä­hig­keit, die Gedächt­nis, Spra­che, Ori­en­tie­rung und Urteils­ver­mö­gen so schwer­wie­gend beein­träch­tigt, dass die Betrof­fe­nen nicht mehr in der Lage zu einer selb­stän­di­gen Lebens­füh­rung sind. Nahe­zu zwei Drit­tel die­ser Men­schen wer­den übri­gens zuhau­se betreut! Die beob­ach­te­te star­ke Zunah­me der Zahl der Betrof­fe­nen ist aber vor allem Fol­ge der stei­gen­den Lebens­er­war­tung, also rela­tiv. Das soll nicht die uner­mess­li­che Belas­tung für die Betrof­fe­nen und vor allem ihre Ange­hö­ri­gen rela­ti­vie­ren.

Wel­che the­ra­peu­ti­schen Mög­lich­kei­ten gibt es?

In abseh­ba­rer Zeit gibt es wohl kei­ne kau­sa­le The­ra­pie. Zudem ist die Vor­her­sa­ge nicht zu gewagt, dass in naher Zukunft die Ursa­che weder unter Mikro­sko­pen noch im Labor gefun­den wird, wie in der Sonn­tags­aus­ga­be der NZZ vom 7. Okto­ber 2012 in einer Rie­sen­schlag­zei­le zu lesen war: „Die Neu­ro­wis­sen­schaf­ten ver­spre­chen revo­lu­tio­nä­re Erkennt­nis­se und die Hei­lung von vie­len Lei­den. Bewei­se aber blei­ben sie seit 50 Jah­ren schul­dig.“
Aber es gibt immer­hin Mög­lich­kei­ten, die Sym­pto­me zu lin­dern?

Vor­erst ist fest­zu­hal­ten: nicht jede Demenz ist eine vom Typ Alz­hei­mer, und so man­che Form ist tat­säch­lich behan­del­bar. Erwähnt sei hier die depres­si­ve Pseu­do­de­menz älte­rer Men­schen oder die „Demenz“ als Fol­ge medi­ka­men­tö­ser The­ra­pie. Auch wenn eine kau­sa­le The­ra­pie nicht wirk­lich in Sicht ist, so gibt es doch star­ke Hin­wei­se dafür, dass vor­beu­gen­de Mass­nah­men wirk­sam sind. Hier sind vor allem zu nen­nen die recht­zei­ti­ge, das heisst lebens­lan­ge Sor­ge um eine sinn­vol­le geis­ti­ge Akti­vi­tät, kör­per­li­che Fit­ness und ein tra­gen­des sozia­les Umfeld.

Das heisst, der Prä­ven­ti­on kommt ein hoher Stel­len­wert zu?

Ja, nicht ver­ges­sen darf man auch, dass die kon­se­quen­te The­ra­pie von Beglei­ter­kran­kun­gen wie Blut­hoch­druck und Dia­be­tes sehr wirk­sam sind. Eine wir­kungs­vol­le Pro­phy­la­xe besteht zudem dar­in, sein in unse­ren Zei­ten völ­lig über­for­der­tes Kurz­zeit­ge­dächt­nis regel­mäs­sig, das heisst mög­lichst jeden Abend, in einer even­tu­ell auch nur kur­zen Rück­schau vom „Bewusst­seins­müll“ zu lee­ren und damit wie­der Herr über sei­ne Vor­stel­lun­gen zu wer­den.

Lässt nicht im Alter das Gedächt­nis ganz all­ge­mein nach?

Die Gren­ze zur nor­ma­len Ver­gess­lich­keit im Alter ist flies­send. Durch die Anthro­po­so­phie Rudolf Stei­ners wis­sen wir, dass das Gedächt­nis im Äther- oder Lebens­leib des Men­schen ver­an­kert ist. Und die­ser Äther­leib löst sich, wird dün­ner „im Alter“. Er ist weni­ger stark ver­bun­den mit dem phy­si­schen Leib. Da ist es hilf­reich, wenn man sich im Lau­fe sei­nes Lebens nicht all­zu sehr mit sei­ner Leib­lich­keit iden­ti­fi­ziert. Im Gedächt­nis sol­len ja nur die Inhal­te haf­ten, denen wir Bedeu­tung geben. Es ist sinn­voll, so man­ches zu ver­ges­sen.

Wie ver­hält es sich mit Ver­wirrt­heits­zu­stän­den, Sin­nes­täu­schun­gen?

Die gehö­ren nicht zum nor­ma­len Alte­rungs­pro­zess. Sie haben fast immer eine orga­ni­sche Ursa­che und müs­sen rasch und kon­se­quent vom Arzt abge­klärt und womög­lich behan­delt wer­den. So kann zum Bei­spiel – selbst erlebt als Arzt – eine prall­ge­füll­te Harn­bla­se Ursa­che eines mas­si­ven Verwirrt­heitszustandes sein, übri­gens als Neben­wir­kung eines Be­ruhigungsmittels. Der Ver­wirrt­heits­zu­stand ver­schwand nach vor­sich­ti­gem Ablas­sen des Urins über einen Kathe­ter.

Die meis­ten älte­ren Men­schen weh­ren sich so lan­ge wie mög­lich gegen eine Unter­brin­gung in einem Alters- oder Pfle­ge­heim. Die Spitex sieht ihre Stär­ke dar­in, den Ver­bleib so lan­ge wie mög­lich zuhau­se zu gewähr­leis­ten. Kann der Arzt als Grund­ver­sor­ger hier hel­fen?

Der gröss­te Teil der Erkrank­ten mit Demenz wird ohne­hin in häus­li­cher Umge­bung behan­delt. Das liegt auch dar­an, dass es bis­her viel zu wenig geeig­ne­te Insti­tu­tio­nen für die ange­mes­se­ne Betreu­ung die­ser Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten gibt. Der Bei­trag des Grund­ver­sor­gers besteht vor allem dar­in, sei­ne ger­ia­tri­sche Kom­pe­tenz zu erwei­tern und eine posi­ti­ve Hal­tung zum Alter zu pfle­gen. Er soll­te Ver­ant­wor­tung dafür über­neh­men, dass nicht jede Ver­än­de­rung im Gesund­heits­zu­stand der Betrof­fe­nen ein­fach dem Alter zuge­schrie­ben wer­den darf. Zurück­hal­tung bei der Medi­ka­ti­on, För­de­rung eines akti­vie­ren­den Umfelds, Bereit­schaft, sei­nen Platz im Team ein­zu­neh­men sind wich­tig.

Dies­be­züg­lich kommt ihm auch eine wich­ti­ge Koor­di­na­ti­ons­funk­ti­on zu?

Vor allem soll­te er mit Sor­ge tra­gen, dass ein lücken­lo­ser Infor­ma­ti­ons­fluss zwi­schen ambu­lan­ten Diens­ten, sta­tio­nä­ren und halb­sta­tio­nä­ren sowie Reha­bi­li­ta­ti­ons­ein­rich­tun­gen erfolgt. Da er als zustän­di­ger Haus­arzt neben den Ange­hö­ri­gen am bes­ten weiss, was sei­nen Pati­en­ten jen­seits von Krank­heit bis­her in sei­nem Leben bewegt und inter­es­siert hat, kann er auch in der Wahr­neh­mung des Pati­en­ten wie ein Fels in der Bran­dung Sicher­heit und Ruhe geben.

Wie Sie erwähn­ten, über­schnei­den sich in der Alters­me­di­zin unter ande­rem Ger­ia­trie, Psych­ia­trie, Psy­cho­so­zia­le Medi­zin. Wo lie­gen hier die Stär­ken der Anthro­po­so­phi­schen Medi­zin?

Es wird ja heu­te viel von Ganz­heit und ganz­heit­li­cher Medi­zin gespro­chen – das kommt gut an bei den Men­schen. Wer will nicht als Pati­ent ganz­heit­lich gese­hen wer­den? Aber in der Kon­se­quenz ihrer ganz­heit­li­chen Sicht ist die Anthro­po­so­phi­sche Medi­zin ein­ma­lig und uner­reicht.

Wes­halb und in wel­cher Hin­sicht?

Der gan­ze Mensch mit sei­ner Bio­gra­phie in Gesund­heit und Krank­heit inter­es­siert. Gesund­heit ist nach die­sem Ver­ständ­nis nicht das Gegen­teil von Krank­heit. Krank­heit gehört als Aus­druck der Indi­vi­dua­li­tät dazu – auf dem Weg durch sich selbst zu einer ganz eige­nen, indi­vi­du­el­len Gesund­heit. Was hat mei­ne Krank­heit mit mir zu tun? Das inter­es­siert die Pati­en­ten, die zu uns kom­men. Sie wol­len nicht ein­fach, dass man eine stö­ren­de Krank­heit „weg­macht“ oder unter­drückt.

Sie wol­len viel­mehr, dass ihnen gehol­fen wird, auch tie­fe­re Grün­de zu fin­den?

Unse­re Pati­en­ten wis­sen oft, und manch­mal bes­ser als wir, dass eine nicht bewäl­tig­te Krank­heit in einer ande­ren Schicht erscheint – wie eine nicht beant­wor­te­te Fra­ge –, ob in die­sem Leben oder unter ganz neu­en Bedin­gun­gen
in einem nächs­ten. Rudolf Stei­ner ver­dan­ken wir schliess­lich die Erkennt­nis, dass gera­de in der mensch­li­chen Fähig­keit zu Bewusst­sein und Selbst­be­wusst­sein die Ursa­che aller Krank­heit liegt. Krank­heit als Fähig­keit, als Bega­bung zu sehen – die­se Erkennt­nis ist in der Medi­zin bis dahin uner­hört!
Krank­heit als Selbst­hei­lungs­ver­such einer im Kern unzer­stör­ba­ren Indi­vi­dua­li­tät, einem Ewig­keits­we­sen, ernst­haft in den Blick zu neh­men – das macht die Anthro­po­so­phi­sche Medi­zin aus. In die­sem Sin­ne ist man nicht ein­fach anthro­po­so­phi­scher Arzt – man ver­sucht es immer mehr zu wer­den!
Autoren5

Fach­per­son Dr. med. Gerd Löb­bert
Arbeits­schwer­punk­te Fach­arzt Inne­re Medi­zin FMH und Psy­cho­so­ma­ti­sche
und Psy­cho­so­zia­le Medi­zin (SAPPM). Seit 10 Jah­ren an
der Ita Weg­man Kli­nik als lei­ten­der Arzt, vor­wie­gend
inter­nis­ti­sche Sprech­stun­den­tä­tig­keit mit Schwer­punkt
Psy­cho­so­ma­tik. Ver­ant­wort­lich für die Ultra­schall­dia­gnos­tik an der Kli­nik.
Kon­takt gerd.loebbert@wegmanklinik.ch

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