Gestalten in der Bewegung

Was für ein fas­zi­nie­ren­des Organ ist das Herz! Immer in Bewe­gung reagiert es einer­seits auf kör­per­li­che Anstren­gung, aber auch auf Gefüh­le wie Freu­de oder Schreck. Sowohl äus­se­re als auch inne­re Fak­to­ren beein­flus­sen sei­nen Rhyth­mus. Es ist des­halb nahe­lie­gend, dass sich die Hei­leu­ryth­mie als mög­li­che The­ra­pie­form auch bei Herz­klap­pen­er­kran­kun­gen eig­net.

So wie die Atmung funk­tio­niert das Herz unwill­kür­lich, auch wenn wir schla­fen. Doch anders als die Atmung kön­nen wir den Puls nur in gerin­gem Mas­se beein­flus­sen. Das Herz ist näher an unse­rem Bewusst­sein als zum Bei­spiel die Vor­gän­ge unse­rer Ver­dau­ung, es ent­zieht sich aber weit­ge­hend der bewuss­ten Steue­rung durch unse­ren Wil­len.

Die Ur-Bewe­gung in der Welt des Leben­di­gen, das Aus­deh­nen und Zusam­men­zie­hen, das Wei­ten und Ver­dich­ten, beglei­tet uns in unse­rem Her­zen das gan­ze Leben hin­durch. Es ist ein phy­sio­lo­gi­scher Vor­gang, der über­all in der Natur zu fin­den ist. Im Jah­res­lauf zeigt sich das Wei­ten im Früh­ling, das Ver­dich­ten im Herbst. Das Kei­men und Wach­sen bis hin zur Blü­te ist ein Bild für das Aus­deh­nen, bei der Frucht- und Samen­bil­dung geht die Kraft wie­der nach innen. Die­se Bewe­gung spie­gelt sich auch in unse­rem See­len­le­ben: Begeis­te­rung und Enthu­si­as­mus gehen in die Welt – voll Trau­er zie­hen wir uns in uns selbst zurück. Wie anders sind wir gestimmt, wenn wir auf einem hohen Berg ste­hen und in die Wei­te schau­en, als wenn wir an einem Win­ter­abend mit einem Buch am Kamin sit­zen.

Herzklappen als Grenzwächter

Ein ande­rer Pro­zess, der sowohl in der äus­se­ren Natur als auch in unse­rer See­le zu fin­den ist, hängt mit dem Phä­no­men der Gren­ze zusam­men. Wo es kei­ne Gren­ze gibt, kann sich kein Innen­raum bil­den, alles ver­fliesst und bleibt unge­schützt. Wo die Gren­ze zu dicht wird, tritt eine Ver­här­tung ein, es fin­det kein Aus­tausch mehr statt, und es wird eng. Im Her­zen sind die Herz­klap­pen die Grenz­wäch­ter. Wich­tig ist, dass die­se Grenz­wäch­ter sehr dyna­misch sind, damit sie dem Blut­strom den Weg sowohl öff­nen, als auch das Zurück­flies­sen ver­hin­dern kön­nen. Wenn die­se not­wen­di­gen Auf­ga­ben auf­grund einer Erkran­kung der Herz­klap­pen nicht mehr genü­gend erfüllt wer­den kön­nen, erge­ben sich in der Hei­leu­ryth­mie als einer Bewe­gungs­the­ra­pie mög­li­che the­ra­peu­ti­sche Ansät­ze.

Dem Herzen nachempfundene Bewegungen

In der Hei­leu­ryth­mie wer­den die Bewe­gungs­ges­ten des Strö­mens und Begren­zens in vie­len Wie­der­ho­lun­gen mit den Armen und dem gan­zen Kör­per geübt. Dabei kann sich zum Bei­spiel das Ver­hält­nis von Puls und Atem ver­än­dern. Inter­es­sant ist aber auch, wie man unter Umstän­den eine der bei­den Ten­den­zen bei sich selbst stär­ker wahr­nimmt. Viel­leicht bemer­ke ich, dass mir die aus­brei­ten­den Bewe­gun­gen viel näher­lie­gen als die zusam­men­zie­hen­den, oder anders gesagt, dass mir die Hin­ga­be in der Bewe­gung leich­ter fällt als die Selbst­be­haup­tung. Das ist eine wesent­li­che Fest­stel­lung, auf­grund derer die hei­leu­ryth­mi­schen Übun­gen ange­passt wer­den. Zusam­men mit dem Hei­leu­ryth­mis­ten kann der Pati­ent dann an die­sen Bewe­gungs­mus­tern arbei­ten und sie aktiv und bewusst lang­sam ver­än­dern.

Wenn mir bewusst wird, dass ich eine Bewe­gung immer zöger­lich begin­ne oder zu impul­siv, dann kann ich das aktiv beein­flus­sen. Dafür sind hei­leu­ryth­mi­sche Übun­gen gut geeig­net. Auch wenn sich die gewach­se­ne Struk­tur nicht direkt ver­än­dern lässt, kön­nen wir auf die dyna­mi­sche Kom­po­nen­te ein­wir­ken.

Das Kreuzen üben

Betrach­tet man Gestal­tungs­mus­ter im mensch­li­chen Kör­per, begeg­net man zum Bei­spiel dem Ele­ment der Kreu­zung im Ner­ven­sys­tem. Die­se Begeg­nung von rechts und links in einem Punkt fin­det sich deut­lich in der Kreu­zung der Seh­ner­ven. Beim Her­zen gibt es die sehr kom­ple­xe Begeg­nung der zwei ver­schie­de­nen Blut­strö­me, die sau­ber getrennt blei­ben müs­sen. Kreu­zen bedeu­tet, etwas auf den Punkt zu brin­gen. Die Gebär­de von gekreuz­ten Armen kann sowohl die Ges­te des Weh­rens als auch des Ver­eh­rens dar­stel­len. Kreu­zen benö­tigt immer den Wech­sel von Öff­nen und Schlies­sen.

Hei­leu­ryth­mi­sche Übun­gen mit den The­men Peri­phe­rie und Zen­trum sind mit Armen, Bei­nen, Füs­sen, Hän­den, Fin­gern mög­lich. Wich­tig ist der rhyth­mi­sche Wech­sel zwi­schen Strö­men und Begren­zen. Dabei kann das Ver­hält­nis zwi­schen Öff­nen und Schlies­sen durch­aus vari­ie­ren, mög­li­che Ein­sei­tig­kei­ten kön­nen ver­stärkt oder aber aus­ge­gli­chen wer­den. So wer­den je nach Art der Herz­klap­pen­er­kran­kung die Übung und ihre Aus­füh­rung indi­vi­du­ell ange­passt. Es ist ein Unter­schied, ob wir beim Kreu­zen der Arme die­se nur schwach auf­ein­an­der­le­gen oder ob wir dies mit Inten­si­tät tun. Die­se Inten­si­tät zeigt sich in der Span­nung der Mus­keln. Die Mus­kel­span­nung hal­ten und wie­der lösen wird als Dyna­mik unmit­tel­bar an das Blut wei­ter­ge­ge­ben und unter­stützt den Blut­strom.

Soziales Üben

Was sich beim Ein­zel­nen zwi­schen Herz und den peri­phe­ren Blut­ge­fäs­sen zeigt, lässt sich auch zwi­schen dem Ein­zel­nen und sei­ner Umwelt dar­stel­len. Das rech­te Mass an Ener­gie, die not­wen­dig ist für den Blut­strom zwi­schen Zen­trum und Peri­phe­rie, ist auch für den sozia­len Aus­tausch erfor­der­lich. Der Puls zwi­schen Zen­trum und Umkreis, zwi­schen Behar­ren und Hin­ga­be lässt sich auch im Sozia­len dar­stel­len. Die Begeg­nung von Mensch zu Mensch ist idea­ler­wei­se herz­lich und beherzt, im Sin­ne von warm und mutig.

Ich mache mit mei­nen Pati­en­ten oft eine hei­leu­ryth­mi­sche Übung, die ursprüng­lich für den Herz­pa­ti­en­ten ent­wi­ckelt wor­den ist, für den ein­zel­nen Men­schen. Und doch ist es eine Übung, die nur mit einem ande­ren Men­schen aus­ge­führt wer­den kann. Ein­drück­lich ist, dass gemein­sam etwas geübt wird, was zum indi­vi­du­el­len Gene­sungs­pro­zess bei­trägt.

Eine ganzheitliche Therapie

Bei den hei­leu­ryth­mi­schen Übun­gen han­delt es sich um Bewe­gungs­ab­fol­gen, die im Phy­si­schen eine wohl­tu­en­de Wir­kung ent­fal­ten. Dar­über hin­aus kön­nen beim Üben das sehr per­sön­li­che Emp­fin­den und die Selbst­wahr­neh­mung über das eige­ne Ver­hält­nis zu sich und der Welt bemerkt wer­den. Als drit­tes Ele­ment kommt ein Bewusstseins­pro­zess dazu: Man wird ent­de­cken kön­nen, dass die Pro­zes­se im eige­nen Kör­per auch in der uns umge­ben­den Welt zu fin­den sind. Durch die­se Ver­bin­dung von Bewe­gung, Gefühl und Bewusst­sein ist der Pati­ent als gan­zer Mensch ange­spro­chen.

Durch das Zusam­men­tra­gen der ver­schie­de­nen Aspek­te von Pati­ent, Arzt und The­ra­peut wer­den die Übun­gen gefun­den, die den Pati­en­ten in sei­nem Pro­zess am bes­ten unter­stüt­zen. Das Ziel in der The­ra­pie ist immer, dass der Pati­ent so selbst­stän­dig im Umgang mit den Übun­gen wird, dass er sein Befin­den jeder­zeit selbst beein­flus­sen kann.

 

Fach­per­son

Nor­man Kin­ge­ter M.A.

Arbeits­schwer­punk­te Fach­grup­pen­lei­tung Hei­leu­ryth­mie. 1988 – 1992 Euryth­mie­stu­di­um am Euryth­me­um in Stutt­gart.
1995 Abschluss des Hei­leu­ryth­mie­stu­di­ums in Dor­n­ach. 1995 – 2005 Hei­leu­ryth­mie an der Rudolf Stei­ner Schu­le Basel und in eige­ner Pra­xis. Seit 2005 an der Kli­nik Arle­sheim.
Kon­takt norman.kingeter@klinik-arlesheim.ch

 

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