Gemeinsam für die Gesundheit

Die Anthro­po­so­phi­sche Medi­zin an der Kli­nik Arle­sheim ist von ihrem Ansatz her bereits inte­gra­tiv aus­ge­stal­tet: Die Schul­me­di­zin wird durch ver­schie­de­ne medi­zi­ni­sche und the­ra­peu­ti­sche Mass­nah­men ergänzt – und das seit fast 100 Jah­ren. Jün­ge­ren Datums ist die Ent­wick­lung, dass bei­spiels­wei­se an Kan­tons­spi­tä­lern Metho­den Ein­zug hal­ten, die die Schul­me­di­zin ergän­zen. Die Redak­ti­on „Quin­te“ hat dazu Dr. med. Marc Schläp­pi befragt. Er ist Lei­ter des Zen­trums für Inte­gra­ti­ve Medi­zin am Kan­tons­spi­tal St. Gal­len.

Herr Schläppi, wie definieren Sie „Integrative Medizin“?

Für mich ist die Medi­zin inte­gra­tiv, wenn Kom­ple­men­tär­me­di­zin und Schul­me­di­zin zusam­men­kom­men, um dem Pati­en­ten zu die­nen, wenn also etwas Drit­tes ent­steht, das syn­er­gis­tisch dem Pati­en­ten zu Gute kommt. Durch den Zusam­men­schluss von kon­ven­tio­nel­ler und kom­ple­men­tä­rer Medi­zin erreicht man einen Mehr­wert. Denn der Kom­ple­men­tär­an­satz hat einen neu­en, einen ergän­zen­den Blick mit the­ra­peu­ti­schen Kon­se­quen­zen: Ich habe die Mög­lich­keit, die Selbst­hei­lungs­kräf­te zu för­dern, über die jeder Mensch ver­fügt – sei es über Bewe­gungs­the­ra­pie oder Heil­mit­tel, Äus­se­re Anwen­dun­gen oder Kunst­the­ra­pi­en.

Ist das für jeden Patienten geeignet?

Es gibt Pati­en­ten, die das aus mei­ner Sicht nicht benö­ti­gen. Die kom­men ohne die Kom­ple­men­tär­me­di­zin zurecht, sie haben ihre eige­nen Stra­te­gi­en des Gesun­dens. Wenn ich einen Pati­en­ten auf der Sta­ti­on besu­che und sehe, dass alles gut läuft, dann muss ich nicht extra noch kom­ple­men­tärthe­ra­peu­tisch etwas oben­auf tun. Dann belas­se ich es so, wie es ist.
Wir hat­ten in Fla­wil, einem Stand­ort des Kan­tons­spi­tals
St. Gal­len, ein Pilot­pro­jekt zur Inte­gra­ti­ven Medi­zin. Von den 144 Pati­en­ten haben wir 80 kom­ple­men­tär­me­di­zi­nisch behan­delt. Bei den ande­ren war das nicht indi­ziert. Es ist ja kei­ne Ange­le­gen­heit „à la car­te“: Möch­ten Sie noch ein wenig malen? Möch­ten Sie noch einen Wickel? Son­dern wir wen­den kom­ple­men­tär­me­di­zi­ni­sche The­ra­pi­en an, wenn sie ärzt­lich indi­ziert sind.

Was bedeutet dies für Ihre Arbeit?

In St. Gal­len haben wir im Zen­trum für Inte­gra­ti­ve Medi­zin (ZIM) expli­zit den Auf­trag, mit die­sem ergän­zen­den Blick zu arbei­ten. Wir wer­den von den Sta­tio­nen oder auch aus der Ambu­lanz ange­fragt, sie wei­sen uns Pati­en­ten zu. Dann brin­ge ich mich im Kon­si­li­um auf der Sta­ti­on oder in mei­ner Sprech­stun­de ein. Wenn ich es für indi­ziert hal­te, ver­ord­ne ich die kom­ple­men­tär­me­di­zi­ni­schen Ver­fah­ren.
Der Impuls für eine sol­che Anfra­ge kommt häu­fig vom Pati­en­ten selbst, der sei­nen behan­deln­den Arzt nach einer kom­ple­men­tä­ren Ergän­zung fragt, oder von den Pfle­gen­den auf der Sta­ti­on. Dann mel­det in der Regel der behan­deln­de Arzt ein Kon­si­li­um an.

Wie gestaltet sich dieses „Miteinander“ am Kantonsspital St. Gallen?

Das ZIM ist eine eigen­stän­di­ge Orga­ni­sa­ti­ons­ein­heit des Kan­tons­spi­tals. Haupt­säch­lich kom­men die Pati­en­ten zu uns ambu­lant in die Sprech­stun­de, zu etwa einem Vier­tel gehen wir kon­si­lia­risch auf die Sta­ti­on.
Wir haben in unse­rem Betriebs­re­gle­ment ein soge­nann­tes Stu­fen­kon­zept für die Sta­tio­nen, die wir in drei Stu­fen ein­tei­len. Ein Bei­spiel für die Stu­fe C ist eine neu­ro­lo­gi­sche Sta­ti­on. Hier ist der Kader­arzt der Abtei­lung dop­pelt aus­ge­bil­det und kann auf sei­ner Visi­te auch kom­ple­men­tä­re The­ra­pi­en ver­ord­nen. Auch die Pfle­gen­den sind kom­ple­men­tär­me­di­zi­nisch geschult. Auf der Stu­fe B, wie zum Bei­spiel unse­ren bei­den Pal­lia­tiv­sta­tio­nen oder der aku­ten Onko­lo­gie, ist die kom­plet­te Sta­ti­on gezielt für Äus­se­re Anwen­dun­gen und für den Umgang mit den Ver­ord­nun­gen des kom­ple­men­tär­me­di­zi­ni­schen Arz­tes geschult. Die meis­ten Sta­tio­nen des Spi­tals befin­den sich auf der Stu­fe A: Hier erfolgt alles kon­si­lia­risch, da geht dann der Arzt kon­si­lia­risch auf die Sta­ti­on, und die Pfle­gen­de unse­res Zen­trums nimmt den Kof­fer mit ihrem Wickel­ma­te­ri­al zum sta­tio­nä­ren Pati­en­ten mit, zum Bei­spiel auf die Chir­ur­gie zu einer post­ope­ra­ti­ven Behand­lung.

Was umfasst die „integrative Medizin“ bei Ihnen an der Klinik?

Das ZIM bie­tet Anthro­po­so­phi­sche Medi­zin, Tra­di­tio­nel­le Chi­ne­si­sche Medi­zin und Osteo­pa­thie. In der Anthro­po­so­phi­schen Medi­zin und TCM sind Ärz­tin­nen und Ärz­te tätig, die jeweils dop­pelt aus­ge­bil­det sind, die einen zusätz­li­chen Fähig­keits­aus­weis erwor­ben haben. Wir haben acht Ärztinnen/Ärzte und ins­ge­samt fünf Therapeutinnen/Therapeuten für die Hei­leu­ryth­mie, Kunst­the­ra­pie und Osteo­pa­thie sowie zwei Pfle­ge­ex­per­tin­nen für die Äus­se­ren Anwen­dun­gen.
Ein Bei­spiel aus dem All­tag: Ein Arzt sieht, sei­ne Pati­en­tin hat Wal­lun­gen, er will ihr aber kei­ne Phy­to­ös­tro­ge­ne geben, weil das im Fall die­ser Pati­en­tin kon­tra­pro­duk­tiv wäre.
Er ruft im ZIM an und lässt sich vom kom­ple­men­tär­me­di­zi­ni­schen Kol­le­gen über ande­re Mög­lich­kei­ten bera­ten. Wenn ihn das über­zeugt, über­weist er die Pati­en­tin ans ZIM. Das Zusam­men­spiel ist zum Teil sehr fokus­siert, bis dahin, dass der Arzt ein­zel­ne Sym­pto­me des Pati­en­ten bes­ser unter Kon­trol­le haben will.

Wie ist das für Ihre Patienten erlebbar?

Wenn die Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten erle­ben, dass wir zusam­men­ar­bei­ten – also die Schul­me­di­zi­ner und die Kom­ple­men­tär­me­di­zi­ner – ist eine gros­se Dank­bar­keit zu spü­ren. Es ist schön zu sehen, wie sie sich getra­gen füh­len und wirk­lich unter­stützt. „Ich füh­le mich ganz­heit­lich betreut.“, sagt der eine. „Ich füh­le mich als Mensch wahr­ge­nom­men.“, meint der ande­re. Sie pro­fi­tie­ren von unse­rer Zusam­men-
arbeit.
Eine Pati­en­tin mit einem meta­stasie­ren­den Mam­ma­kar­zi­nom sag­te mir: „Jetzt ver­ste­he ich end­lich, was alle mit Lebens­qua­li­tät mei­nen. Ich bin nach der Mis­tel­the­ra­pie nicht mehr so müde. Die The­ra­pi­en tun mir so gut.“ Die Mis­tel­in­jek­tio­nen macht sie selbst zu Hau­se, auch den Schaf­gar­ben-Leber­wi­ckel legt sie sich selbst daheim an. Ein­mal pro Woche kommt sie zu uns zur Rhyth­mi­schen Ein­rei­bung. Ihr Befin­den, die Müdig­keit und die Schlaf­qua­li­tät haben sich deut­lich ver­bes­sert.

Wie erleben Sie die Zusammenarbeit mit den schulmedizinisch tätigen Kolleginnen und Kollegen?

Wich­tig ist, dass alles trans­pa­rent läuft. Dank der elek­tro­ni­schen Kran­ken­ge­schich­ten wis­sen wir genau, wes­halb der Pati­ent zu uns über­wie­sen wird, was er hat, wo er steht, wel­che schul­me­di­zi­ni­schen Medi­ka­men­te er bekommt. Wir kön­nen dar­auf Rück­sicht neh­men, was schon gelau­fen ist, und kön­nen ergän­zend die kom­ple­men­tä­ren The­ra­pi­en ein­set­zen. Wir machen die Anthro­po­so­phi­sche Medi­zin nicht los­ge­löst, son­dern wirk­lich inte­gra­tiv. Im Arzt­be­richt doku­men­tie­ren wir sehr genau und trans­pa­rent unse­re Inten­tio­nen und Emp­feh­lun­gen für den Zuwei­sen­den, für den Haus­arzt und ande­re Invol­vier­te.
Wenn der Pati­ent klar sagt, dass er mit der kom­ple­men­tär­me­di­zi­ni­schen The­ra­pie star­ten will, dann begin­nen wir sofort, ansons­ten gibt es eine Emp­feh­lung. Es gibt auch frag­li­che Situa­tio­nen, ob die ergän­zen­de The­ra­pie zum Bei­spiel im Sinn des behan­deln­den Onko­lo­gen ist: Wenn der Pati­ent sich gera­de einer Che­mo­the­ra­pie mit erhöh­tem Infek­ti­ons-
risi­ko unter­zieht und das Auf­tre­ten von Fie­ber zu einem Not­fall­ein­tritt füh­ren wür­de, dann ist es nicht indi­ziert, wäh­rend die weis­sen Blut­kör­per­chen tief sind, mit einer Mis­tel­the­ra­pie zu star­ten, die ihrer­seits zu einem Anstieg der Kör­per­tem­pe­ra­tur füh­ren kann. Es könn­te zu einer unkla­ren Situa­ti­on füh­ren, da die Ursa­che des Fie­bers sowohl in der Mis­tel­the­ra­pie als auch in einer Infek­ti­on lie­gen kann. Des­halb braucht es eine gute Inter­ak­ti­on zwi­schen den Kol­le­gen und uns.

Wie erleben Sie die Akzeptanz Ihrer Arbeit bei den Schulmedizinern?

Grund­sätz­lich erle­be ich eine Akzep­tanz der Kol­le­gen. Selbst­ver­ständ­lich gibt es auch kri­ti­sche Dis­kus­sio­nen, aber dies gehört in einem Voll­ver­sor­gungs­spi­tal mit aka­de­mi­schem Anspruch dazu. Auch wenn ein Kol­le­ge selbst das teil­wei­se nicht nach­voll­zie­hen kann, was wir tun, ist er doch froh, dass er Pati­en­ten, die kom­ple­men­tär­me­di­zi­nisch betreut wer­den wol­len, zu uns schi­cken kann. Denn er weiss, dass es bei uns sicher und seri­ös ist. Die öffent­li­che Akzep­tanz unse­rer Arbeit zeigt sich unter ande­rem auch dar­in, dass uns 2012 ein Inno­va­ti­ons­preis des Kan­tons St. Gal­len ver­lie­hen wur­de.

Wie ist das ZIM entstanden?

Die Initia­ti­ve für unser ZIM ent­stand nicht durch äus­se­ren Druck, die Anfän­ge lagen noch vor der Abstim­mung „Ja zur Kom­ple­men­tär­me­di­zin“. Es war eine Initia­ti­ve von Ärz­ten, spä­ter auch Pfle­gen­den und The­ra­peu­ten. Der Kern­im­puls kam vom Lei­ter des Pal­lia­tiv­zen­trums, vom Chef­arzt der Onko­lo­gie und mir als dama­li­gem Ober­arzt der Onko­lo­gie. Ich brach­te die Zusatz­aus­bil­dung Anthro­po­so­phi­sche Medi­zin mit und streb­te eine Ver­bin­dung die­ser mit der hoch­spe­zia­li­sier­ten Onko­lo­gie an. Die inte­gra­ti­ve Arbeit fing in mei­ner eige­nen Sprech­stun­de an. Über die Geschäfts­lei­tung wur­de die Idee des Auf­baus einer Inte­gra­ti­ven Medi­zin an den Ver­wal­tungs­rat her­an­ge­tra­gen.
Mit einem offi­zi­el­len Auf­trag aus­ge­stat­tet, haben wir dann auf der Pal­lia­tiv­sta­ti­on am KSSG-Stand­ort Fla­wil ein Pilot­pro­jekt gestar­tet. Nach dem gelun­ge­nen eva­lu­ier­ten Pilot­pro­jekt konn­ten wir den nächs­ten Schritt für das gesam­te Kan­tons­spi­tal wagen – eben­falls im Auf­trag der Geschäfts­lei­tung. Dass wir eine eigen­stän­di­ge Orga­ni­sa­ti­ons­ein­heit sind und uns aus der Kli­nik für Onkologie/Hämatologie gelöst haben, hat sich so ent­wi­ckelt, damit auch Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten ande­rer Fach­be­rei­che in den Genuss der Kom­ple­men­tär­me­di­zin kom­men.

Sie sind neben Ihrer Tätigkeit in St. Gallen auch Verwaltungsratsmitglied in der Klinik Arlesheim. Wie kommt das?

Was ich am KSSG auf­ge­baut habe, wäre ganz klar nicht mög­lich gewe­sen, wenn ich nicht fast zwei Jah­re in der Ita Weg­man Kli­nik gear­bei­tet hät­te. Die ope­ra­ti­ve Grund­la­ge und the­ra­peu­ti­sche Sicher­heit für die anthro­po­so­phisch-
medi­zi­ni­sche Arbeit am KSSG habe ich aus der Ita Weg­man Kli­nik.
Für mich hat die Kli­nik Arle­sheim eine Herz­funk­ti­on für die Anthro­po­so­phi­sche Medi­zin. Hier wird kon­zen­triert und auch in einer gewis­sen Rein­heit Anthro­po­so­phi­sche Medi­zin ent­wi­ckelt, die woan­ders so nicht auf­find­bar ist. Die­se Qua­li­tät hat eine Aus­strah­lung nach aus­sen. Man kann das als Bild sehen, dass die Kli­nik Arle­sheim als Zen­trum in die Peri­phe­rie aus­strahlt.
Die­se Aus­strah­lung vom Zen­trum in die Peri­phe­rie braucht es, des­halb sind die aktu­el­le Ent­wick­lung und das gros­se Enga­ge­ment der Kli­nik Arle­sheim in der Ärz­te- und Pfle­ge­aus­bil­dung der rich­ti­ge Weg. Die Ent­ste­hung eines leben­di­gen Cam­pus am Stand­ort Arlesheim/Dornach kann ich nur begrüs­sen und unter­stüt­zen. Umge­kehrt wird die wahr­ge­nom­me­ne akti­ve Peri­phe­rie wie­der­um immer wie­der das Zen­trum bele­ben. Zen­trum und Peri­phe­rie bil­den einen Orga­nis­mus, es ist ein Mit­ein­an­der, ein Zusam­men­spiel.
Ich bin mit mei­ner Arbeit in St. Gal­len schon gut aus­ge­las-
tet, doch die Über­zeu­gung von der Wich­tig­keit der Kli­nik Arle­sheim liess mich die Anfra­ge für den Ver­wal­tungs­rat posi­tiv beant­wor­ten. Die Kli­nik hat eine Auf­ga­be als Refe­renz­kli­nik für die Anthro­po­so­phi­sche Medi­zin, dafür bin ich bereit, Zeit und Ener­gie ein­zu­set­zen.

Herz­li­chen Dank für das span­nen­de Gespräch und viel Erfolg wei­ter­hin!

 

Fach­per­son

Dr. med. Marc Schläp­pi

Arbeits­schwer­punk­te Fach­arzt Inne­re Medi­zin, Fach­arzt Medi­zi­ni­sche Onko­lo­gie, Fähig­keits­aus­weis Anthro­po­so­phisch erwei­ter­te Medi­zin, MSc Com­ple­men­ta­ry Health Sci­en­ces

Lei­ter des Zen­trums für Inte­gra­ti­ve Medi­zin am Kan­tons­spi­tal St. Gal­len,
Medi­zin­stu­di­um in Lau­sanne, Fach­arzt-
aus­bil­dung an ver­schie­de­nen Spi­tä­lern in der Schweiz

Kon­takt marc.schlaeppi@kssg.ch

Die Kommentarfunktion ist geschlossen.