Forschung in Richtung einer Physiologie der Freiheit

Obwohl es nur zwei Pro­zent der Kör­per­mas­se aus­macht, ver­braucht unser Gehirn rund 20 Pro­zent der Ener­gie, die unser Kör­per ­täg­lich benö­tigt. Es spie­gelt unzäh­li­ge Funk­tio­nen des Kör­pers, spei­chert Erfah­run­gen und Erin­ne­run­gen, ermög­licht uns das Den­ken, Füh­len, Spre­chen und Bewe­gen. Zusam­men mit dem Rücken­mark und dem peri­phe­ren Ner­ven­sys­tem stellt es ein ­wah­res Wun­der­werk dar, dies auch des­halb, weil es eigent­lich ganz selbst­los ist. Ledig­lich im Krank­heits­fall ent­wi­ckelt es eine Eigen­ak­ti­vi­tät. Im Nor­mal­fall jedoch – das zei­gen neue­re For­schun­gen – dient es als Instru­ment unse­rer Vor­stel­lun­gen und Erleb­nis­se und wird geprägt durch unse­ren frei­en Wil­len.

Durch neu­ro­lo­gi­sche Erkran­kun­gen kön­nen wir uns in einer ganz beson­de­ren Wei­se in unse­rer Frei­heit als Mensch beein­träch­tigt füh­len. Was wir uns schon in der Kind­heit durch Gehen ler­nen, Spre­chen ler­nen und schliess­lich Den­ken ler­nen müh­sam ange­eig­net haben, die Fähig­keit, uns als Mensch auf­zu­rich­ten, uns auszudrücken­ und die Welt zu ver­ste­hen, kann durch neu­ro­lo­gi­sche Erkran­kun­gen beein­träch­tigt sein. Denn die Grund­la­ge für all die­se Fähig­kei­ten ist unser Ner­ven­sys­tem: peri­phe­re Ner­ven,­ Rücken­mark und Gehirn.

Plas­ti­zi­tät des Ner­ven­sys­tems

Es kann sein, dass wir nach einem Schlag­an­fall, einer Hirn­ver­let­zung oder durch den Schub einer Mul­ti­plen Skle­ro­se wie­der neu ler­nen müs­sen zu gehen, zu spre­chen oder zu den­ken. Dass dies über­haupt mög­lich ist, wo doch das Ner­ven­sys­tem ähn­lich wie unse­re Kno­chen den mine­ra­lisch-toten Gesetz­mäs­sig­kei­ten einer wohl­ge­füg­ten, unver­än­der­li­chen Ord­nung zu fol­gen scheint und bei Stö­run­gen zunächst nur wenig Rege­ne­ra­ti­ons­mög­lich­kei­ten zeigt, offen­bart eine ganz beson­de­re Fähig­keit des Nervensys­tems, näm­lich sei­ne Plas­ti­zi­tät.
Bei genaue­rem Stu­di­um zeigt sich die Plas­ti­zi­tät als das Urphä­no­men, das Urprin­zip des Ner­ven­sys­tems. Alles, was wir tun, alles, was wir erle­ben, alles, was wir den­ken und vor­stel­len, bil­det sich im Ner­ven­sys­tem wie in einem plas­ti­schen „Spie­gel“ ab – sei es nur als vor­über­ge­hen­des Mus­ter elek­tri­scher Ner­ven­rhyth­men oder als dau­er­haf­te Ner­ven­ver­bin­dun­gen oder Syn­ap­sen. Und wir kön­nen bemer­ken, dass wir erst durch die­ses Ein­prä­gen in das Ner­ven­sys­tem, durch sei­nen rela­ti­ven Wider­stand zum Bewusst­sein unse­rer Erleb­nis­se kom­men. Im Gegen­satz zu allen ande­ren Orga­nen, die jeweils ihre Eigen­tä­tig­keit haben, erscheint das Ner­ven­sys­tem ganz selbst­los, als Instru­ment unse­rer Vor­stel­lun­gen und Erleb­nis­se.

Krank­haft ver­selb­stän­dig­tes Gehirn

Wenn die­ser „Spie­gel“ aber durch den Schub einer Mul­ti­plen Skle­ro­se oder einen Schlag­an­fall sei­ne Nach­gie­big­keit ver­liert, oder wenn gar bei einem epi­lep­ti­schen Anfall das Gehirn eine Eigen­ak­ti­vi­tät ent­wi­ckelt, wer­den wir unse­rer Frei­heit beraubt. Im Fall der Epi­lep­sie kann es sogar dazu kom­men, dass unser Kör­per wäh­rend eines Anfalls Hand­lun­gen aus­führt oder Din­ge sagt, die wir gar nicht gewollt haben. Für einen kur­zen, gespens­ti­schen Moment scheint es, als ob unser mensch­li­cher Kör­per wie zu einem fern­ge­steu­er­ten Robo­ter wird. Ein Para­de­bei­spiel mensch­li­cher Unfrei­heit! (1)
Ganz ent­ge­gen der gesun­den, selbst­los alles spie­geln­den Tätig­keit des nor­ma­len Gehirns ent­fal­ten in einem epi­lep­ti­schen Anfall die elek­tri­schen Pro­zes­se des Gehirns ihren Eigen­wil­len. Ganz so, wie es eine eigent­lich ver­al­te­te, mate­ria­lis­ti­sche Auf­fas­sung von der Funk­ti­on des Gehirns und des Ner­ven­sys­tems behaup­tet: dass unse­re Hand­lun­gen, Emp­fin­dun­gen und Erleb­nis­se durch die elek­tri­sche Akti­vi­tät des Gehirns pro­du­ziert sei­en, wie bei einem Robo­ter, das wird wäh­rend eines epi­lep­ti­schen Anfalls für einen kur­zen Moment Wirk­lich­keit.

Ich-Prä­senz üben

Es ist an uns, die­ses gespens­ti­sche Gegen­bild der mensch­li­chen Wesen­heit durch unse­re Ich-Prä­senz zu wider­le­gen. Mit jedem Auf­wa­chen am Mor­gen gelingt es uns, durch unser Wach­be­wusst­sein mehr oder weni­ger die auto­ma­ti­sche Eigen­ak­ti­vi­tät des Kör­pers und des Ner­ven­sys­tems zurück­zu­drän­gen (2, 3). In die­sem Sin­ne kön­nen auch Men­schen mit Epi­lep­sie durch uner­müd­li­chen Ein­satz ler­nen, Anfäl­le durch „Selbst­kon­trol­le“ zu ver­hin­dern, wie es eine Pati­en­tin in die­sem Heft schil­dert.
Wie schon ande­re vor mir konn­te ich in mei­nen For­schun­gen an der Ore­gon Health and Sci­ence Uni­ver­si­ty zei­gen, dass die­se Selbst­kon­trol­le in Ein­zel­fäl­len mög­lich ist (4, 5). Die For­schun­gen haben auch erge­ben, dass zu stark gewor­de­ne belas­ten­de Gefüh­le wie Angst oder Ärger epi­lep­ti­sche Ver­än­de­run­gen im EEG bewir­ken kön­nen (6) und damit wich­ti­ge Aus­lö­ser für epi­lep­ti­sche Anfäl­le sind. Für die The­ra­pie ist es also wich­tig zu ler­nen, mit Gefüh­len in gesun­der Wei­se umzu­ge­hen.
Doch auch bei Läh­mun­gen, Taub­heits­ge­füh­len oder Schwin­del durch mul­ti­ple Skle­ro­se, Schlag­an­fäl­le oder ande­re Erkran­kun­gen kann es gelin­gen, durch inten­si­ves, sehr geziel­tes Üben die Plas­ti­zi­tät des Ner­ven­sys­tems zu nut­zen, um wie­der eine gesun­de Ner­ven­funk­ti­on zu gewin­nen (7, 8). Es ist geplant, auch die­se Mög­lich­kei­ten an der Ita Weg­man Kli­nik zu unter­su­chen und auf­zu­bau­en.

Der Wil­lens­im­puls ist ent­schei­dend

Die zugrun­de­lie­gen­de Fra­ge „Ist es unser Wil­le, der Bewe­gun­gen mög­lich macht, oder sind es doch unbe­wusst-auto­ma­ti­sche elek­tri­sche Pro­zes­se des Gehirns?“ unter­su­che ich in Zusam­men­ar­beit mit der natur­wis­sen­schaft­li­chen Sek­tion am Goe­thea­num und der Uni­ver­si­tät Wit­ten ­Her­de­cke in Expe­ri­men­ten zum elek­tri­schen „Bereit­schafts­po­ten­zi­al“, wel­ches im Gehirn vor jeder bewuss­ten Bewe­gung, ja sogar schon vor der bewuss­ten Ent­schei­dung auf­tritt.
Ers­te Beob­ach­tun­gen zei­gen, dass das „Bereit­schafts­po­ten­zi­al“ bei einer nicht durch­ge­führ­ten Bewe­gung grös­ser ist als bei einer durch­ge­führ­ten. Damit wäre das gehirn­ge­bun­de­ne Bereit­schafts­po­ten­zi­al ledig­lich der leib­li­che Abdruck der Bewe­gungs­vor­stel­lung, nicht etwa der Anlass für die Bewe­gung selbst. Denn der Bewe­gungs­im­puls selbst ist ein Wil­lens­im­puls, und als sol­cher ein direk­ter Aus­druck unse­res mensch­li­chen Ich.
Per­sön­li­che Erfah­run­gen kön­nen zei­gen, dass das mensch­liche Ich vom Gehirn unab­hän­gig ist, dass das Gehirn ihm als Instru­ment für Vor­stel­lun­gen dient (9). Dage­gen ist die Auf­ga­be der Bewe­gungs­vor­stel­lung und des gehirn­ge­bun­de­nen Bereit­schafts­po­ten­zi­als, die vom mensch­li­chen Willen­ impul­sier­te Bewe­gung in die rich­ti­ge Bahn zu lei­ten, zu gestal­ten, zu for­men. Des­halb müs­sen die Bewe­gungs­vor­stel­lung und das Bereit­schafts­po­ten­zi­al natür­lich schon vor einem Bewegungs­impuls, der Ent­schei­dung für eine Bewe­gung, vor­han­den sein. Zu viel Gestal­tung und Form­kraft, zu viel Ner­ven­ak­ti­vi­tät, kann aber auch zur Bewe­gungs­hem­mung füh­ren, wie zum Bei­spiel bei Mor­bus Par­kin­son, oder der spas­ti­schen Läh­mung bei Mul­ti­pler Skle­ro­se oder nach einem Schlag­an­fall. In einer sol­chen Situa­ti­on ist dann unser Ich inten­siv gefor­dert, neue Bewe­gungs­vor­stel­lun­gen zu bil­den und even­tu­ell sogar unser Gehirn selbst als organ­ge­wor­de­ne Vor­stel­lung umzu­bil­den, um eine Hei­lung mög­lich zu machen.

Autoren164

Fach­per­son Dr. med. Sieg­ward-M. Elsas
Arbeits­schwer­punk­te Stu­di­um der ver­glei­chen­den Ana­to­mie und Phy­sio­lo­gie des Ner­ven­sys­tems und ande­rer Orga­ne in einer von ihm initi­ier­ten goe­thea­nis­ti­schen Arbeits­grup­pe wäh­rend des Medi­zin­stu­di­ums an der Uni­ver­si­tät Wit­ten-Her­de­cke 1984–90. Forschungs­tätigkeit an der Uni­ver­si­ty of Cali­for­nia in Ber­ke­ley (Ent­wick­lung des Ner­ven­sys­tems im Blut­eg­el­em­bryo), in San Fran­cis­co ­(Che­mie des Ner­ven­wachs­tums­fak­tors) und in Los Ange­les (Funk­ti­on von Zink im ­epi­lep­ti­schen Hip­po­cam­pus). 2002–2010 kli­ni­sche neu­ro­phy­sio­lo­gi­sche For­schung und Ver­öf­fent­li­chun­gen an der Ore­gon Health and Sci­ence Uni­ver­si­ty zu Mög­lich­kei­ten der Selbst­kon­trol­le bei Epi­lep­sie.
Kon­takt siegward.elsas@wegmanklinik.ch

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