Faszinierende Heilpflanzenforschung

Heil­pflan­zen auf ihre Wirk­sam­keit hin zu unter­su­chen, ist ein anspruchs­vol­les Unter­fan­gen – das ist Ana Pau­la Simões-Wüst bes­tens ver­traut. Seit 16 Jah­ren forscht sie als Natur­wis­sen­schaf­te­rin auf die­sem Gebiet, seit acht Jah­ren zusätz­lich zu ihrer Tätig­keit am Uni­ver­si­täts­spi­tal Zürich auch an der Kli­nik Arle­sheim. Ihr Spe­zi­al­ge­biet sind Prä­pa­ra­te und Sub­stan­zen aus Bryo­phyl­lum pin­na­tum, einer der Haupt­pflan­zen der anthro­po­so­phi­schen Heil­kun­de, die zuneh­mend auch Ein­zug in die kon­ven­tio­nel­le Medi­zin fin­det.

Die Her­stel­lung pflanz­li­cher Pro­duk­te ist kein exklu­si­ves Merk­mal der Kli­nik Arle­sheim und auch nicht der anthro­po­so­phi­schen Heil­kun­de. Etwa drei Vier­tel der Welt­be­völ­ke­rung ver­las­sen sich auf pflanz­li­che Pro­duk­te zu medi­zi­ni­schen Zwe­cken. Pflanz­li­che Heil­mit­tel wur­den und wer­den noch immer in ver­schie­de­nen For­men der tra­di­tio­nel­len Medi­zin ver­wen­det.

Viel­fäl­ti­ge Her­aus­for­de­run­gen

Heut­zu­ta­ge ist die Anwen­dung von Heil­pflan­zen zuneh­mend evi­denz­ba­siert, obwohl es nach wie vor Schwie­rig­kei­ten bei der Durch­füh­rung der erfor­der­li­chen Stu­di­en gibt, sowohl in finan­zi­el­ler als auch in metho­di­scher Hin­sicht. Finan­zi­ell des­halb, weil die Mög­lich­kei­ten der Her­stel­ler oft begrenzt sind, was auch damit zusam­men­hängt, dass sich pflanz­li­che Pro­duk­te nur beschränkt paten­tie­ren las­sen. Metho­disch vor allem des­we­gen, weil die Anzahl pflanz­li­cher Pro­duk­te hoch ist. Die Pflan­ze als bio­lo­gi­sche Art, die Ern­te­zeit, der geern­te­te Pflan­zen­teil (Blät­ter, Wur­zel, Blü­te, Stän­gel), der Ver­ar­bei­tungs­pro­zess, die Auf­be­wah­rung und Kon­ser­vie­rung und auch die Ver­ab­rei­chungs­form kön­nen unter­schied­lich sein.
Genau genom­men ver­dient jede Kom­bi­na­ti­on die­ser Fak­to­ren, als Medi­ka­ment ange­schaut und ent­spre­chend unter­sucht zu wer­den. Aus­ser­dem haben die aus ver­schie­de­nen Kom­po­nen­ten bestehen­den pflanz­li­chen Heil­mit­tel Poten­zi­al in der Behand­lung meh­re­rer medi­zi­ni­scher Indi­ka­tio­nen. Das bedeu­tet, mehr als ein Wirk­me­cha­nis­mus muss unter­sucht und ver­schie­de­ne kli­ni­sche Stu­di­en müs­sen durch­ge­führt wer­den.
Muss, soll­te, kann das alles bewerk­stel­ligt wer­den? Weil ins­be­son­de­re die Fra­ge der Mach­bar­keit nur mit nein zu beant­wor­ten ist, sind ein paar Stra­te­gi­en ent­stan­den, die Nut­zung pflanz­li­cher Heil­mit­tel zu ver­ein­fa­chen. Einer­seits gibt es ver­ein­fach­te Regis­trie­rungs­ver­fah­ren für pflanz­li­che Pro­duk­te, bei denen eine doku­men­tier­te Pro­dukt­ver­wen­dung und eine sehr gute Ver­träg­lich­keit als aus­rei­chen­de Kri­te­ri­en gel­ten. Ande­rer­seits kön­nen die Inhalts­stof­fe der Pro­duk­te ana­ly­tisch cha­rak­te­ri­siert wer­den. Anhand die­ser Ergeb­nis­se und bekann­ter Daten über Pro­duk­te mit ver­gleich­ba­rer Zusam­men­set­zung kön­nen Wir­kun­gen und vor allem die Sicher­heit ein­ge­schätzt wer­den.

Vor­zei­ti­ge Wehen­tä­tig­keit hin­aus­zö­gern

Bezo­gen auf den Ein­satz der Heil­pflan­ze Bryo­phyl­lum pin­na­tum bei vor­zei­ti­ger Wehen­tä­tig­keit lässt sich exem­pla­risch zei­gen, wie wich­tig und letzt­lich auch erfolg­reich die wis­sen­schaft­li­che Erfor­schung der Wir­kungs­zu­sam­men­hän­ge sein kann.
Vor­zei­ti­ge Wehen­tä­tig­keit ist noch immer eine sehr wich­ti­ge Indi­ka­ti­on in der Geburts­hil­fe, da sie zu Früh­ge­bur­ten füh­ren kann und Früh­ge­bur­ten für einen Gross­teil der Säug­lings­sterb­lich­keit und von Lang­zeit­er­kran­kun­gen ver­ant­wort­lich sind. Ziel der Behand­lung ist es, die Ent­bin­dung um wenigs­tens zwei Tage zu ver­zö­gern, um vor allem eine bes­se­re Lun­gen­rei­fung zu ermög­li­chen. Aber auch eine wei­ter­ge­hen­de Ver­län­ge­rung der Schwan­ger­schaft bis wenigs­tens zur Woche 37 wird ange­strebt, ist aller­dings immer noch zu häu­fig nicht zu errei­chen. Behan­delt wird die vor­zei­ti­ge Wehen­tä­tig­keit mit Medi­ka­men­ten, die die Kon­trak­tio­nen hem­men, mit soge­nann­ten Toko­ly­ti­ka. Die­se ver­ur­sa­chen aber zum Teil gra­vie­ren­de Neben­wir­kun­gen. Meh­re­re Fak­to­ren beein­flus­sen den Ver­lauf, ist doch die vor­zei­ti­ge Wehen­tä­tig­keit eine mul­ti­fak­to­ri­el­le Erkran­kung, bei der auch psy­cho­so­zia­le Aspek­te eine wich­ti­ge Rol­le spie­len.

Ein ers­ter Impuls

In den sieb­zi­ger Jah­ren wur­de in Deutsch­land bei vor­zei­ti­ger Wehen­tä­tig­keit ein hoch dosier­tes Medi­ka­ment der Grup­pe der Beta-Sym­pa­tho­mime­ti­ka sehr breit ein­ge­setzt – mit der Kon­se­quenz, dass vie­le Frau­en die star­ken und häu­fi­gen Neben­wir­kun­gen spür­ten. Nicht zuletzt die­se uner­wünsch­ten Neben­wir­kun­gen dürf­ten den am anthro­po­so­phi­schen Gemein­schafts­kran­ken­haus Her­de­cke täti­gen Dr. Hassau­er dazu ani­miert haben, nach Alter­na­ti­ven zu suchen. So fing er an, die Pati­en­tin­nen mit mode­ra­ter Wehen­tä­tig­keit mit Bryo­phyl­lum pin­na­tum – damals in der Anthro­po­so­phi­schen Medi­zin bekannt wegen sei­ner beru­hi­gen­den Wir­kung – zu behan­deln.
Dr. Hassau­er muss­te sich zwar des Erfolgs sei­ner Behand­lung sicher gewe­sen sein, woll­te aber auch ande­re Ärz­tin­nen und Ärz­te davon über­zeu­gen. So wer­te­te er alle Toko­ly­se-Behand­lun­gen des Jah­res 1979 rück­bli­ckend – das heisst retro­spek­tiv – aus. Es zeig­te sich, dass die Wirk­sam­keit unter die­sen all­täg­li­chen Bedin­gun­gen ver­gleich­bar mit der­je­ni­gen in kon­ven­tio­nel­len Insti­tu­tio­nen war, aber die Neben­wir­kun­gen waren sel­te­ner und schwä­cher als mit der Stan­dard­be­hand­lung. Die Ergeb­nis­se von 1979 wur­den in einer ers­ten Arbeit publi­ziert, zwei ergän­zen­de Publi­ka­tio­nen über retro­spek­ti­ve Stu­di­en folg­ten.
Ver­glei­chen­de For­schung

Der nächs­te wich­ti­ge Schritt war eine Stu­die, die zwar gleich­falls retro­spek­tiv auf­ge­legt, aber ver­glei­chend war. Schwan­ge­re Frau­en mit dro­hen­der Früh­ge­burt wur­den einer­seits aus drei Kli­ni­ken mit Anthro­po­so­phi­scher Medi­zin rekru­tiert, wo sie haupt­säch­lich mit Bryo­phyl­lum pin­na­tum behan­delt wur­den, und ander­seits aus dem Uni­ver­si­täts­spi­tal Zürich mit der dama­li­gen Stan­dard­be­hand­lung mit­tels Beta-Sym­pa­tho­mime­ti­ka. Die Behand­lun­gen erfolg­ten wie sonst in die­sen Spi­tä­lern, die Pati­en­tin­nen wur­den aber im Nach­hin­ein „gematcht“. Das bedeu­tet, die zwei unter­such­ten Grup­pen waren am Anfang der Behand­lung so ähn­lich wie mög­lich, betref­fend der Fak­to­ren, die hin­sicht­lich des Ver­laufs wich­tig sind. Es stell­te sich her­aus, dass bei­de Grup­pen gleich gut abschnit­ten: Die Ver­län­ge­rung der Schwan­ger­schaft und die Schwan­ger­schafts­dau­er bei Geburt waren ähn­lich.
Strikt genom­men kann aber nur mit ran­do­mi­sier­ten, kon­trol­lier­ten Stu­di­en die Wirk­sam­keit eines Medi­ka­ments bewie­sen wer­den. Im Jahr 2006 wur­de des­halb am Uni­ver­si­täts­spi­tal Zürich eine sol­che initi­iert. Frau­en mit dro­hen­der Früh­ge­burt wur­den rekru­tiert und durch ein Zufalls­prin­zip einer von zwei Grup­pen zuge­ord­net – im Fach­jar­gon: ran­do­mi­siert. Die eine Grup­pe wur­de mit Bryo­phyl­lum pin­na­tum behan­delt, die ande­re mit Nife­di­pi­ne, inzwi­schen die bevor­zug­te Stan­dard­me­di­ka­ti­on bei vor­zei­ti­ger Wehen­tä­tig­keit. Haupt­ziel­pa­ra­me­ter war die Anzahl der Kon­trak­tio­nen vier Stun­den nach Beginn der Behand­lung.
Die­se Stu­die wur­de zwar gestoppt, bevor alle für den Ver­gleich bei­der Behand­lun­gen benö­tig­ten Pati­en­tin­nen ein­ge­schlos­sen wor­den waren, da die Rekru­tie­rung lang­sa­mer als erwar­tet ver­lief. Auch wenn des­we­gen die Daten mit Vor­sicht zu genies­sen sind, deu­ten sie dar­auf hin, dass in bei­den Grup­pen eine wich­ti­ge Abnah­me der Anzahl Kon­trak­tio­nen statt­ge­fun­den hat.

Auf­schluss­rei­che Labor­stu­di­en

Die Ent­wick­lung eines neu­en phar­ma­zeu­tisch-syn­the­ti­schen Pro­dukts fängt mit den soge­nann­ten prä­kli­ni­schen oder in-vitro-Ver­su­chen an. Erst nach­her fin­den die kli­ni­schen Stu­di­en statt, viel spä­ter und nur bei viel­ver­spre­chen­den Ergeb­nis­sen wird das Pro­dukt in der kli­ni­schen Pra­xis ein­ge­setzt. Am Anfang der Ent­wick­lung pflanz­li­cher Arz­nei­mit­tel ste­hen eher empi­ri­sche Beob­ach­tun­gen aus der kli­ni­schen Anwen­dung. Unter­su­chun­gen zu ihrem phar­ma­ko­lo­gi­schen Wirk­me­cha­nis­mus wer­den, wenn über­haupt, spä­ter nach­ge­holt.
Mit Bryo­phyl­lum pin­na­tum wur­den die­se Unter­su­chun­gen erst­mals mit Ute­rus-Biop­si­en gemacht, die direkt nach dem Kai­ser­schnitt der Pati­en­tin­nen ent­nom­men wur­den, falls die­se mit der Ent­nah­me ein­ver­stan­den waren. Aus sol­chen Ute­rus-Biop­si­en wer­den dabei klei­ne Strei­fen geschnit­ten, die anschlies­send in einer Myo­graph-Kam­mer auf­ge­spannt wer­den. Dort kön­nen mini­me Ver­än­de­run­gen der Mus­kel­spann­kraft auf­ge­zeich­net wer­den.
Nach­dem ein Strei­fen auf­ge­spannt ist, fängt er typi­scher­wei­se bald spon­tan an zu kon­tra­hie­ren. Die Zuga­be toko­ly­ti­scher Medi­ka­men­te kann die Stär­ke die­ser Kon­trak­tio­nen redu­zie­ren. Zahl­rei­che Expe­ri­men­te mach­ten deut­lich, dass wie­der­hol­te Zuga­ben klei­ner Men­gen von Bryo­phyl­lum pin­na­tum eben­falls zu schwä­che­ren Kon­trak­tio­nen füh­ren. Es zeig­te sich auch, dass Bryo­phyl­lum pin­na­tum die Wir­kung von Toko­ly­ti­ka ver­stär­ken kann. In der Pra­xis wird es tat­säch­lich mehr­heit­lich in Kom­bi­na­ti­on mit sol­chen Stan­dard­me­di­ka­men­ten ein­ge­setzt.
Eben­falls im Labor mög­lich ist die Unter­su­chung der Signal-
über­tra­gungs­we­ge in den soge­nann­ten Myo­me­tri­um-Zel­len, das heisst Mus­kel­zel­len der Gebär­mut­ter­wand, die für die Kon­trak­tio­nen unab­ding­bar sind. So konn­te gezeigt wer­den, dass Blät­ter­press­saft aus Bryo­phyl­lum pin­na­tum bio­lo­gisch sehr aktiv ist und die­se Signal­über­tra­gungs­we­ge hemmt.

Brei­te Aner­ken­nung

Was in den sieb­zi­ger Jah­ren in Her­de­cke ange­fan­gen hat­te, führ­te durch viel For­schungs­ar­beit zu uner­war­te­ten Kon­se­quen­zen. Bryo­phyl­lum-Prä­pa­ra­te wer­den heut­zu­ta­ge nicht nur in der Anthro­po­so­phi­schen Medi­zin, son­dern auch in meh­re­ren gros­sen peri­na­ta­len Zen­tren der Schweiz bei vor­zei­ti­ger Wehen­tä­tig­keit ein­ge­setzt, häu­fig zusätz­lich zu den Stan­dard­me­di­ka­men­ten. Eine neue Umfra­ge zur Benut­zung pflanz­li­cher Heil­mit­tel wäh­rend der Schwan­ger­schaft im Kan­ton Zürich zeigt, dass fast eine von drei Teil­neh­me­rin­nen Bryo­phyl­lum nimmt.

Bei Inter­es­se kön­nen bei der Autorin Lite­ra­tur­hin­wei­se erfragt wer­den.

Infor­ma­tio­nen zum Stu­di­en­gang erhal­ten Sie unter www.atka.ch, Stu­di­en­gang Rhyth­mi­sche Mas­sa­ge The­ra­pie.

Fach­per­son PD Dr. phil. II ℗ Dipl. Biol.
Ana Pau­la Simões-Wüst
Bio­lo­gie­stu­di­um Uni­ver­si­tät Coim­bra (PT). Biochemikerin/Zellbiologin an der Uni­ver­si­tät Utrecht (NL, hier auch Arbeit an Pro­mo­ti­on), am Deut­schen Krebs­for­schungs­zen­trum Hei­del­berg (DE) und am Labor für Onko­lo­gie des Uni­ver­si­täts­spi­tals Zürich. Erfor­schung der mole­ku­la­ren Grund­la­ge meh­re­rer Krank­hei­ten. Zwi­schen 2007 und 2014 Lei­tung der For­schungs­ab­tei­lung des Para­cel­sus-Spi­tals Rich­ters­wil. Seit 2014 Wis­sen­schaft­li­che Mit­ar­bei­te­rin an der Kli­nik Arle­sheim und For­schungs­grup­pen­lei­te­rin am Uni­ver­si­täts­spi­tal Zürich. Seit 2016 Pri­vat­do­zen­tin der medi­zi­ni­schen Fakul­tät an der Uni­ver­si­tät Zürich.
Kon­takt AnaPaula.Simoes-Wuest@klinik-arlesheim.ch

 

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