Es braucht den Blick auf das Ganze

Die­ser Über­zeu­gung ist der Infek­tio­lo­ge Prof. Dr. med. Phil­ip Tarr, Co-Chef­arzt am Kan­tons­spi­tal Basel­land. „Quinte“-Redaktorin Vere­na Jäsch­ke hat mit ihm über die Ent­wick­lung der Medi­zin und die Her­aus­for­de­run­gen des Gesund­heits­we­sens gespro­chen.

Wohin ent­wi­ckelt sich Ihrer Mei­nung nach die Medi­zin in der Schweiz?

Ich sehe da zwei Ten­den­zen: Zum einen wer­den die klas­si­schen schul­me­di­zi­ni­schen Ele­men­te zuneh­men. So wer­den wir zum Bei­spiel immer bes­se­re Herz­klap­pen­pro­the­sen und onko­lo­gi­sche Anti­kör­per­the­ra­pi­en ent­wi­ckeln. Der medi­zi­ni­sche Fort­schritt wird auch in Zukunft fan­tas­ti­sche Ergeb­nis­se zei­gen. Zudem wird die Spe­zia­li­sie­rung wei­ter zuneh­men. Schon heu­te gibt es für alles Spe­zia­lis­tin­nen und Spe­zia­lis­ten, und die­se Ent­wick­lung wird so wei­ter­ge­hen. Zum ande­ren muss es da ver­stärkt jeman­den geben, der das inte­griert, was all die Spe­zia­lis­tin­nen machen. Das ist meist die klas­si­sche Haus­ärz­tin, und es sind die inte­gra­tiv­me­di­zi­nisch Prak­ti­zie­ren­den. Die stel­len den kran­ken Men­schen als Per­son in den Mit­tel­punkt; sie sehen nicht nur die ein­zel­nen Pro­ble­me, son­dern eben den gan­zen Men­schen. Ich fin­de, das ist die bes­te Medi­zin, die die­se bei­den Sei­ten inte­grie­ren kann. Ich den­ke, das ist die Zukunft. Es braucht den Blick auf das Gan­ze.

Also ganz­heit­li­che Medi­zin auch inner­halb der Schul­me­di­zin?

Ja! Auch bei uns, einem nicht anthro­po­so­phi­schen Spi­tal, braucht es die All­ge­mein­me­di­zin – also die­je­ni­gen, die die Details, die ver­schie­de­nen Ergeb­nis­se aus den diver­sen Fach­rich­tun­gen zusam­men­brin­gen. Inso­fern ist auch hier ein inte­gra­ti­ver Ansatz sinn­voll. Die schul­me­di­zi­ni­schen Fort­schrit­te darf man aber auf kei­nen Fall klein­re­den. So fin­de ich per­sön­lich die Tat­sa­che, dass wir wirk­sa­me Coro­na-Imp­fun­gen innert weni­ger als einem Jahr auf die Bei­ne gestellt haben, sehr beein­dru­ckend. Die­ser Erfolg wird ja auch von der Anthro­po­so­phi­schen Medi­zin posi­tiv bewer­tet.

Was erwar­tet die Ärz­tin­nen und Ärz­te im Schwei­zer Gesund­heits­we­sen?

Wegen der Kos­ten­zu­nah­me kön­nen die Poli­ti­ke­rin­nen und Poli­ti­ker da nicht taten­los zuse­hen. Ich glau­be, dass die Regle­men­tie­run­gen wei­ter zuneh­men wer­den, es wer­den immer mehr Qua­li­täts­nach­wei­se erfor­der­lich sein. Der Kos­ten­druck wird stei­gen und mit die­sem der Ein­fluss der Betriebs­wirt­schaft und Poli­tik. Wir wis­sen lei­der, dass gewis­se Regle­men­tie­run­gen die Qua­li­tät nicht stei­gern und dafür die Moti­va­ti­on der Ärz­tin­nen und Ärz­te sinkt. Ech­te Qua­li­tät ist schwie­rig zu mes­sen, son­dern wird am bes­ten dar­ge­stellt durch ein gutes Ver­hält­nis zwi­schen der Ärz­tin und ihrem Pati­en­ten und nicht über irgend­wel­che Mes­sun­gen. Das kommt lei­der zu kurz.

Macht es dann eigent­lich noch Spass, Arzt zu sein?

Das ist eine gute Fra­ge; mir macht es immer noch enor­men Spass, aber wir lei­den alle unter den zuneh­men­den admi­nis­tra­ti­ven Tätig­kei­ten, auf die wir lie­ber ver­zich­ten wür­den.

Wel­che Her­aus­for­de­run­gen sehen Sie für das Gesund­heits­we­sen, aber auch für die Spi­tä­ler und für Sie als Arzt, als Teil von die­sem Gesund­heits­we­sen?

Ich sehe gros­se Her­aus­for­de­run­gen für die Moti­va­ti­on. Die hoch­mo­ti­vier­ten Ärz­tin­nen und Ärz­te, die Tag und Nacht zu arbei­ten bereit sind, wer­den wohl weni­ger wer­den. Das sieht man ja schon an den jun­gen Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen; die las­sen sich lie­ber anstel­len und haben gern ein Pen­sum, das sich klar defi­nie­ren lässt. Es ist ja auch posi­tiv, dass sie auf ihre Work-Life-Balan­ce schau­en. Nur befürch­te ich, dass dar­un­ter der Fort­schritt lei­den könn­te und die Ärz­tin­nen und Ärz­te viel von ihrer Selb­stän­dig­keit ver­lie­ren. Medi­zin wird mehr zu einem nor­ma­len Beruf wer­den und weni­ger Beru­fung sein. Das macht mir ein wenig Sor­gen. Aber natür­lich lei­den die Fami­lie und Hob­bies, wenn man 80 Stun­den die Woche für die Medi­zin inves­tiert.

Wie beschrei­ben Sie das Spi­tal der Zukunft?

Ich glau­be, das wird im glei­chen Stil wei­ter­ge­hen wie die letz­ten zehn Jah­re schon: Die Spe­zia­li­sie­rung wird zuneh­men. Gleich­zei­tig haben die Spi­tä­ler erkannt, dass die all­ge­mei­ne Medi­zin eben doch not­wen­dig ist. Ohne inter­dis­zi­pli­nä­re Zusam­men­ar­beit geht es nicht. Ich freue mich, dass die­se Ten­denz eher Auf­wind bekommt.

Wel­che Rol­le wird die Digi­ta­li­sie­rung der Medi­zin spie­len?

Die Digi­ta­li­sie­rung ist wich­tig, auch für die For­schung. Ich glau­be, es gibt zu vie­le klei­ne Stu­di­en. Da braucht es unbe­dingt mehr Ver­net­zung. So kann sich zum Bei­spiel die Kli­nik Arle­sheim mit deut­schen anthro­po­so­phi­schen Kli­ni­ken ver­net­zen, ihre Daten tei­len und span­nen­de Pro­jek­te zusam­men machen. Das hat her­vor­ra­gen­des Poten­zi­al. Wich­tig ist, dass wir bei aller Digi­ta­li­sie­rung nicht den Men­schen ver­ges­sen, um den es in der Medi­zin geht.

Wie sehen Sie die Mög­lich­kei­ten der Kom­ple­men­tär­me­di­zin in der Schweiz? Kön­nen Sie sich vor­stel­len, dass in 30 Jah­ren ein Uni­ver­si­täts­spi­tal eine Abtei­lung für Anthro­po­so­phi­sche Medi­zin hat?

Dies­be­züg­lich bin ich offen und sehe es sehr posi­tiv, dass die fünf kom­ple­men­tär­me­di­zi­ni­schen Rich­tun­gen in der Ver­fas­sung ver­an­kert sind. Wir müs­sen über das Niveau der Dis­kus­si­on hin­weg­kom­men, dass nur das gut ist, was auch wis­sen­schaft­lich bewie­sen ist. Ein Vier­tel bis die Hälf­te der Schwei­zer Bevöl­ke­rung nimmt Kom­ple­men­tär­me­di­zin in Anspruch. Sie inter­es­siert die­se Dis­kus­si­on nicht. Das ist doch fan­tas­tisch. Wenn die­se Men­schen zufrie­den sind, dann soll man sie in Frie­den die Kom­ple­men­tär­me­di­zin in Anspruch neh­men las­sen. Der Erfolg der Kli­nik Arle­sheim spricht für sich. Eber­hardt Wolff, ein Medi­zin­his­to­ri­ker, hat mal zum The­ma Imp­fun­gen gesagt: „Da kom­men wir nicht wei­ter, wenn wir die ewig glei­chen Dis­kus­sio­nen wie­der­ho­len. Son­dern man soll erst­mal bei­sei­tel­as­sen: Wer hat Recht und wer hat nicht Recht?“ Nur so kommt man mit­ein­an­der ins Gespräch. Das hat für unser Natio­na­les For­schungs­pro­gramm zur Impf­skep­sis her­vor­ra­gend funk­tio­niert, wir haben eine sehr pro­duk­ti­ve, inter­es­san­te und span­nen­de Zusam­men­ar­beit mit der Kom­ple­men­tär­me­di­zin.

Wo sehen Sie die Mög­lich­kei­ten zur Zusam­men­ar­beit mit der Kom­ple­men­tär­me­di­zin?

In der Infek­tio­lo­gie fokus­sie­ren wir – fin­de ich – viel zu sehr auf den Spi­tal­be­reich. Mehr als 80 Pro­zent aller Anti­bio­ti­ka wer­den ambu­lant ver­schrie­ben, des­halb müs­sen wir uns mehr für Infek­tio­nen in der Haus­arzt­pra­xis inter­es­sie­ren. Dani­el Krüer­ke und Phil­ipp Busche haben vor weni­gen Jah­ren in der Quin­te sehr gute Arti­kel geschrie­ben über Anti­bio­tika­re­sis­ten­zen (Aus­ga­be 50, Anm. der Red.). Ich möch­te beto­nen, dass die Idee, dass eine Bla­sen­ent­zün­dung oder eine Strep­to­kok­ken­an­gi­na ohne Anti­bio­ti­ka behan­delt wer­den kön­nen, aus der Kom­ple­men­tär­me­di­zin kommt. Wenn wir Anti­bio­ti­ka ein­spa­ren wol­len, dann soll­ten wir mit der Kom­ple­men­tär­me­di­zin zusam­men­ar­bei­ten: Wie behand­le ich eine Bla­sen­ent­zün­dung, eine Strep­to­kok­ken­an­gi­na kon­kret? Wie mache ich das ohne Anti­bio­ti­ka? Mache ich einen Wickel? Set­ze ich auf Gur­geln, Trin­ken, Wär­me und all die Mög­lich­kei­ten, die es in der Kom­ple­men­tär­me­di­zin halt gibt? Ich sehe es als wich­tig, dass wir wie­der bes­ser ler­nen, die Sym­pto­me zu lin­dern, mit einer Beto­nung der Für­sor­ge für die Pati­en­tin. Weni­ger Anti­bio­ti­ka ein­zu­set­zen ist unpro­ble­ma­tisch, will aber gelernt sein.

Wel­che Ent­wick­lun­gen zeich­nen sich in Bezug auf die Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten ab?

Sie sind heu­te bes­ser infor­miert als vor 30 Jah­ren. Sie möch­ten nicht mehr nur pas­si­ve Emp­fän­ger von top-down-Befeh­len von einem auto­ri­tä­ren Arzt – und damals waren es vor allem Män­ner – sein. Ich plä­die­re dafür, dass die Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten mit­re­den dür­fen. Wir Ärz­tin­nen und Ärz­te sol­len ihre Auto­no­mie heu­te mehr respek­tie­ren. Die schwei­ze­ri­sche Aka­de­mie der medi­zi­ni­schen Wis­sen­schaf­ten hat gera­de ein Doku­ment ver­öf­fent­licht, in dem es heisst: „Wir müs­sen die Auto­no­mie der Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten auch dann respek­tie­ren, wenn sie Ent­schei­de tref­fen, die uns unver­nünf­tig erschei­nen.“ Denn ihre Auto­no­mie an sich ist ein hohes Gut. – Das fin­de ich zen­tral. Aus­ser­dem ver­wei­sen sie dar­auf, dass die Berück­sich­ti­gung der Auto­no­mie kul­ti­viert wer­den muss. Das ist nicht etwas, was wir Ärz­tin­nen und Ärz­te ein­fach kön­nen, wir müs­sen das ver­mehrt kul­ti­vie­ren: der Pati­en­tin, dem Pati­en­ten zuhö­ren, sie in Ent­schei­de mit­ein­be­zie­hen und gemein­sam über die Behand­lung ent­schei­den. Vor­aus­set­zung für die­ses „Sha­red Decisi­on Making“, das gemein­sa­me Ent­schei­den, ist der infor­mier­te Pati­ent, die infor­mier­te Pati­en­tin. Mir ist das sehr wich­tig. Dar­auf müss­te auch unbe­dingt schon in der Aus­bil­dung Wert gelegt wer­den. Es reicht nicht, die Medi­zin als Wis­sen­schaft und als Hand­werk per­fekt zu beherr­schen. Es braucht sehr vie­le kom­mu­ni­ka­ti­ve Fähig­kei­ten und die Bereit­schaft, mit den Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten zu arbei­ten.

Wie pas­sen Stär­kung der Pati­en­ten­au­to­no­mie und zuneh­men­der Kos­ten- und Zeit­druck zusam­men?

Ich weiss, dass eine pati­en­ten­zen­trier­te Medi­zin den Ruf hat, dass sie viel Zeit braucht; aber ich glau­be, das ist nicht so. Wenn man das mal kul­ti­viert und ver­in­ner­licht hat, dann braucht das nicht viel mehr Zeit. Auch eine Impf­be­ra­tung muss nicht immer 45 Minu­ten dau­ern. Denn weder ich als Arzt noch das Bun­des­amt ent­schei­det über die Imp­fung. Es darf jede und jeder selbst ent­schei­den – das heisst aber auch, sie oder er muss die­se Ent­schei­dung tref­fen. Ich darf den Ball also zurück­spie­len und brau­che dann viel­leicht nicht 45 Minu­ten Zeit, die ich sowie­so nicht habe. Son­dern die Pati­en­tin, der Pati­ent geht nach Hau­se und recher­chiert das im sozia­len Umfeld, liest dazu viel­leicht etwas nach. Wenn sie dann zu einem nächs­ten Gespräch kom­men, haben sie bereits die Arbeit gemacht, die es braucht. Ich bin da sehr opti­mis­tisch. Wenn ich das bereits kul­ti­viert und mir die­se pati­en­ten­zen­trier­te Hal­tung zu eigen gemacht habe, dann ist es viel ein­fa­cher, als wenn es noch etwas Frem­des ist. Wich­tig ist, dass wir mit den Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten im Gespräch blei­ben.

Was hal­ten Sie davon, wenn sich Pati­en­tin­nen selbst Wis­sen aneig­nen, recher­chie­ren und mög­li­cher­wei­se schon mit der Dia­gno­se zu Ihnen in die Sprech­stun­de kom­men?

Das ist per­fekt. Und es ist ja auch nicht so, dass ich dann nichts mehr zu tun hät­te. Die Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten haben mit dem Inter­net sehr vie­le Infor­ma­tio­nen zur Ver­fü­gung. Der Zugang zu Infor­ma­tio­nen ist heu­te sehr leicht. Aber es sind auch sehr vie­le Infor­ma­tio­nen ver­füg­bar, die sich zum Teil wider­spre­chen. Dann kom­men die Pati­en­tin­nen teils ver­wirrt oder besorgt, weil sie es nicht mehr ver­ste­hen und nicht mehr ein­ord­nen kön­nen. Ich freue mich sehr, wenn die Pati­en­ten bereits recher­chiert haben. Es ist eine sehr gute Ent­wick­lung – das macht es aber nicht im-mer ein­fach.

Was wün­schen Sie der Kli­nik Arle­sheim für die nächs­ten 100 Jah­re?

Las­sen Sie mich das Bild des Früh­lings­an­fangs nut­zen, wenn es noch kalt ist und die ers­ten Blü­ten raus­kom­men. Ich wün­sche der Kli­nik Arle­sheim, dass die Knos­pen zu Blü­ten wer­den! Da wird eine inte­gra­ti­ve Medi­zin prak­ti­ziert, wie wir es an den Uni­ver­si­täts- und Kan­tons­spi­tä­lern ver­mehrt auch machen soll­ten – abso­lut. Eine Medi­zin, in der nicht nur das medi­zi­ni­sche Pro­blem, son­dern die Pati­en­tin und der Pati­ent im Vor­der­grund ste­hen – ich den­ke, das kön­nen wir auch, und das müs­sen wir in der Schul­me­di­zin wie­der mehr machen. Vie­le schul­me­di­zi­ni­sche Haus­ärz­tin­nen und Haus­ärz­te kön­nen das bereits gut, auch man­che Spi­tal­ärz­te, wir müs­sen das nur noch mehr kul­ti­vie­ren.

Herz­li­chen Dank für das Gespräch!

 

Prof. Dr. med. Philip Tarr

Fach­per­son

Prof. Dr. med. Phil­ip Tarr

Fach­arzt All­ge­mei­ne Inne­re Medi­zin und Infek­tio­lo­gie am Kan­tons­spi­tal Basel­land auf dem Bru­der­holz.
Co-Chef­arzt Medi­zi­ni­sche Uni­ver­si­täts­kli­nik, Infek­tio­lo­gie und Spi­tal­hy­gie­ne.
Inten­si­ve For­schungs­tä­tig­keit, u.a. Natio­na­les For­schungs­pro­gramm NFP74 zu Impf­skep­sis, in Zusam­men­ar­beit mit der Uni­ver­si­tät Genf, der Kli­nik Arle­sheim, dem Kan­tons­spi­tal Fri­bourg und der UNION der kom­ple­men­tär­me­di­zi­nisch täti­gen Ärz­tin­nen und Ärz­te,
zudem For­schung zu HIV und Älter­wer­den in Zusam­men­ar­beit mit der Schwei­ze­ri­schen HIV- Kohor­ten­stu­die.
Inter­es­se für den zurück­hal­ten­den Anti­bio­ti­ka-
ein­satz in der Medi­zin. Ein­satz für prak­tisch nütz­li­che Wei­ter­bil­dung von Kol­le­gen und
Kol­le­gin­nen.
Kon­takt philip.tarr@unibas.ch

 

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