Eine gemeinsame Sprache sprechen

Eine gute Arzt-Pati­en­ten-Bezie­hung bil­det eine zen­tra­le Vor­aus­set­zung für einen nach­hal­ti­gen Hei­lungs­pro­zess. Sie setzt die Kom­mu­ni­ka­ti­on in einer Spra­che vor­aus, die vom Gegen­über ver­stan­den wer­den kann, wie auch die Bereit­schaft zu einem offe­nen Dia­log, in dem die Bedürf­nis­se und Vor­stel­lungs­bil­der des Pati­en­ten ernst genom­men wer­den.

Die Begeg­nung von Arzt und Pati­ent gestal­tet sich in der Haus­arzt­me­di­zin beson­ders durch die Spra­che – nicht von unge­fähr nen­nen wir sie des­halb eine „Sprech­stun­de“. Aller­dings kann man sich in der heu­ti­gen Zeit fra­gen, ob die­ser Begriff über­haupt noch zeit­ge­mäss ist, wird doch die­ser Begeg­nungs­raum immer mehr bedrängt vom wirt­schaft­li­chen Druck und von der all­ge­mei­nen Beschleu­ni­gung des Lebens. Dadurch droht die Arzt-Pati­en­ten-Begeg­nung dar­auf redu­ziert zu wer­den, direkt die Befun­de zu „be-spre­chen“, um die The­ra­pie ein­lei­ten zu kön­nen – fast ver­ges­send, in wel­cher Bezie­hung die Befun­de zum Befin­den des Pati­en­ten ste­hen.

Übersetzungsarbeit ins Konkrete

Die Art der Begeg­nung zwi­schen Arzt und Pati­ent spie­gelt sich in der Art der Spra­che, die zwi­schen bei­den gespro­chen wird. Bereits die ein­lei­ten­de Fra­ge: „Was fehlt Ihnen?“ oder „Was ist Ihr Pro­blem?“ wird eine ande­re Ant­wort gene­rie­ren als „Was liegt Ihnen auf dem Her­zen?“, „Wie füh­len Sie sich?“ oder „Was ist Ihr Anlie­gen heu­te?“, vor­aus­ge­setzt, die­se offe­nen Fra­gen wer­den auch mit einer gewis­sen offe­nen „See­len­wär­me“ und einer ein­la­den­den Hal­tung aus­ge­spro­chen. Danach besteht die zen­tra­le Fra­ge dar­in, ob es inner­halb der Sprech­stun­de gelingt, eine gemein­sa­me Spra­che zu spre­chen? Ver­ste­hen wir uns über­haupt? Oder spre­chen wir anein­an­der vor­bei?
Die Bedeu­tung eines Wor­tes oder eines Tex­tes erschliesst sich stets nur aus sei­nem Kon­text. Die Äus­se­run­gen des Pati­en­ten sind dabei an einen ande­ren Erfah­rungs­hin­ter­grund gebun­den als jene des Arz­tes. Oft sind sie kul­tu­rell geprägt und kön­nen dadurch mit ver­schie­de­nen Asso­zia­tio­nen ver­bun­den sein. Die Fach­spra­che des Arz­tes wirkt oft sehr abs­trakt und für einen medi­zi­ni­schen Lai­en unver­ständ­lich. So soll­te sich der Arzt bewusst sein, dass der Pati­ent unter einer „Strei­fung“, „Meta­sta­sen“, einer „Hys­te­rie“, einer „Demenz“, einem „Par­kin­son“ oder „Tumor“ etc. unter Umstän­den etwas ande­res ver­steht als er.
Ent­spre­chend wird von uns Ärz­ten gefor­dert, immer wie­der aufs Neue eine Über­set­zungs­ar­beit zu leis­ten, um vom Abs­trak­ten ins Kon­kre­te, ins Anschau­li­che zu kom­men. Es gilt, sich in das Gegen­über hin­ein­zu­ver­set­zen, sich zu bemü­hen, die Spra­che des Pati­en­ten zu spre­chen und nach­zu­fra­gen, was tat­säch­lich ver­stan­den wur­de und gege­be­nen­falls not­wen­di­ge Erklä­run­gen zu lie­fern.

Komplexe Inhalte mit Bildern veranschaulichen

Rudolf Stei­ner schil­dert in einem Auf­satz „Spra­che und Sprach­geist“ (GA 36): „Je abs­trak­ter das unmit­tel­ba­re Sprach­er­le­ben wird, des­to mehr wer­den die See­len der Men­schen von­ein­an­der geschie­den. Was abs­trakt ist, hat der ein­zel­ne Mensch für sich. Er bil­det es für sich aus.“ … „Nun aber leben wir in einem Zeit­al­ter, in dem gegen­über allem Tren­nen­den zwi­schen Men­schen und Völ­kern das Ver­bin­den­de bewusst gepflegt wer­den muss. Denn auch zwi­schen Men­schen, die ver­schie­de­ne Spra­chen spre­chen, wird das Tren­nen­de hin­weg­ge­räumt, wenn ein jeg­li­cher in sei­ner Spra­che das Anschau­li­che erlebt.“ (S. 299)
Wor­te sind Brü­cken­bau­er, sie kön­nen aber auch tren­nend und ver­wir­rend, ja sogar ver­let­zend wir­ken. Dabei besteht in der Medi­zin die Her­aus­for­de­rung, dass dem Gegen­über oft sehr kom­ple­xe Vor­gän­ge ver­mit­telt wer­den sol­len, sei es sei­tens des Pati­en­ten, der ver­sucht, sein Lei­den in Wor­te zu fas­sen, oder sei­tens des Arz­tes, der ver­sucht, den Pati­en­ten bei­spiels­wei­se über eine geplan­te Ope­ra­ti­on auf­zu­klä­ren.
Gera­de in die­ser Über­set­zungs­ar­beit von kom­ple­xen Inhal­ten in eine ein­fa­che, ver­ständ­li­che­re Spra­che spie­len Bil­der und Meta­phern, die häu­fig jedoch unbe­wusst gebraucht wer­den, eine wesent­li­che Rol­le (vgl. Schie­fer, 2005). Bei­spie­le für sol­che Sprach­bil­der und Meta­phern sind: der Pati­ent hat Amei­sen­lau­fen, sieht Flie­gen vor den Augen, hat mes­ser­stich­ar­ti­ge Schmer­zen, gür­tel­för­mi­ge Aus­strah­lun­gen von Bauch­schmer­zen, das Herz wer­de wie ein Pan­zer ein­ge­drückt, das Herz rast so. Aus der Psy­cho­so­ma­tik ken­nen wir Aus­drü­cke wie: das geht mir an die Nie­ren, die Angst sitzt mir im Nacken, es ist mir etwas über die Leber gelau­fen.
Oft hel­fen dem Arzt die­se Aus­drucks­for­men auch in einer dia­gnos­ti­schen Hin­sicht, so dass er zum Bei­spiel bei „gür­tel-
för­mi­gen“ Ober­bauch­schmer­zen an eine Pan­krea­ti­tis denkt oder bei der Schil­de­rung des „Pan­zers“ um das Herz an einen Herz­in­farkt. Die Beschrei­bung, dass uns etwas „an die Nie­ren geht“, kann ihm Hin­wei­se geben, dass er die Nie­ren des Pati­en­ten bei­spiels­wei­se mit einem Ing­wer­wi­ckel oder etwas Ähn­li­chem stär­ken könn­te.

Zweischneidige Metaphern

Der Pati­ent ver­sucht, sein Lei­den zu ver­mit­teln, für das es unter Umstän­den gar kei­ne ent­spre­chen­den Wor­te gibt. Der depres­si­ve, der „gedrück­te“ Pati­ent schil­dert: „Ich ste­cke in einem Loch, alles ist grau und dun­kel“. Oder wie eine Pati­en­tin kürz­lich sag­te: „Ich bin völ­lig leer.“ Der Arzt ist bemüht, sein Wis­sen, sei­ne Vor­stel­lun­gen und Theo­ri­en zu ver­mit­teln, wenn er sich zum Bei­spiel einer „Maschi­nen­spra­che“ bedient, um Funk­tio­nen des Men­schen zu beschrei­ben: der Darm wird dann zu einer „Röh­re“, das Gehirn zu einem „Com­pu­ter“, das Herz mit­un­ter zu einer „Pum­pe“, Krank­heit zum „Defekt“, den es zu repa­rie­ren gilt.
Einer­seits sind die­se Meta­phern in bestimm­ten Situa­tio­nen sehr hilf­reich, da sie ein­zel­ne Aspek­te beleuch­ten bzw. ver­deut­li­chen und kom­ple­xe Inhal­te ver­ein­fa­chen kön­nen. Ande­rer­seits begren­zen sie unser Den­ken, Vor­stel­lun­gen und damit auch unse­re Wahr­neh­mung und kön­nen zu Fehl-
inter­pre­ta­tio­nen füh­ren. Sie wer­den dann der Kom­ple­xi­tät und Pro­zess­haf­tig­keit des Lebens nicht gerecht. Dies gilt ins­be­son­de­re dann, wenn sie gar nicht als Ver­ein­fa­chung der Dar­stel­lung erkannt, son­dern direkt als die Rea­li­tät emp­fun­den wer­den – wenn das Herz tat­säch­lich zur Pum­pe oder das Gehirn zum Com­pu­ter wird. Wie jede gewohn­heits­mäs­si­ge Hand­lung kann die Ver­wen­dung sol­cher Bil­der zu unbe­wuss­ten Auto­ma­tis­men wer­den, die ihr Eigen­le­ben füh­ren, wenn sie nicht immer wie­der aufs Neue hin­ter­fragt wer­den.

Brücken zum Erleben des Anderen bauen

Unser Men­schen- und Welt­bild prägt unser Ver­ständ­nis von Krank­heit und Gesund­heit und damit auch unse­re Bezie­hung zum Mit­men­schen. In der Anthro­po­so­phie schil­dert Rudolf Stei­ner Bil­der vom Her­zen als „Wahr­neh­mungs­or­gan“, „Zeit­or­gan“, „Schwel­len­or­gan für Inkar­na­ti­on und Exkar­na­ti­on“ oder als „Waa­ge von Erden­wol­len und kos­mi­schem Wol­len“.
Begeg­net der Arzt dem Pati­en­ten mit einer inne­ren Hal­tung, die sich dafür inter­es­siert, wie es um sein Herz steht, so wird sich die Begeg­nung zwangs­läu­fig anders gestal­ten, wenn der Arzt das Herz als eine Pum­pe oder wenn er es als ein Wahr­neh­mungs­or­gan oder als eine Waa­ge von Erden­wol­len und kos­mi­schem Wol­len denkt. Viel­leicht wird die Begeg­nung etwas vor­sich­ti­ger, fra­gen­der, ein­fühl­sa­mer und viel­leicht sogar ehr­furchts­vol­ler vor der Gross­ar­tig­keit der Schöp­fung.
Ich muss meist inner­lich auf­hor­chen, wenn ein Pati­ent um einen als geeig­net erschei­nen­den Aus­druck „ringt“ – „wie soll ich es sagen …?“ –, wenn dabei klar wird, dass es für ihn bedeut­sam ist, einen pas­sen­den Aus­druck für sein Erle­ben zu fin­den. Gelingt es im Gespräch, einen Zugang zu den Bild­wor­ten des Gegen­übers zu fin­den, kann dies eine Brü­cke zum Erle­ben des Ande­ren schla­gen.

Das Verbindende einer gemeinsamen Sprache fördern

Sich wahr­lich ein­las­sen auf das Bild und damit das Erle­ben des Ande­ren erfor­dert Mut, begibt man sich dabei doch auch in eine ande­re Welt. The­ra­peu­ti­sche Arbeit kann hier­bei bedeu­ten, die ent­stan­de­nen Bil­der bes­ser zu ver­ste­hen. Manch­mal gilt es, ein­sei­ti­ge Prä­gun­gen zu erken­nen, die kaum Hand­lungs­spiel­raum las­sen, in gewis­ser Wei­se in eine Sack­gas­se füh­ren. Dann gilt es, die­se Bil­der und Vor­stel­lun­gen zu wan­deln, sie zu erwei­tern oder manch­mal auch durch ande­re zu erset­zen.
So teil­te mir eine Pati­en­tin, die sich in einer bio­gra­phi­schen Kri­se befand, mit: „Ich ste­he in der Wüs­te.“ Auf die Nach­fra­ge, was sie mit Wüs­te mei­ne, erfah­re ich, dass sie sich vom Leben ver­las­sen, aus­ge­dorrt füh­le. Ein the­ra­peu­ti­scher Ansatz könn­te dann sein, zu erkun­den: Wo ist das Leben hin? Gibt es eine ret­ten­de Oase? Was braucht es, damit die­se Ein­öde wie­der belebt wer­den kann?
Gera­de in der anthro­po­so­phisch ori­en­tier­ten Medi­zin soll­te das Bestre­ben dahin gehen, eine Spra­che zu spre­chen, die das Ver­bin­den­de einer gemein­sa­men Spra­che in den Vor­der­grund stellt, indem die Anschau­lich­keit und Leben­dig­keit im Erle­ben ver­mit­telt wird und im bewuss­ten Umgang mit der bild­haf­ten Spra­che das zen­tra­le Bemü­hen steht, den Hei­ler­wil­len wie­der ent­zün­den zu kön­nen.

Lite­ra­tur­an­ga­ben
Schie­fer, Mat­thi­as (2005) Die meta­pho­ri­sche Spra­che in der Medi­zin: Meta­pho­ri­sche Kon­zep­tua­li­sie­run­gen in der Medi­zin und ihre ethi­schen Impli­ka­tio­nen unter­sucht anhand von Arzt­brief­ana­ly­sen. LIT-Ver­lag
Stei­ner, Rudolf (1922) Spra­che und Sprach­geist. GA 36,
S. 296–300; (Erst­ver­öf­fent­li­chung in: Das Goe­thea­num,
I. Jahr­gang, Nr. 50, 23. Juli 1922)

Matthias Schiefer

Fach­per­son

Dr. med. Mat­thi­as Schie­fer

Arbeits­schwer­punk­te Fach­arzt für All­ge­mei­ne Inne­re Medi­zin (CH). Mit­glied FMH. Fähig­keits­aus­weis für Psy­cho­so­ma­ti­sche und Psy­cho­so­zia­le Medi­zin SAPPM. 2000 anthro­po­so­phi­sches Ärz­te­se­mi­nar an der Lukas Kli­nik. 2005 Dis­ser­ta­ti­on zum The­ma der meta­pho­ri­schen Spra­che in der Medi­zin Seit 2012 als Haus­arzt an der Kli­nik Arle­sheim tätig.
Kon­takt matthias.schiefer@klinik-arlesheim.ch

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