Durch Rhythmus das Leben fördern

In der Behand­lung von Tumor­er­kran­kun­gen wer­den in der Anthro­po­so­phi­schen Medi­zin ver­schie­de­ne ergän­zen­de The­ra­pi­en ein­ge­setzt; eine davon ist die Hei­leu­ryth­mie. Obers­tes Ziel der anthro­posophischen The­ra­pie­for­men ist es, die gesun­den Kräf­te des Pati­en­ten zu stär­ken, ihn zu akti­vie­ren und so sei­ne Lebens­qua­li­tät zu erhö­hen. Vere­na Jäsch­ke sprach mit Chris­tia­ne Rust und Nor­man Kin­ge­ter über die Mög­lich­kei­ten der Hei­leu­ryth­mie und ihre Erfah­run­gen bei deren Ein­satz.

In Ihrer Arbeit als Hei­leu­ryth­mis­ten begeg­nen Ihnen vie­le Pati­en­ten mit ver­schie­de­nen Erkran­kun­gen. Fällt Ihnen an Pati­en­ten mit Tumor­er­kran­kun­gen etwas beson­ders auf?

Nor­man Kin­ge­ter: Das Ers­te ist: Krebs kann eine lebens­be­droh­li­che Krank­heit sein. Die Dia­gno­se ist meis­tens ein Schock für den Pati­en­ten. Es ist, als wenn ihr oder ihm jemand den Boden unter den Füs­sen weg­zieht. Das ist eine enor­me Erschüt­te­rung.
Chris­tia­ne Rust: Die Dia­gno­se Krebs ist mas­siv angst­aus­lö­send. Ich erle­be bei den Pati­en­ten oft eine inne­re Erstar­rung, eine Dun­kel­heit. Die Krebs­er­kran­kung ist häu­fig mit Käl­te ver­bun­den. Des­halb ist ein Haupt­the­ma in der Hei­leu­ryth­mie, die Wär­me beim Pati­en­ten zu för­dern.

Wie geht das?

Nor­man Kin­ge­ter: Beim Sport wird dem Men­schen nach viel Akti­vi­tät heiss. Im Gegen­satz dazu ent­steht bei der Bewe­gung in der Hei­leu­ryth­mie eine Wär­me von innen. Hei­leu­ryth­mie sehen wir als einen Weg, Wär­me von innen zu erzeu­gen.
Chris­tia­ne Rust: Das hängt damit zusam­men, dass wir in der Hei­leu­ryth­mie die Pola­ri­tä­ten sehr unter­stüt­zen. Wir haben zum Bei­spiel eine Bewe­gung, die mehr einem Umkreis ent­spricht, und eine ande­re, wel­che einen Mit­tel­punkt erle­ben lässt. Die set­zen wir zuein­an­der ins Ver­hält­nis. Dabei schau­en wir beson­ders dar­auf, wie ich mich von einem Pol zum ande­ren bewe­ge, wie der Weg ist, wenn ich mich vom Umkreis zum Zen­trum bewe­ge. Die­se inne­re Bewe­gung macht warm.

In der Hei­leu­ryth­mie sind das doch eher zar­te ­Bewe­gun­gen. Wo kommt dann so viel Ener­gie her, damit dem Pati­en­ten dabei warm wer­den kann?

Nor­man Kin­ge­ter: Zen­trum und Umkreis sind rein äus­ser­lich polar. Wenn ich inner­lich mit mei­nem Gefühl die­sen Weg nach­voll­zie­he, ihn wirk­lich mit­ge­he, dann mache ich die Übung inner­lich mit, und dann wird dem Men­schen warm. Aus­ser­dem über wir nicht nur Zar­tes, je nach Situa­ti­on kom­men auch recht kräf­ti­ge Bewe­gun­gen zum Ein­satz.
Chris­tia­ne Rust: Jeder Laut hat eine pola­re Kraft in sich. Wenn ich mich in die Laut­be­we­gung und in die Laut­qua­li­tät ein­füh­le, ent­steht inne­re Wär­me.
Nor­man Kin­ge­ter: Hei­leu­ryth­mie ist Gefühl- und Wär­me-Arbeit mit dem Ziel, auf phy­sio­lo­gi­sche Pro­zes­se ein­zu­wir­ken. Das unter­stützt die Behand­lungs­pro­zes­se wie bei­spiels­wei­se bei der Mis­tel­the­ra­pie. Auf der ande­ren Sei­te behan­deln wir in der The­ra­pie den Schock­zu­stand des Pati­en­ten. Ein zen­tra­les The­ma in der hei­leu­ryth­mi­schen The­ra­pie ist es, die Atmung im wei­tes­ten Sin­ne zu regu­lie­ren. Wir bemü­hen uns, den Pati­en­ten wie­der ins Atmen zu brin­gen, damit er sich aus der Star­re lösen kann.

Wie geht das vor sich?

Nor­man Kin­ge­ter: Wenn der Pati­ent erschüt­tert ist, dann will ich ihm hel­fen, wie­der Boden zu gewin­nen. Dadurch kann Ent­span­nung ein­tre­ten. Im kon­ti­nu­ier­li­chen Üben kann der Pati­ent wie­der Ver­trau­en zu sei­nem Kör­per fin­den. Die Übung wird zu einem Beglei­ter, ver­mit­telt Sicher­heit. Das ist auch eine Bezie­hungs­fra­ge – der Pati­ent erlebt sich stär­ker.
Chris­tia­ne Rust: Der Pati­ent kann so auch wie­der Frie­den erle­ben. Gera­de am Anfang der Krank­heit steht ja oft die Fra­ge: War­um gera­de ich? Der Pati­ent ist gefor­dert, sich die­ser Fra­ge zu stel­len, aber auch den Auf­ga­ben, die aus die­ser Erkran­kung erwach­sen. Ich habe erlebt, dass Pati­en­ten dann wie­der ihre Mit­te und damit ihren Frie­den gefun­den haben. In der Hei­leu­ryth­mie ent­ste­hen beim Pati­en­ten auch dar­über hin­aus vie­le Fra­gen. Die Pati­en­ten erle­ben dabei, dass die Bewe­gung etwas ist, was sie ganz durch­drin­gen kann. Sie kön­nen sich selbst als etwas Bewe­gen­des, aber auch in sich Ruhen­des erle­ben.
Nor­man Kin­ge­ter: In der Bewe­gung kommt man von dem weg, was einen bedrängt. Das heisst, in der The­ra­pie regen wir die Bewe­gung an, die der Pati­ent im Moment braucht.

Wie wirkt Hei­leu­ryth­mie in der Behand­lung von Krebs­erkrankungen?

Chris­tia­ne Rust: Beim Krebs­pa­ti­en­ten ver­liert die Krebs­zel­le ihre Bezie­hung zur gan­zen Kör­per­or­ga­ni­sa­ti­on. Das wird beglei­tet vom Ver­lust des Rhyth­mus’. In der Hei­leu­ryth­mie ver­su­chen wir, durch rhyth­mi­sches In-Bewe­gung-Brin­gen die Bezie­hung zum Erle­ben der Ganz­heit wie­der­her­zu­stel­len. Wenn ich in der hei­leu­ryth­mi­schen Übung einen Laut bil­de, dann kann der Pati­ent spü­ren: der Laut kommt zum Bei­spiel aus der Wei­te, ver­dich­tet sich, geht wie­der in die Wei­te. Die­se Bewe­gung las­se ich den Pati­en­ten in einer Übung mit Armen und Bei­nen erspü­ren.
Nor­man Kin­ge­ter: Mit Übun­gen in der Hei­leu­ryth­mie bringt sich der Pati­ent wie­der in Bezie­hung zum Raum.
Chris­tia­ne Rust: Träu­men und Wach­sein, Ruhe und Bewe­gung. Leben hat immer mit Rhyth­mus zu tun. „Rhyth­mus trägt Leben“, brach­te Rudolf Stei­ner auf den Punkt. Wenn ich das Rhyth­mi­sche för­de­re, dann för­de­re ich die Grund­la­ge des Leben­di­gen im Men­schen.

Aber kann sich der Pati­ent über­haupt auf die­se Übun­gen ein­las­sen? Hat er nicht ganz ande­re Sor­gen?

Chris­tia­ne Rust: Manch ein Pati­ent ist von einer Krank­heit so bedrückt, dass ich als The­ra­peu­tin das Gefühl habe, er ist wie in einer dunk­len Wol­ke gefan­gen. Dann ver­su­che ich, durch bestimm­te Übun­gen das Licht in sein Erle­ben zu brin­gen. Ein ande­rer kann mich gar nicht rich­tig anschau­en. Das hat zum einen damit zu tun, dass Angst ein Beglei­ter der Krebs­er­kran­kung ist, zum ande­ren ist dies auch eine Kon­sti­tu­ti­ons­fra­ge. Die Augen des Pati­en­ten krei­sen fast, ver­lie­ren sich stän­dig, kön­nen sich nicht klar auf einen Punkt rich­ten. Die­sen Pati­en­ten ver­su­che ich, stär­ker sei­ne Mit­te erle­ben zu las­sen. Eine Mit­te, in der er auch ruhen kann, in der er zu sich kom­men kann. Das geht zum Bei­spiel, indem ein­fach die Hän­de zusam­men­ge­führt wer­den. Pro­bie­ren Sie das aus – da kann man wun­der­bar die Mit­te wahr­neh­men.

Arbei­ten Sie in der Hei­leu­ryth­mie auch mit Musik?

Chris­tia­ne Rust: Musik kann ein wesent­li­cher Fak­tor in der Hei­leu­ryth­mie sein, gera­de in Bezug auf das rhyth­mi­sche Gesche­hen. Musik kann noch unmit­tel­ba­rer das See­li­sche, das Gefühl anspre­chen.
Nor­man Kin­ge­ter: Das Wich­ti­ge hier­bei ist: Mit der Musik begin­nen wir im See­li­schen, aber der Weg in der Hei­leu­ryth­mie
führt immer zum Kör­per. Es geht immer um das Bewe­gen. Es bleibt nicht dabei, schö­ne Musik zu hören, son­dern über das see­li­sche Erle­ben wird der Kör­per bewegt.
Chris­tia­ne Rust: Bewe­gung muss bei einem Laut sehr aktiv geführt wer­den. Sie wird von Musik mehr getra­gen. Die
Men­schen kön­nen da leich­ter hin­ein­schlüp­fen.

Dann wäre es doch leich­ter für den Pati­en­ten, wenn Hei­leu­ryth­mie immer mit Musik gemacht wür­de?

Nor­man Kin­ge­ter: In der hei­leu­ryth­mi­schen Behand­lung kom­men eben ver­schie­de­ne Ele­men­te und Mög­lich­kei­ten zum Ein­satz. Das kön­nen Rhyth­men sein, Bewe­gun­gen, die mehr von aus­sen gestal­tet wer­den, oder sol­che, die von innen geführt sind, oder eben in Bewe­gung umge­setz­te musi­ka­li­sche Klän­ge. Das hängt ganz von der Situa­ti­on des Pati­en­ten ab.
Chris­tia­ne Rust: Die Qua­li­tät der Aus­ein­an­der­set­zung mit der Bewe­gung wird beim Laut eine ande­re, wird anders
akti­viert. Ich gehe noch stär­ker in eine von mir geführ­te Form­kraft. Ich muss von mei­ner Akti­vi­tät aus die Bewe­gung for­men. Die Musik kann eine Hil­fe sein, aber für die Bewäl­ti­gung der Krank­heit wird auch die Kraft des Wor­tes benö­tigt. Die Her­aus­for­de­rung für den Pati­en­ten wird ver­stärkt.

Haben Sie Stan­dard­übun­gen bei Krebs­er­kran­kun­gen?

Nor­man Kin­ge­ter: Wie jede ande­re Erkran­kung ist auch die Krebs­er­kran­kung indi­vi­du­ell und all­ge­mein. Es gibt immer etwas Krank­heits­ty­pi­sches und etwas ganz Indi­vi­du­el­les. Da bie­ten sich zum Bei­spiel pola­re Übun­gen an.
Chris­tia­ne Rust: Das In-Bewe­gung-Brin­gen pola­rer Kräf­te, das Ins-Gespräch-Brin­gen pola­rer Kräf­te gehört zu jeder Krebs­erkrankung.
Nor­man Kin­ge­ter: Zudem berück­sich­ti­gen wir immer die indi­vi­du­el­le Sym­pto­ma­tik beim Pati­en­ten. Einer Pati­en­tin mit Brust­krebs war immer heiss. Mit ihr habe ich auch das The­ma Wär­me bear­bei­tet, aber anders als sonst. Denn bei der Krebs­be­hand­lung, ins­be­son­de­re bei der Che­mo­the­ra­pie, ist dem Pati­en­ten eher kalt.
Chris­tia­ne Rust: Oder es tre­ten Schwel­lun­gen nach Operatio­nen auf, Stau­un­gen, Lymph­schwel­lun­gen. Hier kann ich mit der Hei­leu­ryth­mie die Was­ser­ausschei­dung anre­gen, den Umgang mit Flüs­sig­keit wie­der har­mo­ni­sie­ren. Die Hei­leu­ryth­mie unter­stützt die Was­ser­ausschei­dung, die Span­nung lässt nach.

Eine Krebs­er­kran­kung kann von ver­schie­dens­ten Symp­tomen beglei­tet sein. Haben Sie für alle eine Übung parat?

Nor­man Kin­ge­ter: Es gibt ver­schie­de­ne Begleiter­scheinungen wie Schmerz, Schlafstörungen/Müdigkeit, Übel­keit. Ich klä­re zunächst mit dem Pati­en­ten, was für ihn jetzt am stärks­ten nötig ist, was ihm am meis­ten zu schaf­fen macht. Wenn sein Atem durch das Üben ver­tieft wird, kön­nen auch die Schmer­zen nach­las­sen. Vie­le Übun­gen gehen Hand in Hand.
Chris­tia­ne Rust: Krebs bringt oft ein Sich-selbst-fremd-
Wer­den mit sich, die Hei­leu­ryth­mie kann hel­fen, sich wie­der als Gan­zes zu füh­len. Auch in der Beglei­tung zum Ster­ben hin oder bei bett­lä­ge­ri­gen Pati­en­ten kön­nen wir mit der Heil­eurythmie viel bewir­ken. Durch die Hei­leu­ryth­mie bekommt der Pati­ent das Gefühl: Ich bin wie­der in Bewe­gung. Der Pati­ent weiss, ich muss bald ster­ben, aber ich kann wie­der etwas bewe­gen, oder ich erle­be die Bewe­gung, die der Hei­leu­ryth­mist für mich macht. Auch das kann Erleich­te­rung brin­gen.
Nor­man Kin­ge­ter: Bei den Krebs-Pati­en­ten erle­be ich auch einen gros­sen Unter­schied dar­in, dass einer sich gesund fühlt, auf gutem Weg, in gutem Ver­hält­nis zwi­schen sich und der Welt. Ein ande­rer jedoch fühlt sich krank.
Chris­tia­ne Rust: Ein Bei­spiel: Eine Frau will kei­ne Che­mo­the­ra­pie. Sie ist vier Wochen hier, macht inten­siv Hei­leu­ryth­mie, Mal­the­ra­pie, erhält Mas­sa­gen. Nach vier Wochen sagt sie: „Ich füh­le mich wie­der gesund.“ – obgleich sie immer noch Krebs hat.
Nor­man Kin­ge­ter: Das ist das inne­re Gesund­heits­ge­fühl im Zusam­men­klang zwi­schen mir und der Welt. Dadurch wir­ken auch Medi­ka­men­te oft bes­ser.

Autoren41

Fach­per­son Chris­tia­ne Raphae­la Rust
Arbeits­schwer­punk­te 1972 Beginn Eurythmie­studium.
1974 Musik­stu­di­um, Haupt­fach Vio­lon­cel­lo,
16 Jah­re tätig als Cel­lis­tin im Orches­ter,
Kam­mer­mu­sik und Unter­richts­tä­tig­keit.
1998 Abschluss Euryth­mie­stu­di­um,
anschlies­send künst­le­ri­sches Jahr.
2000–2002 Hei­leu­ryth­mie­aus­bil­dung
in Eng­land. Seit 2002 als Hei­leu­ryth­mis­tin
in der Ita Weg­man Kli­nik tätig.
Kon­takt 061 705 72 70

Autoren37

Fach­per­son Nor­man Kin­ge­ter
Arbeits­schwer­punk­te Fach­grup­pen­lei­tung Hei­leu­ryth­mie.
1988–1992 Euryth­mie­stu­di­um am
Euryth­me­um Stutt­gart. 1995 Abschluss des Hei­leu­ryth­mie­stu­di­ums in Dor­n­ach.
1995–2005 Hei­leu­ryth­mie an der
Rudolf Stei­ner Schu­le Basel und in
eige­ner Pra­xis in Basel.
Seit 2005 an der Ita Weg­man Kli­nik.
Kon­takt 061 705 72 70
norman.kingeter@wegmanklinik.ch

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