Die Zügel in die Hand nehmen

Beim Blick auf 100 Jah­re Kli­nik Arle­sheim ist es fol­ge­rich­tig, auf die star­ken Per­sön­lich­kei­ten der zwei Frau­en zu schau­en, die die Grün­dung und  Ent­wick­lung der bei­den Ursprungs­kli­ni­ken erst ermög­licht und deren Geschi­cke so sehr geprägt haben: Ita Weg­man und Rita Leroi.

Wenn der Kut­scher nicht flott fuhr oder wenn ande­re uns über­hol­ten, stieg Ita auf den Bock, nahm die Zügel in die Hän­de und über­nahm die Füh­rung.“

Ita Weg­man kam 1876 auf Java, im heu­ti­gen Indo­ne­si­en, zur Welt und wuchs im gross­zü­gi­gen Lebens­stil der hol­län­di­schen Kolo­nia­lis­ten auf; ihr Vater war Ver­wal­ter einer Zucker­plan­ta­ge. Zur Zeit der Jahr­hun­dert­wen­de kam sie end­gül­tig nach Mit­tel­eu­ro­pa, erlern­te in Hol­land und Deutsch­land Heil­gym­nas­tik und Mas­sa­ge und war eini­ge Zeit in Ber­lin als The­ra­peu­tin tätig. Hier begeg­ne­te sie Rudolf
Stei­ner. Er war es auch, der ihr zu einem Medi­zin­stu­di­um riet. Bereits dreis­sig­jäh­rig hol­te Ita Weg­man die Matu­ra in der Schweiz nach, absol­vier­te in Zürich das Medi­zin­stu­di­um und liess sich zur Frau­en­ärz­tin aus­bil­den. 1917 eröff­ne­te sie eine ers­te eigen­stän­di­ge Pra­xis und betrieb mit einer Kol­le­gin eine Beleg­kli­nik. In die­se Zeit fiel auch die Anwen­dung eines ers­ten Mis­tel­prä­pa­ra­tes „Iscar“, das Ita Weg­man nach Anre­gun­gen von Rudolf Stei­ner mit dem Zür­cher Apo­the­ker Adolf Hau­ser zusam­men ent­wi­ckel­te.

Kli­nik­grün­dung in Arle­sheim

Das Zen­trum der anthro­po­so­phi­schen Bewe­gung ent­stand in Dor­n­ach, und Ita Weg­man such­te einen Ort, um in der Nähe Rudolf Stei­ners eine Kli­nik zu grün­den. Am Pfef­fing­erweg 1 in Arle­sheim war Ita Weg­man das „klei­ne Häus­chen in einem schö­nen Gar­ten“ mit einem gros­sen Apfel­baum auf­ge­fal­len. Sie nahm auch hier die Zügel in die Hand: Sie klin­gel­te und erzähl­te der Besit­ze­rin von ihren Kli­nik­plä­nen und dass ihr die­ses Haus dafür geeig­net erschie­ne. Im Sep­tem­ber 1920 erwarb Ita Weg­man das Haus und liess es innert weni­ger Mona­te umbau­en.
Der Name, den Rudolf Stei­ner der Kli­nik anfäng­lich gab, war glei­cher­mas­sen Pro­gramm: Kli­nisch (am Kran­ken­bett) — The­ra­peu­ti­sches (ambu­lant, The­ra­pi­en) — Insti­tut (For­schung, Ent­wick­lung).
Das Wis­sen aus dem Medi­zin­stu­di­um an der Uni­ver­si­tät und die anthro­po­so­phi­sche Men­schen­kun­de Rudolf Stei­ners soll­ten mit­ein­an­der ver­bun­den wer­den – so das Ziel Ita Weg­mans. Sie erar­bei­te­te zusam­men mit Rudolf Stei­ner in den Jah­ren bis zu des­sen Tod 1925 die Grund­la­gen der Anthro­po­so­phi­schen Medi­zin und fass­ten ihre Erkennt­nis­se in dem Buch „Grund­le­gen­des für eine Erwei­te­rung der Heil­kunst“ zusam­men.

Enga­ge­ment in ver­schie­de­nen Berei­chen

In den Grün­dungs­zei­ten der Kli­nik war noch wenig von dem vor­han­den, was wir heu­te als Anthro­po­so­phi­sche Medi­zin bezeich­nen. Heil­mit­tel, The­ra­pi­en, neue Pfle­ge­an­sät­ze – all das wur­de erst ent­wi­ckelt, vie­les davon direkt am Kran­ken­bett. Eine wesent­li­che Vor­aus­set­zung war reich­lich vor­han­den: jede Men­ge Pio­nier­geist und Taten­drang sowie der Wil­le, Neu­es zu schaf­fen und zu gestal­ten. Es kann hier nur streif­licht­ar­tig auf eini­ge zen­tra­le Din­ge ver­wie­sen wer­den.
Ita Weg­man sorg­te dafür, dass neue Heil­mit­tel ent­wi­ckelt wer­den konn­ten – der ursprüng­li­che Stamm­sitz der Wele­da in Arle­sheim wur­de durch sie ermög­licht, indem sie die Lie­gen­schaft am Stol­len­rain kauf­te. Zugleich bestand sie auf einer eige­nen Heil­mit­tel­her­stel­lung direkt an der Kli­nik. Sie ent­wi­ckel­te neue Pfle­ge­for­men wie die Rhyth­mi­schen Ein­rei­bun­gen und sorg­te mit den soge­nann­ten Schwes­tern­kur­sen zugleich dafür, dass es genü­gend Men­schen gab, die die­se Pfle­ge­mass­nah­men auch anwen­den konn­ten. Auch Ärz­te­kur­se wur­den durch­ge­führt, so dass sich die Wei­ter­ent­wick­lung der neu­en Medi­zin früh­zei­tig auf vie­le Schul­tern ver­teil­te. For­schung, Leh­re und kli­ni­scher All­tag soll­ten glei­cher­mas­sen Raum haben.
Im Früh­jahr 1922 erwarb sie den „Sury­hof“ in Arle­sheim, ursprüng­lich als Depen­dance der Kli­nik gedacht, aber bald schon genutzt für den „Son­nen­hof“ als einem ers­ten Heim für Kin­der mit beson­de­ren Bedürf­nis­sen. 1936 ver­wirk­lich­te sie mit dem Kur­haus Casa di Cura in Asco­na die Idee, süd­lich der Alpen eine Heil­stät­te zu grün­den.
Ihre letz­ten drei Lebens­jah­re ver­brach­te Ita Weg­man in Asco­na. Sie betreu­te Kran­ke und Erho­lungs­su­chen­de medi­zi­nisch und mensch­lich, nahm Emi­gran­ten auf, lud kriegs­ge­schä­dig­te Kin­der ein.

Selbst­lo­sig­keit und Welt­kennt­nis

Ita Weg­man nahm jeweils gros­sen Anteil am Welt­ge­sche­hen und inter­es­sier­te sich für die Sor­gen und Nöte der Men­schen, sowohl in der Kli­nik als auch im Euro­pa der dreis­si­ger Jah­re. Davon zeugt nicht zuletzt eine Viel­zahl der über 50‘000 Brie­fe, die heu­te im Ita Weg­man Institut/Archiv auf dem Kli­nik­ge­län­de auf­be­wahrt sind und für For­schungs­zwe­cke zugäng­lich gemacht wer­den. Unter ande­rem enga­gier­te sie sich dafür, dass jüdi­sche Kin­der in die Schweiz kom­men, dass erschöpf­te Mit­ar­bei­ten­de von Kin­der­hei­men in Deutsch­land nach Arle­sheim zur Erho­lung kom­men konn­ten, dass Mit­ar­bei­te­rin­nen aus Arle­sheim in ande­re Insti­tu­tio­nen geschickt wur­den, weil sie dort gebraucht wur­den. Für so vie­le Men­schen hat­te sie ein offe­nes Ohr und Herz – nicht nur medi­zi­nisch-the­ra­peu­tisch, son­dern auch all­täg­lich-mensch­lich.

Sie schau­te in ers­ter Linie dar­auf, dass es den Kran­ken und Mit­ar­bei­ten­den gut ging. Dass sie selbst auch genug Lebens­raum hat­te, dafür muss­ten ande­re besorgt sein. So ver­an­lass­te Rudolf Stei­ner den Plan für eine Wohn­ba­ra­cke (das heu­ti­ge Ita Weg­man Haus), nach­dem sie anspruchs­los über lan­ge Zeit in ihrem Sprech­zim­mer gelebt hat­te.
Ita Weg­man unter­nahm bis zum Aus­bruch des Zwei­ten Welt­kriegs aus­ge­dehn­te Rei­sen, erkun­de­te sowohl die Bal­kan­län­der als auch die Mys­te­ri­enstät­ten des Alter­tums, nahm Land­schaf­ten und Kul­tu­ren in sich auf und kam jeweils mit neu­en Zukunfts­ide­en nach Arle­sheim zurück.

Unter­schie­de und Par­al­le­len in den Lebens­we­gen

Rita Leroi kam 1913 als Toch­ter des Jour­na­lis­ten­ehe­paars Adolf und Maria Ret­tich zur Welt, wuchs in sehr beschei­de­nen Ver­hält­nis­sen auf und gehör­te zur ers­ten Genera­ti­on von Kin­dern, die die Stutt­gar­ter Wal­dorf­schu­le besuch­ten. Dies war eine deut­lich ande­re Lebens­si­tua­ti­on als die von Ita Weg­man. Doch es gibt eini­ge Par­al­le­len in den Bio­gra­fi­en. So zeich­ne­ten sich bei­de Frau­en schon in ihrer Kind­heit durch Wis­sens­drang, enor­me Wil­lens­kräf­te und Begeis­te­rungs­fä­hig­keit aus.
Auch Rita Leroi erlern­te zunächst einen ande­ren Beruf; sie wur­de Sekre­tä­rin, bevor sie 1933 mit dem Medi­zin­stu­di­um begann. Bereits zwei Jah­re spä­ter wur­de sie durch die Hei­rat mit Hans von May Schwei­ze­rin und setz­te ihr Stu­di­um in Bern fort, wofür auch sie die Eid­ge­nös­si­sche Matu­ra nach­ho­len muss­te.
Alex­and­re Leroi, ab 1954 ihr zwei­ter Ehe­mann, war seit 1934 am Kli­nisch-The­ra­peu­ti­schen Insti­tut in Arle­sheim tätig. Er war eben­falls Schü­ler der Stutt­gar­ter Wal­dorf­schu­le und wur­de auf Rita von May durch einen Bei­trag im Rund­brief der Ehe­ma­li­gen auf­merk­sam. Sie folg­te sei­ner Ein­la­dung an das Kli­nisch-The­ra­peu­ti­sche Insti­tut, aus den geplan­ten vier Wochen wur­den 18 Mona­te, die sie letzt­lich ihren Lebens­weg anpas­sen lies­sen. Sie ent­schied sich für Alex­and­re Leroi, beschloss aber zugleich, aus­ser­halb der Arle­shei­mer Kli­nik medi­zi­nisch zu arbei­ten. 1946 eröff­ne­te sie eine Pra­xis in Basel, die schon bald sehr erfolg­reich war. Auch dies eine Par­al­le­le zu Ita Weg­man, die 1921 nahe der Schiff­län­de eine Pra­xis führ­te, die für die Kli­nik in den Anfangs­jah­ren eine öko­no­mi­sche Basis bil­de­te.

Krebs­krank­hei­ten im Fokus

Die Nähe zu Arle­sheim ermög­lich­te Rita van May, sich der Krebs­krank­heit und Mis­tel­the­ra­pie zu wid­men, jenem Inter­es­sen­ge­biet, das sie mit Alex­and­re Leroi stark ver­band. Sie wur­de 1951 in den Vor­stand des Ver­eins für Krebs­for­schung gewählt, der 1935 durch Ita Weg­man und Wer­ner Kae­lin sowie Rudolf Hausch­ka und Lina Kae­lin gegrün­det wor­den war, um das Poten­zi­al der Mis­tel für die Behand­lung von Krebs­er­kran­kun­gen noch inten­si­ver zu erfor­schen. Sie unter­stütz­te Alex­and­re Lerois Idee, eine Sta­ti­on zur Behand­lung von Krebs­kran­ken inner­halb des Kli­nisch-The­ra­peu­ti­schen Insti­tuts auf­zu­bau­en. Die­se Idee stiess im Insti­tut jedoch auf hef­ti­gen Wider­stand. Da alle Eini­gungs­ver­su­che in den Fra­gen der Behand­lung Krebs­kran­ker und der Ent­ste­hung einer Schul­kli­nik fehl­schlu­gen – es ging um die Ver­bin­dung von Kli­nik, Leh­re und For­schung in Bezug auf die Krebs­the­ra­pie – trieb das Ehe­paar Leroi den Impuls vor­an, eine eige­ne Kli­nik zu grün­den.
Rita Leroi war es zu ver­dan­ken, dass zwi­schen 1955 und 1966 vie­le Krebs­kran­ke in der Bas­ler Frau­en­kli­nik eine zusätz­li­che Isca­dor-The­ra­pie erhiel­ten.

Eine zwei­te Kli­nik in Arle­sheim

Im Sep­tem­ber 1963 war es soweit: Die Lukas Kli­nik, die der Ver­ein für Krebs­for­schung mit Hil­fe gross­zü­gi­ger Gön­ner bau­en liess, wur­de eröff­net. Rita Leroi über­nahm zunächst gemein­sam mit Wer­ner Kae­lin die Lei­tung der neu­en Kli­nik und gab dafür ihre Pra­xistä­tig­keit in Basel auf. Doch wegen unter­schied­li­cher Ansich­ten im medi­zi­ni­schen Bereich kam es schon bald zu einer Tren­nung. Von da an küm­mer­te sich Rita Leroi um die Geschi­cke der Lukas Kli­nik. Bis zur Eröff­nung des Erwei­te­rungs­baus der Kli­nik kann­te Rita Leroi alle Pati­en­tin­nen und Pati­en­ten per­sön­lich und über­prüf­te jeden ein­zel­nen The­ra­pie­schritt. Dem Ver­lust ihres Man­nes durch des­sen Tod 1968 – er konn­te die Erwei­te­rung der Kli­nik nur noch von sei­nem Kran­ken­la­ger in der Kli­nik ver­fol­gen – begeg­ne­te sie durch noch mehr Arbeit. Sie über­nahm zusätz­lich die Lei­tung des For­schungs­in­sti­tuts Hiscia.

Wei­te­re Unter­schie­de und Par­al­le­len

Auch Rita Leroi war viel unter­wegs. Auf Vor­trags­rei­sen ver­such­te sie, die Mis­tel­the­ra­pie auch bei nicht-anthro­po­so­phi­schen Ärz­tin­nen und Ärz­ten im In- und Aus­land bekannt zu machen und das Ver­trau­en in die Anthro­po­so­phi­sche Medi­zin zu stär­ken. Wie Ita Weg­man nahm sie Anteil am Welt­ge­sche­hen und for­mu­lier­te unter ande­rem im Jah­res­be­richt des Ver­eins für Krebs­for­schung nach der Kata­stro­phe von Tscher­no­byl:

Wer nach dem Erfah­ren einer schlim­men Nach­richt, ohne etwas zu ändern, wie­der zur Tages­ord­nung über­geht, ver­stärkt die zähe Mas­se des Gewor­de­nen und hin­dert allen Fort­schritt.“

Ent­wick­lung war ihr wich­tig, es ging ihr dar­um, Ent­stan­de­nes nicht zu kon­ser­vie­ren, son­dern zu ver­bes­sern. Mit die­sem Fokus auf das Vor­wärts­ge­hen und Wei­ter­ent­wi­ckeln ähnel­te ihr Lebens­mot­to dem von Ita Weg­man.
Bei allen Ähn­lich­kei­ten, die sich in den Lebens­läu­fen die­ser bei­den star­ken Per­sön­lich­kei­ten ent­de­cken las­sen, bleibt ein Unter­schied zen­tral: Rita Leroi kon­zen­trier­te sich ganz auf die Spe­zia­li­sie­rung, auf die Behand­lung von Krebs­er­kran­kun­gen. Ita Weg­man ori­en­tier­te sich immer auf das Gan­ze und Uni­ver­sel­le in der Medi­zin.

Anfang der vier­zi­ger Jah­re traf Rita Leroi ihre Euryth­mie­leh­re­rin Nora von Baditz in Asco­na und berich­tet: “Kom­men Sie mit mir, Sie müs­sen Frau Dr. Weg­man ken­nen­ler­nen”, sag­te sie. In mei­nem rela­tiv kur­zen anthro­po­so­phi­schen Dasein hat­te ich bis­her nur ver­schwom­me­ne Gerüch­te über Ita Weg­man gehört und war etwas skep­tisch. Nora von Baditz (führ­te mich) zu einer gros­sen Gestalt, stell­te mich als Medi­zin­stu­den­tin vor und ich wuss­te: Das ist sie! VolI Güte leuch­te­ten zwei hel­le Augen, mit war­mer Ges­te erfass­te sie mei­ne Hand, und ich wuss­te mich ange­nom­men von einer strah­len­den, über­ra­gen­den und doch so ganz mensch­li­chen Per­sön­lich­keit. Damals wuss­te ich noch nicht, dass die Initia­ti­ve von Ita Weg­man auf dem Gebiet der Krebs­hei­lung auch mein wei­te­res Schick­sal bestim­men soll­te.

Bericht von Rita Leroi über ihre ers­te Begeg­nung
mit Ita Weg­man im von Nora von Baditz
zusam­men­ge­stell­ten Buch “Aus Micha­els Wir­ken”
(J. Ch. Mel­lin­ger Ver­lag, Stutt­gart 1977)

Lite­ra­tur:
J.E. Zeylmans van Emmi­cho­ven „Wer war Ita Weg­man“, Band 1, 1990
Sil­ke Hel­wig „Es geht um mein Leben – zum 100. Geburts­tag von Rita Leroi“, 2013
Peter Selg „Ich bin für Fort­schrei­ten“, Dor­n­ach 2002
„Quin­te“ Aus­ga­ben Nr. 29 (2011) und 38 (2014)

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