Die Schule für eine gesunde Entwicklung

Der Lehr­plan der Rudolf Stei­ner Schu­len wird heu­te immer aktu­el­ler. In einer Zeit, in der vie­le Kan­to­ne
wie­der die Früh­ein­schu­lung und ein­sei­tig intel­lek­tu­el­le Zie­le auf dem Pro­gramm haben, bie­ten die Rudolf
Stei­ner Schu­len eine ech­te Alter­na­ti­ve. Das wesent­lich Gesund­ma­chen­de ihres Lehr­pla­nes besteht dar­in, dass die Kin­der im Kin­der­gar­ten und in den ers­ten Schul­jah­ren viel Raum und Zeit haben, um sich ent­spre­chend ihren Mög­lich­kei­ten zu ent­wi­ckeln.

Lasst den Kin­dern Zeit!

Als Schul­ärz­tin und Mut­ter von vier erwach­se­nen Kin­dern kann ich bestä­ti­gen, dass es mit dem Lesen- und Schrei­ben­ler­nen im frü­hen Kin­des­al­ter wirk­lich nicht eilt. Dafür sind in den ers­ten Schul­jah­ren das gross­zü­gi­ge Zeich­nen und Malen, das Spre­chen im Chor und das rhyth­mi­sche Erle­ben der Zah­len­rei­hen wich­tig. Die Kin­der sind ange­wie­sen auf ech­te Begeg­nun­gen mit Men­schen. Sie brau­chen die Mög­lich­keit, tra­gen­de und ver­läss­li­che Bezie­hun­gen auf­bau­en zu kön­nen. Über­mäs­si­ger Medi­en­kon­sum in die­ser Lebens­zeit ver­drängt Men­schen­be­geg­nun­gen und führt im spä­te­ren Leben zu psy­chi­schen Pro­ble­men und Bezie­hungs­stö­run­gen.
Wenn sich die Kin­der in den ers­ten Schul­jah­ren ohne Druck und Noten ent­wi­ckeln kön­nen, bleibt ihnen viel Kraft und Welt­in­ter­es­se für das Ler­nen in den obe­ren Schul­klas­sen. Es ist eine häu­fi­ge Erfah­rung, dass vor allem Kna­ben erst in der Ober­stu­fe den Sinn der Schu­le erken­nen und mit Freu­de ler­nen kön­nen. Lässt man ihnen die Zeit, haben auch Spät­ent­wick­ler eine Chan­ce und kön­nen im Berufs­le­ben wegen ihrer Selb­stän­dig­keit und Krea­ti­vi­tät zu gefrag­ten Per­sön­lich­kei­ten wer­den.

War­um gibt es an den Rudolf Stei­ner Schu­len einen Schul­arzt?

Die Erzie­hung und die Schu­le sind wich­ti­ge Gesund­heits­quel­len für die Men­schen. Die Eltern und Leh­rer haben es immer mit dem Hei­len und Rei­fen zu tun. Sie müs­sen im Grun­de dafür Sor­ge tra­gen, dass die Kin­der gesund sind. Und die Ärz­te? Die Ärz­te soll­ten eigent­lich Gesund­heits­leh­rer sein und mit ihrer Tätig­keit ermög­li­chen, dass die Kin­der ler­nen kön­nen. Da liegt das Geheim­nis der Zusam­men­ar­beit von Arzt und Leh­rer.
Die Haupt­auf­ga­be des Schul­arz­tes besteht dar­in, den Gesund­heits­zu­stand der Kin­der zu ken­nen. Wie ist das mög­lich? Ich sehe die Schü­ler zum ers­ten Mal, noch bevor sie in die Schu­le kom­men – zur Schul­ein­tritts­un­ter­su­chung. Dabei stel­le ich fest, ob die Schul­rei­fe beim ein­zel­nen Kind gege­ben ist. Es kann vor­kom­men, dass erst hier deut­lich wird, dass ein Kind zum Bei­spiel gar nicht rich­tig sieht oder hört. In der 1., 4. und 9. Klas­se mache ich Rei­hen­un­ter­su­chun­gen. Sie ermög­li­chen mir, einen genau­en Über­blick über die jewei­li­ge Klas­sen­stu­fe zu haben und even­tu­el­le Ent­wick­lungs­de­fi­zi­te zu erken­nen. Bei mei­nen wöchent­li­chen Besu­chen an der Schu­le schaue ich mir die Kin­der auf dem Pau­sen­hof an und besu­che auch den Euryth­mie­un­ter­richt. Vie­les von dem, was im Kin­de lebt, wird ja gera­de an sei­nen Bewe­gun­gen sicht­bar.
Zwei­mal im Monat neh­me ich an der Kin­der­be­spre­chung in der Leh­rer­kon­fe­renz teil. Ich habe da erfah­ren kön­nen, dass sich die Beob­ach­tun­gen von Leh­rer und Arzt sehr gut ergän­zen kön­nen. Im Schul­all­tag war die Zusam­men­ar­beit zwi­schen den Leh­rern und dem Schul­arzt nicht immer ein­fach. Die Beru­fe ent­wi­ckeln ganz ver­schie­de­ne Denk- und Betrach­tungs­wei­sen, die in der Geschich­te der Rudolf Stei­ner Schu­len oft zu Zer­würf­nis­sen geführt haben. Doch die Bemü­hun­gen um eine Zusam­men­ar­beit loh­nen sich.

Das Herz ist der Schlüs­sel der Welt und des Lebens“ (Nova­lis)

Wich­tig ist es, dass Schul­arzt und Leh­rer im Leh­rer­kol­le­gi­um gemein­sam ein leben­di­ges Men­schen­bild erar­bei­ten. Die Leh­rer­kol­le­gi­en haben durch Rudolf Stei­ner wesent­li­che, eigent­lich medi­zi­ni­sche Auf­ga­ben erhal­ten: Die Leh­rer müs­sen von einem Men­schen­bild aus­ge­hen, in dem das Herz kei­ne Pum­pe ist. Nur mit die­sem Bewusst­sein ist es mög­lich, die Kin­der wirk­lich ken­nen­zu­ler­nen, sie mit dem Her­zen zu sehen.
Auch mit dem „Pro­blem der moto­ri­schen Ner­ven“ sol­len sich die Leh­rer befas­sen. Unse­re Mus­keln fol­gen nicht ein­fach den Befeh­len aus dem Gehirn wie bei Mario­net­ten, son­dern sie füh­ren uns durchs Leben mit eige­ner Wil­lens­kraft. Die Auf­ga­be des Gehirns ist es, die­se Bewe­gun­gen wahr­zu­neh­men. Durch die fal­sche Vor­stel­lung von der Bedeu­tung und Funk­ti­on der Ner­ven iso­lie­ren sich die Men­schen immer mehr in ihrem Kör­per.

Eine neue Sin­nes­leh­re als Weg­wei­ser für fast alle Erzie­hungs­fra­gen

Eine wei­te­re Auf­ga­be ist die Pfle­ge der 12 Sin­ne und des Wahr-Neh­mens als Weg zur Frei­heit. Die Kin­der sind noch eins mit der Welt. Was sie wahr­neh­men, das ist für sie wahr. Sie sind ganz Sin­nes­or­gan. Erst im Ver­lauf des 10. Lebens­jahrs wird ihnen der Unter­schied zwi­schen ihrer Innen­welt und den Wahr­neh­mun­gen der Aus­sen­welt bewusst.
Wich­tig für die­se ers­ten Jah­re sind vor allem die kör­per­li­chen Sin­ne: Tast­sinn, Lebens­sinn, Eigen­be­we­gungs­sinn, Gleich­ge­wichts­sinn. Sie ver­mit­teln uns unse­re eige­ne Kör­per­lich­keit. Die­se vier Grund­sin­ne sind uns meis­tens nicht bewusst, wir schla­fen in ihnen, sie sind unse­re Wil­lens­sin­ne.
Sie sind nicht nur wesent­lich, weil sie uns das Auf­rich­ten, das Spre­chen, die Befrei­ung der Arme ermög­li­chen, son­dern auch, weil wir sie im Lauf des Lebens ver­wan­deln kön­nen in die geis­ti­gen Sin­ne, mit denen wir ande­ren Men­schen begeg­nen kön­nen: den Tast­sinn in den ICH-Sinn, den Lebens­sinn in den Gedan­ken­sinn, den Eigen­be­we­gungs­sinn in den Sprach­sinn.

Durch die leben­di­ge Sin­nes­leh­re fin­den wir die rich­ti­gen päd­ago­gi­schen Mass­nah­men. Die Kor­rek­tur der Ner­ven­vor­stel­lung ist eine Vor­aus­set­zung für ein gesun­des sozia­les Leben der Men­schen. Die kor­ri­gier­te Herz­leh­re kann das tie­fe­re gegen­sei­ti­ge Ver­ste­hen begrün­den – ein gross­ar­ti­ges gesund­heits­för­dern­des Kul­tur­pro­gramm!

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Fach­per­son Dr. med. Dani­el­le Lemann
Arbeits­schwer­punk­te Ärz­tin für all­ge­mei­ne Medi­zin FMH und Anthro­po­so­phisch erwei­ter­te Medi­zin, Prä­si­den­tin der Ver­ei­ni­gung anthro­po­so­phisch ori­en­tier­ter Ärz­te in der Schweiz, Tätig­keit in eige­ner Pra­xis in Lang­nau und am Regional­spital Emmen­tal auf der Kom­ple­men­tär­me­di­zi­ni­schen Abtei­lung, Schul­ärz­tin an der Rudolf Stei­ner Schu­le in Lang­nau. Mut­ter von vier erwach­se­nen Kin­dern, die die Rudolf Stei­ner Schu­le besucht haben.
Kon­takt albolem@hotmail.com

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