Die Krise meistern

Als Pfle­gen­de auf der psych­ia­tri­schen Sta­ti­on lässt sich eines wahr­neh­men: fast alle psych­ia­tri­schen Krank­heits­bil­der gehen mit Angst ein­her. Lebens­kri­sen, Trau­ma­ta, Depres­sio­nen sind von Ängs­ten beglei­tet. Doch jede die­ser Kri­sen bie­tet die Mög­lich­keit, gestärkt dar­aus her­vor­zu­ge­hen.

Frau Weber (Name von der Redak­ti­on geän­dert) kommt auf unse­re Sta­ti­on, weil sie nicht mehr in ihrem bis­he­ri­gen Umfeld sein kann. Sie hat schwe­re Trau­ma­ta aus Kind­heit und Ehe und bewäl­tigt ihr Pro­blem nicht mehr allein. Ich bin für sie als Bezugs­pfle­gen­de zustän­dig und haupt­ver­ant­wort­lich. So ist ein inten­si­ver Bezie­hungs­auf­bau mög­lich. Ich ler­ne Frau Weber nach und nach ken­nen mit allem, was ihre Krank­heits­si­tua­ti­on aus­macht. Ich wer­de aber auch ver­traut mit all­täg­li­chen Klei­nig­kei­ten, zum Bei­spiel, wel­chen Tee sie ger­ne mag. Auch Frau Weber weiss genau, ich bin ihre Ansprech­part­ne­rin.

Frau Weber wird vor­über­ge­hend ein neu­es Zuhau­se haben. Ihr Zim­mer, das sie allein bewohnt, kann sie zum Teil selbst gestal­ten, als ihren neu­en Raum. Dadurch ent­steht für sie eine Hül­le, die ihr Schutz bie­tet. Wir ent­las­ten sie von ihren All­tags­sor­gen; das ist sehr wich­tig. Zudem habe ich eine trös­ten­de Auf­ga­be: Ich bestä­ti­ge ihr, dass die­se Zeit erst ein­mal schwie­rig ist für sie. Sie muss akzep­tie­ren ler­nen, dass sie auf einer psych­ia­tri­schen Sta­ti­on ist. Aber ich kann ihr auch ver­si­chern: Es wird bes­ser.

Rhyth­mus ord­net

Im neu geschaf­fe­nen Raum ent­steht ein neu­es Ord­nungs­prin­zip für Frau Weber. Regel­mäs­si­ge Mahl­zei­ten, regel­mäs­si­ge Gesprä­che mit dem Arzt, mit der Pfle­gen­den hel­fen ihr sich zu ori­en­tie­ren. Wie für die meis­ten Pati­en­ten ist es auch für Frau Weber schwie­rig, sich mit ihren Bedürf­nis­sen zu mel­den. Das the­ma­ti­sie­re ich im Pfle­ge­ge­spräch mehr und mehr.
Am Anfang suche ich häu­fi­ger den Kon­takt zu Frau Weber. Ich ver­su­che wahr­zu­neh­men, ob sie Hil­fe braucht, auch wenn sie sich nicht mel­det. Zunächst ist es für Frau Weber schwie­rig, über­haupt reden zu kön­nen. Des­halb beglei­te ich sie am Anfang sehr inten­siv, suche die Begeg­nung mit ihr. Bei einem gemein­sa­men Spa­zier­gang wird das Gespräch inten­si­ver. Die Bewe­gung hilft, wie so oft.
In den ers­ten Tagen nimmt Frau Weber noch nicht an den gemein­sa­men Mahl­zei­ten mit den ande­ren Pati­en­ten teil. Sie braucht erst ein­mal einen neu­en Raum für sich, bevor sie wie­der auf ande­re zuge­hen kann. Nach der ers­ten Woche ist sie soweit, dass sie von sich aus um Hil­fe bit­tet, dass sie mit­teilt, wenn sie etwas benö­tigt.

Wär­me unter­stützt

Angst­er­kran­kun­gen sind oft gekenn­zeich­net von Käl­te in der Peri­phe­rie; kal­te Hän­de und Füs­se sind cha­rak­te­ris­tisch. Des­halb rege ich Frau Weber an, auf ihren Wär­me­haus­halt zu ach­ten. Wir bespre­chen die Klei­dung. Ab und zu macht sie ein Voll­bad, was ihr zudem hilft zu ent­span­nen. Der Arzt ver­ord­net Frau Weber Fuss­bä­der, vor allem das Senf­fuss­bad, weil der Senf mit sei­ner Schär­fe sehr stark lokal Wär­me anregt. Über die Füs­se, die Unter­schen­kel wirkt der Senf wär­me­bil­dend – und der Kopf kann los­las­sen.
Die­se Anwen­dun­gen haben den Vor­teil, dass nicht nur aktu­el­le Ängs­te gelin­dert wer­den. Frau Weber klagt oft über Kopf­schmerz und Ver­span­nun­gen im Schul­ter- und Nacken­be­reich. Sie kann zudem in Angst­si­tua­tio­nen kei­ne kla­ren Gedan­ken mehr fin­den, kann sich sel­ber nicht mehr ergrei­fen, kann gar nicht beschrei­ben, wie es ihr geht.
Nach dem Senf­fuss­bad kann Frau Weber sagen: „Oh, ich spü­re mei­ne Füs­se!“ und: „Ich kom­me wie­der zu mir.“ Das Fuss­bad hat hier eine ord­nen­de Funk­ti­on, Gedan­ken­klar­heit kommt, Gedan­ken­krei­sen hört auf.
Aus­ser­dem erhält Frau Weber in Kri­sen­si­tua­tio­nen Wer­mut­trop­fen. Bit­ter­mit­tel wir­ken auf die Organ­funk­tio­nen und regen den Stoff­wech­sel an. Auch so ent­steht Wär­me, dies­mal von innen.

Der Kör­per als Haus der See­le

Ich emp­feh­le Frau Weber wie­der und wie­der, alles zu tun, damit sie merkt, „Jetzt füh­le ich mich wohl.“ Ihr soll kör­per­lich wohl sein. Das ist ein wich­ti­ges pfle­ge­ri­sches Ziel. Denn so kann sich auch die See­le im Kör­per wohl füh­len. Es ist für Frau Weber eine Schu­lung, auf sich zu ach­ten.
Mit dem Wohl­ge­fühl, mit zuneh­men­dem kör­per­li­chem Ent­span­nen ist sie nun eher in der Lage, in einem Gespräch ihr Pro­blem zu for­mu­lie­ren. Sie erar­bei­tet sich einen bes­se­ren phy­si­schen Unter­bo­den und kann dadurch mit dem, was sie all­mäh­lich her­vor­holt, bes­ser umge­hen.
Die Angst ver­deckt in der Regel das, was der Pati­ent noch nicht ver­dau­en kann. Des­halb ach­ten wir dar­auf, dass sich nicht zu früh Ver­span­nun­gen lösen, damit nicht zu vie­le Trau­ma­ta auf ein­mal auf­bre­chen. In den Gesprä­chen ver­su­chen wir, all­mäh­lich eini­ge Din­ge zu klä­ren. Ich hel­fe Frau Weber, dass sie dahin kom­men kann, sich von Unlieb­sa­mem zu tren­nen. Gemein­sam gehen wir den Fra­gen nach: Was hemmt mich? Was ist för­der­lich?

Das Wesen zur Erschei­nung brin­gen

Durch die wie­der­hol­ten pfle­ge­ri­schen Anwen­dun­gen – das Fuss­bad, die Wickel, das Gespräch – beginnt ein all­mäh­li­ches Rei­ni­gen. Alles, was durch die Angst ver­deckt, ver­schlei­ert oder ver­scho­ben ist, wird gerei­nigt. Frau Weber kann neu zu sich selbst kom­men, kann sich selbst ent­de­cken. Ihr Wesen kann wie­der in Erschei­nung tre­ten.
Bereits nach eini­ger Zeit ent­de­cke ich an Frau Weber, dass sie ent­spann­ter aus­sieht, ihre Haut wirkt bes­ser. Bis sie selbst das bemerkt, kann das noch 10 bis 14 Tage dau­ern. Ich rege ab und zu an: „Schau­en Sie doch heu­te mor­gen mal in den Spie­gel.“ Frau Weber soll wie­der ler­nen sich anzu­schau­en, wahr­zu­neh­men. Angst­pa­ti­en­ten haben eher Schwie­rig­kei­ten, in den Spie­gel zu schau­en.
Lang­sam wird der Pro­zess, der glei­cher­mas­sen Kör­per und See­le ernährt, auch Frau Weber deut­li­cher. Das merkt sie nicht nur an dem Kilo­gramm, das sie zuge­nom­men hat. Sie wird sich des­sen bewusst, dass sie sich von den alten Bil­dern ent­fernt. Nach der zwei­ten Woche kann sie gut for­mu­lie­ren, wie ihr die Äus­se­ren Anwen­dun­gen und The­ra­pi­en hel­fen, und sie kann sagen, „Jetzt brau­che ich ein Fuss­bad, Wer­mut reicht im Moment nicht.“ Sie hat die Kom­pe­tenz gewon­nen zu sagen, was sie braucht.

Ins Gleich­ge­wicht kom­men

Vor allem in der drit­ten Woche ist die Bezie­hung zu Frau Weber so auf­ge­baut, dass unse­re Gesprä­che an Inten­si­tät gewin­nen. Ich bin mir nun sicher, dass sie sich mel­det, wenn sie Gesprächs­be­darf hat, wenn sie in Not ist. Jetzt hel­fe ich ihr, sich wei­ter zu „ent­pup­pen“, sich auf­zu­rich­ten, sich zu ent­wi­ckeln. Sie lernt zu for­mu­lie­ren, was sie wirk­lich möch­te.
Man­che Pati­en­ten ent­schlies­sen sich, eine neue Stel­le zu suchen, ande­re wol­len einen eige­nen Haus­halt füh­ren. Es ent­steht ein Welt­in­ter­es­se, man­che lesen wie­der Zei­tung. Auch neue Inter­es­sens­ge­bie­te kom­men zum Vor­schein. Frau Weber beginnt mit Stri­cken. Sie hat die letz­ten Jah­re beruf­lich nichts gemacht, nun hat sie den Wunsch geäus­sert, den sie eigent­lich schon lan­ge hat­te: in einer Gärt­ne­rei mit­zu­ar­bei­ten oder ehren­amt­lich älte­re Men­schen zu betreu­en.
Die­ser Pro­zess des Auf­rich­tens braucht immer auch einen Anstoss von aus­sen, zum Bei­spiel durch unse­re The­ra­pi­en oder durch die täg­li­chen Sin­nes­wahr­neh­mungs­übun­gen mit Bild- und Pflan­zen­be­trach­tun­gen oder Tast­übun­gen.
Ich rege Frau Weber an, dass sie selb­stän­dig pfle­ge­ri­sche Mass­nah­men voll­zieht. Zum Bei­spiel kann es sehr hilf­reich sein, die Füs­se mit der Kup­fer-Fuss­rol­le anzu­re­gen, wenn nach einem anstren­gen­den Tele­fo­nat oder Besuch die Gedan­ken krei­sen. Anfäng­lich braucht sie dazu mei­ne täg­li­che Beglei­tung, dann gebe ich das mehr und mehr in ihre eige­ne Ver­ant­wor­tung.
Auch Gleich­ge­wichts­übun­gen mit einer Holz­lat­te am Boden hel­fen Frau Weber, zu sich zu kom­men. Ich bespre­che mit Frau Weber immer, war­um sie etwas tun soll. Wenn sie den Sinn ver­steht, wird sie die Übung von sich aus durch­füh­ren.

Auf­bau­trai­ning

Anfäng­lich bedeu­tet die Bezugs­pfle­ge vor allem, dass der Pati­ent umsorgt wird, dass er eine schüt­zen­de Hül­le bekommt. Im spä­te­ren Ver­lauf erhält der Bezug einen ande­ren Cha­rak­ter. Der Pfle­gen­de regt den Pati­en­ten an, belas­tet ihn auch. Der Pati­ent soll wie­der mehr in Selbst­ver­ant­wor­tung kom­men. So for­de­re ich zum Bei­spiel Frau Weber auf, das Tele­fo­nat mit ihrer Nach­ba­rin doch selbst zu füh­ren, nach­dem wir die Situa­ti­on zuvor bespro­chen haben. Auch das Grup­pen­mi­lieu auf unse­rer Sta­ti­on trägt viel zur Gene­sung bei. Die Pati­en­ten tra­gen sich gegen­sei­tig in der Grup­pe, sie essen, spa­zie­ren, spie­len gemein­sam. Der Schritt ins sozia­le Leben tritt deut­lich in Erschei­nung. Frau Weber merkt: Ich habe nicht allein ein Pro­blem. Sie fühlt sich ver­bun­den mit der Pati­en­ten­grup­pe.

Vor­be­rei­tung auf den All­tag

Frau Weber weiss nun, wo sie hin will. Sie hat deut­lich erlebt, was sie kann und wel­che Bedürf­nis­se sie hat. Und sie weiss, was ihr nicht gut tut. Die Wochen in der Kli­nik haben ihr ermög­licht zu ler­nen, ihre Gren­zen zu akzep­tie­ren und ein­zu­hal­ten. Sie kann ihre Belas­tungs­mög­lich­kei­ten bes­ser ein­schät­zen. Als hilf­reich dafür hat sich der Wochen­end­ur­laub erwie­sen. Dies ist ein gutes Trai­ning, wie­der Kon­tak­te auf­zu­neh­men und allein in der Woh­nung klar­zu­kom­men. Ich bera­te Frau Weber, emp­feh­le ihr zum Bei­spiel, Blu­men für ihren Tisch zu besor­gen, fra­ge nach Ver­wand­ten, Freun­den. Frau Weber weiss genau, wenn der Wochen­end­ur­laub zu anstren­gend ist, kann sie jeder­zeit vor­zei­tig zurück­kom­men. Gemein­sam mit Frau Weber berei­te ich sorg­sam ihren Aus­tritt aus der Kli­nik vor.

Alles, was sie hier posi­tiv erlebt hat und zu Hau­se fort­füh­ren möch­te, soll sie soweit mög­lich wei­ter­füh­ren. Ich lei­te sie also an, wie sie das Fuss­bad machen soll, wie sie den Wickel anle­gen kann. Wir gehen noch ein­mal die Tast- und Gleich­ge­wichts­übun­gen durch. Frau Weber soll in der Lage sein, sich auch zu Hau­se damit wei­ter­zu­hel­fen. Dass sie ihr Tage­buch wei­ter­führt, bin ich mir sicher. Ich lege ihr vor allem eines ans Herz: Sie muss sel­ber spü­ren, was wirk­lich gut für sie ist.

Autoren48

Fach­per­son Mar­ti­na Men­ne
Arbeits­schwer­punk­te Kran­ken­schwes­ter, Aus­bil­de­rin für Rhyth­mi­sche Ein­rei­bun­gen nach Wegman/Hauschka, seit 1984 in anthro­po­so­phi­schen Kli­ni­ken tätig.
Kon­takt stl.ebene2ost@wegmanklinik.ch

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