
Aus Sicht der Anthroposophischen Medizin sind bei Magen-Darm-Erkrankungen bis hin zum Reizdarmsyndrom nicht nur die körperlichen Ursachen und Begleiterscheinungen wichtig, sondern ebenso die psychischen und psychosomatischen Aspekte. Auch auf dieser Ebene ist eine gezielte Unterstützung möglich und sinnvoll, um mitzuhelfen, die Beschwerden zu bessern.
Psychosomatische Aspekte haben bei den Magen-Darm-Erkrankungen funktioneller Natur in vielen Fällen eine grosse Bedeutung. Dies gilt nicht nur im Hinblick auf die
Ursache, sondern ebenso für den weiteren Krankheitsverlauf, da die anhaltenden körperlichen Beschwerden eine
erhebliche Belastung mit sich bringen. Sie können in der Folge auch symptomverschlechternd auf die Körperlichkeit zurückwirken. Als Ursache für die Beschwerdesymptomatik werden eine gesteigerte Wahrnehmung sowie eine Störung der rhythmischen Bewegungsabläufe im Magen-Darm-Trakt angesehen. Sie werden durch traumatische Erlebnisse seelischer Art oder auch Magen-Darm-Infekte bei bestimmter genetischer und konstitutioneller Voraussetzung ausgelöst.
Vertrauen als Basis
Nach abgeschlossener gastroenterologischer Diagnostik mit Ausschluss eines organbezogenen Befunds stehen viele Patientinnen und Patienten zunächst vor einer diagnostisch-
therapeutischen Leere. Von nicht unerheblicher Bedeutung ist deshalb, dass seitens der Ärzte schon im Vorfeld der diagnostischen Untersuchungen auf die weitere Möglichkeit
einer psychischen Mitverursachung hingewiesen wird. Es ist nicht förderlich, dass das Körperliche und das Psychische als ein Getrenntes, ja sogar Gegensätzliches angesehen werden und bei Krankheiten dem Psychischen eine Stigmatisierung anhaftet. So kommt es, dass nicht selten zehn oder mehr Jahre vergehen, bis sich Patientinnen und Patienten mit somatischen Störungen in eine psychotherapeutische Behandlung begeben. Das ist umso problematischer, als heute auch auf neurowissenschaftlicher Ebene eine nachhaltige Wirksamkeit von psychotherapeutischen Therapien auf funktionelle somatische Vorgänge verstanden und bestätigt werden kann. Wesentlich auf Seiten des Arztes ist, eine vertrauensvolle, wertschätzende therapeutische Beziehung aufzubauen. Seitens des Patienten sind das Einlassen auf die Therapie, das Loslassen oft fixierter Vorstellungen, immer neue Untersuchungen durchführen lassen zu müssen, um eine körperliche Ursache zu finden, sowie das Verständnis für die Zusammenhänge von Seele und Leib gute Bedingungen einer erfolgreichen Therapie.
Umfassende therapeutische Unterstützung
Organisch gesehen wird in der Anthroposophischen Medizin weniger das Blockieren oder Anregen der Magen-Darm-Funktion ins Blickfeld genommen, sondern versucht, das richtige Zusammenwirken der an der Verdauung beteiligten Organfunktionen mit Hilfe pflanzlicher und mineralischer Heilmittel zu unterstützen. Durch einen körperbezogenen therapeutischen Ansatz mit Einbezug von äusseren Anwendungen wie Organwickel und Rhythmischen Einreibungen, von unseren Pflegenden durchgeführt, werden die Lebensprozesse wieder in ein Strömen gebracht. Dies ist oft der erste Schritt auf dem Weg aus der Erschöpfung zum seelischen Gleichgewicht. Hinzu kommen weitere Therapieoptionen wie künstlerische Therapien, Heileurythmie und psychotherapeutische Elemente, mit Hilfe derer die Patientinnen und Patienten unter therapeutischer Anleitung selbst aktiv an ihrer Genesung und Konstitution arbeiten können. Ein Ziel der konstitutionellen anthroposophischen Therapie ist es, dem unbewussten Anteil des Menschen gegenüber dem dominanten Nerven-Sinnes-Pol wieder mehr Geltung zu verschaffen und zudem die Nerven-Sinnes-Tätigkeit vermehrt dorthin zu führen, wo ihre ureigene Aufgabe ist, nämlich in der Zuwendung zur Welt.
Bewusstseinskräfte integrieren
Innerhalb der Anthroposophischen Medizin wird der Mensch zur Diagnostik und Therapiefindung auf der Grundlage der drei in ihm wirksamen Organisationssysteme, der Nerven-Sinnes-Organisation, der Rhythmischen Organisation und der Gliedmassen-Stoffwechsel-Organisation angeschaut. Unser heutiger Lebensstil fördert die Dominanz des Bewusstseinspols. Dies ist durchaus zeitgemäss und entspricht der menschlichen Evolution, die zu immer mehr Bewusstsein und dadurch Verantwortungsübernahme für unsere natürliche und soziale Umwelt strebt. Diese Entwicklung hat jedoch auch ihren Preis; insgesamt ist dadurch zu beobachten, dass die Menschen weniger selbstverständlich gut in sich ruhen beziehungsweise in sich verankert sind. Um das krankhafte Übergreifen der Bewusstseinskräfte des Nerven-Sinnes-Systems auf das Rhythmische System und das Stoffwechsel-System zu verhindern und eine Harmonie dieser drei Glieder wiederherzustellen, ist es einerseits wichtig, das Rhythmische System und das Stoffwechsel-Gliedmassen-System zu stärken. Andererseits muss die Nerven-Sinnes-Funktion nach aussen hin orientiert und dem Bewusstsein Inhalt gegeben werden.
Stärkende Seelenübungen
Rudolf Steiner entwickelte die Anthroposophische Medizin von Anfang an mit einem salutogenetischen, auf die Stärkung und Förderung der Gesundheit ausgerichteten Ansatz. Der spirituelle Weg der Anthroposophie enthält eine Vielzahl von meditativen Übungen. Rudolf Steiner prägte hierfür den Begriff „Seelenübungen“. Sie betreffen alle Fähigkeiten der Seele und erweitern die Sinneswahrnehmung, das Denken, das Gefühlsleben und den Willen. Sie knüpfen an asiatische und christlich-abendländische Methoden an, setzen aber neue Akzente, die dem modernen Menschen gerecht werden. Krankheit ist mehr als ein Defekt. Sie ist immer eine Herausforderung zu persönlicher Mitarbeit. Gerade durch Seelenübungen kann der Patient eine Krankheit besser bewältigen, ein neues Interesse an der Welt entwickeln und die eigene Initiativkraft wiederentdecken. In einer wöchentlich durchgeführten Gruppentherapie werden die folgenden Elemente vermittelt.
Übungen für das Denken und die Sinne
Bewusstes Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Ertasten übermitteln uns neue Qualitäten der Umwelt, die wir in unserem üblichen Alltagsbewusstsein gar nicht wahrgenommen haben. Wir setzen uns diesen Eindrücken unmittelbar aus, ohne zu urteilen und zu interpretieren, und erleben dadurch ihre Qualität in vertiefter Weise. Es verbindet uns in einer staunenden Weise wieder mit unserer Umwelt. Andererseits ist eine täglich durchgeführte Meditation, bei der ein Objekt, ein Bild, ein Gedanke in den Mittelpunkt des Bewusstseins gestellt und von verschiedenen Gesichtspunkten aus beleuchtet wird, enorm hilfreich.
Übungen für das Gemüt und das Rhythmische System
Übungen für das Gemüt wecken unsere innere Freude, die Herzenskultur. Ein schönes, künstlerisch gestaltetes Bild, der Klang von Musik, aber auch das Geschehen am Himmel können neue innere Kraft schenken. Dabei hilft uns die Haltung des Optimismus und der Positivität. Wir können bewusst Situationen in unserem Alltag aufsuchen, die uns in unserem Gemüt aufbauen. Wir können sie für uns in einem persönlichen Sonnenbuch aufschreiben und sie uns bewusstmachen. Eine bewusste Pflege des Rhythmus innerhalb des Lebensstils mit regelmässigen Essens- und Schlafenszeiten sowie bewusst gestalteten Pausen stärkt das Rhythmische System. Unsere Organe haben innerhalb des 24-stündigen Tag-Nacht-Rhythmus eigene Rhythmen, die sich in der natürlichen Evolution vornehmlich an den äusseren Licht- und Wärmeverhältnissen, das heisst durch den Stand der Sonne herausgebildet haben.
Übungen für den Willen und das Stoffwechsel-Gliedmassen-System
Die dritte Gruppe von Übungen hilft uns, den eigenen Willen zu befreien und in sich zu stärken: Wir können in langsamer Schrift einen schönen Text abschreiben und dabei auf eine ruhige fliessende Handbewegung achten. Wir können unser Gehen verlangsamen und dann wieder beschleunigen und es bewusst wahrnehmen und rhythmisch gestalten. Und wir können die Erlebnisse des Tages in rückwärtiger Reihenfolge vor unserem inneren Auge vorüberziehen lassen. Bei solchen Übungen fühlen wir uns nicht mehr von aussen gesteuert. Wir handeln ganz aus unserem eigenen Willen und verstärken unsere innere Kraft, indem wir in Ruhe und Geduld unscheinbare Handlungen aufmerksam ausführen. Eine Stärkung des Stoffwechsel-Systems wird durch den Bewegungsorganismus erreicht: Regelmässiges Laufen in der Natur, sportliche Betätigung, Tanz und Eurythmie schaffen so einen Ausgleich gegenüber einer verstärkten Inanspruchnahme des Nerven-Sinnes-Systems.
Unbewusste Wirkkräfte
Das Seelisch-Geistige ist vom Leiblichen nicht zu trennen. Im Stoffwechselsystem ist das Seelische in die Lebensvorgänge eingetaucht und impulsiert diese von innen. Dabei wird im gesunden Zustand das Bewusstsein von den Lebensvorgängen übertönt, so dass von den Vorgängen und Tätigkeiten des Seelischen im Stoffwechselbereich kein Bewusstsein besteht. Wird das Seelische durch anhaltende Sorgen, Ängste oder Misstrauen geprägt, führt dies zu einer negativen Stimmung der Seele, die diese in den Leib hineinträgt und sich somit auf die funktionellen Vorgänge im Stoffwechsel- und rhythmischen System auswirkt. Es können aber auch tiefgreifende Verletzungen der Seele in der Vergangenheit von wesentlicher Bedeutung sein. Nicht selten werden solche Verletzungen, vornehmlich in der Kindheit, aus dem Bewusstsein verdrängt. Gleichsam zum Schutz des bewussten Seelischen werden diese traumatischen Seeleninhalte in den unbewussten Teil des Seelischen geschickt.
Damit aber werden sie nun in den Leib und die dort herrschenden Lebensvorgänge getragen. Der Leib muss das „verdauen“, was die Seele nicht verdauen kann. Insgesamt ist dadurch zu beobachten, dass die Menschen weniger selbstverständlich gut in sich ruhen und Reize aus dem Bereich der Verdauungsorgane rascher zu einer Verunsicherung, zum Suchen nach organischen Ursachen und schliesslich in ein sich verselbständigendes Gefühl der Angst führen. Mit anderen Worten: die vielseitigen Eindrücke auf unseren Bewusstseinspol haben eine Überforderung der seelischen Verdauung, der Integrationsfähigkeit zur Folge.
Verhaltensorientierte Psychotherapie
So gesehen liegt einer unserer therapeutischen Ansätze darin, die Selbstregulation der seelischen Eindrücke sowie den bewussten Umgang mit negativen Gefühlen wie insbesondere Angst zu üben, um auf das Seelenleben eine ordnende und beruhigende Wirkung zu gewinnen. Selbstregulation ist die Fähigkeit eines Menschen, Wohlbefinden, inneres Gleichgewicht, bedürfnisgerechte Anregung, Kompetenzgefühl und das Gefühl der Fähigkeit zur Kontrolle von Stresssituationen herbeizuführen. Hierbei spielen Übungen der Achtsamkeit eine Rolle, in denen die Akzeptanzhaltung geübt wird.
Es geht hierbei um die Förderung einer mitfühlenden, achtsam akzeptierenden Haltung hinsichtlich der Tatsache, dass die Symptome nicht oder nur teilweise beseitigt werden können. Aus der Akzeptanzhaltung heraus kann das Symptom oftmals nun als wichtige Botschaft des Körpers angesehen werden, dem mit einer fragenden Haltung begegnet werden kann. Dann wird man in der Regel nicht bei dieser Akzeptanzhaltung stehenbleiben, sondern versuchen, durch gezielte Aktivitäten die Situation zu verbessern, was Veränderung des Bewusstseinsfokus und Selbstfürsorge beinhaltet. Jeder kennt, wie wir uns trotz besserer Einsicht schwertun, Verhaltensänderungen umzusetzen. Unser Verhalten hat einen sich selbst stabilisierenden Zustand im Sinne eines Autopiloten oder fester Schemata. In neurophysiologischen Untersuchungen wurde gezeigt, dass unser Arbeitsgedächtnis im präfrontalen Cortex, im vorderen Teil unseres Grosshirns, bewusst gewählte Gedankeninhalte festhalten und lenken kann. Diese Fähigkeit ist bei allen Menschen angelegt, kann jedoch erst mit Anfang Zwanzig nach und nach ergriffen werden. Dazu müssen wir auf eine innere Kraft in uns zurückgreifen, mit der wir uns aus dem Sog alter Muster lösen können und neue Gewohnheiten einüben können. Diese Kraft wird in der Fähigkeit deutlich, dass wir uns gewissermassen wie von aussen anschauen können. Wir sind in der Lage, eine andere Perspektive zu unserem emotional geprägten Erleben zu entwickeln. Wir nehmen die spontanen Handlungsimpulse wahr, sind in der Lage, sie loszulassen und eine Gelassenheitshaltung einzunehmen, um uns neu orientieren zu können. Dies ermöglicht uns eine andere Freiheit im Handeln. In Gruppenangeboten werden auf dieser Grundlage der Umgang mit Gefühlen wie Angst, Ohnmacht, Wut sowie auch zwischenmenschliche Fertigkeiten vermittelt: Nein-Sagen-Können und Orientierung auf die Selbstachtung.
Kunsttherapie
In den Künsten haben wir die Möglichkeit, inneres seelisches Leben in vollendeter Form nach aussen zum Ausdruck zu bringen. Wird die Kunst als Therapieform eingesetzt, kann sich einerseits im freien Gestalten die Verfassung des Seelischen ausdrücken und auch die Diagnostik bereichern. Zum anderen aber kann dann das zielgerichtete therapeutische Gestalten einen urbildhaften Eindruck in der Seele bewirken, der diese zur Stabilisierung und Harmonisierung und eventuell zur Neuorientierung befähigt. Das Wesentliche dabei ist der übende, wiederholende Umgang mit den Elementen der Künste, zum Beispiel Farben und Tönen, wodurch auf die seelische Konstitution und die Leiblichkeit des Menschen gesundend zurückgewirkt werden kann.
Heileurythmie
Eine besondere Therapie ist die in der Anthroposophischen Medizin entwickelte Heileurythmie, bei der die Laute der Sprache und die Elemente der Musik in einer entsprechenden Bewegungsgestaltung zur Erscheinung gebracht werden, wodurch die Lebens- und Selbstheilungskräfte aufgerufen werden. Da sie den ganzen Körper einbezieht,
ergänzt und bereichert sie die anderen Therapiemöglichkeiten in idealer Form.
Literatur
Magen-Darm-Sprechstunde, A. Goyert, Urachhaus 2014
Das innere Geleichgewicht finden, K. Adams, W. Rissmann,
M. Roknic, Gesundheit aktiv 2015
Fachperson |
Veronika Werner |
Arbeitsschwerpunkte | Fachärztin für Innere Medizin und Psychotherapie, anthroposophisches Ärzteseminar an der Eugen-Kolisko- Akademie, Psychiatrische/ Psychotherapeutische Ausbildung mit Zusatzbezeichnung Psychotherapie, seit 2017 Oberärztin in der Psychiatrie/Psychosomatik der Klinik Arlesheim. |
Kontakt | veronika.werner@klinik-arlesheim.ch |