Die Arlesheimer Klinik und die Ausbreitung der Anthroposophischen Medizin

Wie wird wohl alles auf­ge­nom­men wer­den, war bei mir die Fra­ge, als ich unse­ren ver­ehr­ten Leh­rer Rudolf Stei­ner ein­lud, das Insti­tut zu sehen, als es ganz fer­tig war zum Emp­fang der Pati­en­ten. Mit klop­fen­dem Her­zen zeig­te ich die Zim­mer, die in den ver­schie­de­nen Far­ben gemalt waren, das Behand­lungs­zim­mer, die Veran­den, was wird er sagen? Und unver­gess­lich bleibt mir der Moment, als wir in die obers­te Eta­ge ange­langt zur offe­nen Veran­da uns bega­ben, um den schö­nen Aus­blick zu sehen, den Arle­sheim auf die Voge­sen hat, Rudolf Stei­ner sich mir zuwen­de­te, mir die Hand gab und die Wor­te aus­sprach, dass er mit mir arbei­ten wol­le, und dass es ihm Freu­de gemacht, dass das Insti­tut zustan­de gekom­men ist, dem er den Namen Kli­nisch-The­ra­peu­ti­sches Insti­tut geben wol­le und für das er jetzt mit mir zusam­men einen Pro­spekt aus­ar­bei­ten woll­te.“ (Ita Weg­man)

Wie in einer Nuss­scha­le“

Das von Rudolf Stei­ner im Juni 1921 erst­mals besich­tig­te und für gut befun­de­ne Arle­shei­mer „Insti­tut“ war ein klei­nes Haus in einem gros­sen Gar­ten – ein Haus mit gera­de ein­mal fünf Zim­mern, die für eine Pati­en­ten­be­le­gung in Fra­ge kamen. Über sechs Jah­re blieb dies der rea­le Umfang von Ita Weg­mans „Kli­nik“. – Auf beeng­tem Raum aber wur­de von Anfang an eine ener­gi­sche, inter­na­tio­nal aus­ge­rich­te­te und in sich gross­zü­gi­ge Akti­vi­tät initi­iert – in dem von Rudolf Stei­ner for­mu­lier­ten und vier­spra­chig gedruck­ten Kli­nik­pro­spekt lau­te­te der ers­te Satz: „Das kli­nisch-the­ra­peu­ti­sche Insti­tut in Arle­sheim dankt sein Ent­ste­hen der Ein­sicht, dass die Medi­zin der Gegen­wart eine geis­tes­wis­sen­schaft­li­che Erwei­te­rung und Ver­tie­fung nötig hat.“ Eine neue Medi­zin soll­te begon­nen wer­den, in deren Mit­tel­punkt die Indi­vi­dua­li­tät des erkrank­ten Men­schen steht, in ihrer lebens­ge­schicht­li­chen Situa­ti­on, ihrer Her­kunft und Zukunft; nicht ein natur­wis­sen­schaft­lich zu ana­ly­sie­ren­der „Kör­per“ soll­te in sei­nen gesetz­mäs­si­gen Funk­tio­nen ver­än­dert, son­dern der Leib und die See­le eines indi­vi­du­el­len Men­schen im Sin­ne einer wirk­li­chen Heil­kunst frei­heit­lich behan­delt wer­den – mit sorg­sam auf­ge­fun­de­nen Natur­pro­zes­sen, mit Kunst­the­ra­pi­en und äus­se­ren Anwen­dun­gen, mit Gesprä­chen und geis­tig-bio­gra­phi­schen Hil­fe­stel­lun­gen. Die damit genann­te Inten­ti­on war viel­ver­spre­chend, gross und muss­te nun­mehr ein­ge­löst wer­den – dafür stand Ita Weg­man Tag und Nacht mit all ihren Mög­lich­kei­ten zur Ver­fü­gung. Bald fan­den ers­te Ärz­te, Schwes­tern und zahl­rei­che jun­ge und ler­nen­de Men­schen hin­zu und bega­ben sich auf einen the­ra­peu­ti­schen Weg, den vor ihnen noch nie­mand aus­ge­schrit­ten war – nach Anga­ben Rudolf Stei­ners wur­den neue, zuvor unbe­kann­te Heil­mit­tel her­ge­stellt und zur äus­se­ren und inne­ren Anwen­dung gebracht; aber auch spe­zi­el­le kunst­the­ra­peu­ti­sche Übun­gen im Bereich einer neu­en Bewe­gungs­kunst (Euryth­mie), der Spra­che und Musik, der Far­be und des Tones ent­fal­te­ten sich und zeig­ten eine gros­se, hei­len­de Wirk­sam­keit. Viel­fäl­ti­ge The­ra­pie­wei­sen wur­den so auf kleins­tem, aber von dich­ter und freu­di­ger Akti­vi­tät beseel­tem Raum ent­wi­ckelt – in den rück­bli­cken­den Wor­ten der Ärz­tin und Hei­leu­ryth­mis­tin Mar­ga­re­the Kirch­ner-Bock­holt: „Wie im Mär­chen die Gewän­der in einer Nuss­scha­le ruhen, so lagen alle die­se Tätig­kei­ten in keim­haf­ter Gestalt in der Kli­nik ver­bor­gen.“

Wach­sen Sie an Ihren Auf­ga­ben!“

Ita Weg­man stand im abso­lu­ten Zen­trum die­ses pio­nier­haf­ten Unter­neh­mens. Mit gros­ser geis­ti­ger Sicher­heit und einem eben­so beherz­ten wie the­ra­peu­tisch bedach­ten Auf­tre­ten ges­tal-
tete sie die Gemein­schafts­at­mo­sphä­re
des Hau­ses – in inne­rer Verbun­den­heit mit den Kran­ken­schwes­tern und allen Mit­strei­tern – mit vor­bild­ge­ben­dem Ein­satz am Kran­ken­bett und mit ein­falls­rei­chen the­ra­peu­ti­schen Ide­en und Vor­ge­hens­wei­sen, die die hei­len­den Kräf­te auf­rie­fen und zur Wir­kung führ­ten. Visi­ten mit Ita Weg­man und sämt­li­che For­men der direk­ten Zusam­men­ar­beit mit ihr waren aus­ge­spro­chen anspruchs­voll und for­der­ten alle Kräf­te – Ita Weg­man erwar­te­te höchs­te Ein­satz­be­reit­schaft und selbst­lo­se Prä­senz für das Gelin­gen der gemein­sa­men Auf­ga­be, ver­folg­te im
übri­gen unent­wegt wei­ter­füh­ren­de the­ra­peu­ti­sche Ide­en und Vor­ha­ben, die in gros­sem Tem­po rea­li­siert wer­den soll­ten („Wach­sen Sie an Ihren Auf­ga­ben!“). Ihre Begeis­te­rung und ihr lie­-
bevol­ler Enthu­si­as­mus aber durch­weh­ten die Kli­nik und setz­ten Kräf­te
frei – eben­so ihr Ernst und die Form­kraft ihrer geis­ti­gen Arbeit. Sie schu­fen eine the­ra­peu­ti­sche Kul­tur in kon­zen­trier­tes­ter Form, die bald in die Welt hin­aus­zie­hen soll­te.

Ein hei­len­des Prin­zip über­all um uns her ver­brei­ten“

Am Ende des Jah­res 1923 berief Rudolf Stei­ner Ita Weg­man zur Lei­te­rin der Medi­zi­ni­schen Sek­ti­on der Frei­en Hoch­schu­le für Geis­tes­wis­sen­schaft am Goe­thea­num und über­gab ihr – nur fünf­zehn Mona­te vor sei­nem Tod – die per­sön­li­che Ver­ant­wor­tung für die the­ra­peu­ti­sche, sozia­le und wis­sen­schaft­li­che Zukunft der Anthro­po­so­phi­schen Medi­zin. Die­se geis­ti­ge Ver­pflich­tung nahm Ita Weg­man bis an ihr Lebens­en­de ernst und arbei­te­te mit ihrer gan­zen Wesens­kraft an der grösst­mög­li­chen Erfül­lung der damit gestell­ten Auf­ga­ben. Unter ihrer För­de­rung ent­stan­den in den fol­gen­den Jah­ren zahl­rei­che wei­te­re anthro­po­so­phi­sche Kli­ni­ken und Sana­to­ri­en, the­ra­peu­ti­sche Zen­tren und heil­päd­ago­gi­sche Insti­tu­te in ver­schie­de­nen euro­päi­schen Län­dern, aber auch inter­na­tio­na­le Mög­lich­kei­ten der Her­stel­lung und des Ver­triebs der neu ent­wi­ckel­ten Heil­mit­tel; es ent­stan­den For­men der berufs­spe­zi­fi­schen Aus- und Wei­ter­bil­dung in Anthro­po­so­phi­scher Medi­zin, Kran­ken­pfle­ge, Heil­päd­ago­gik und Kunst­the­ra­pie, Wei­sen der Kom­mu­ni­ka­ti­on, Publi­ka­ti­on und For­schung („Nur so, wenn es uns Ärz­ten gelingt, alles das, was Dr. Stei­ner den Ärz­ten gege­ben hat, leben­dig in uns zu tra­gen, wird es uns auch gelin­gen, nicht nur kran­ke Men­schen zu hei­len, son­dern auch ein hei­len­des Prin­zip über­all um uns her, wo wir wirk­lich sind, zu ver­brei­ten.“ Ita Weg­man). Von Arle­sheim aus initi­ier­te, beglei­te­te und unter­stütz­te Ita Weg­man all die­se Bemü­hun­gen mit uner­schöpf­li­cher Ener­gie und reis­te mehr als die Hälf­te des Jah­res zu den ein­zel­nen, weit­ver­streu­ten Orten, ermu­tig­te, ener­gi­sier­te und inspi­rier­te die dort täti­gen und oft am Ran­de ihrer Kräf­te arbei­ten­den Men­schen, stärk­te ihnen den Rücken, ermög­lich­te Feri­en, Ver­tre­tun­gen und Erho­lungs­pau­sen. Nicht zuletzt aber ver­kör­per­te und leb­te Ita Weg­man die fort­be­stehen­de Ver­bin­dung der gesam­ten Arbeit mit ihren spi­ri­tu­el­len Fun­da­men­ten, wie sie durch Rudolf Stei­ners Leben und Werk geschaf­fen wor­den waren. Sie ver­ei­nig­te die Men­schen zu einer geis­ti­gen Gemein­schaft mit einer gemein­sa­men inne­ren Ziel­set­zung, die oft alle äus­se­ren Wider­stän­de über­win­den liess.

Mir macht die gan­ze Welt­la­ge gros­se Sor­gen.“

Die tat­säch­lich vor­ge­fun­de­nen Hin­der­nis­se aber waren von Anfang an gross und kul­mi­nier­ten in den 30er Jah­ren, die die natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Macht-über­nah­me in Deutsch­land und eine auf­kom­men­de Vor­kriegs­stim­mung mit sich brach­ten. Die anthro­po­so­phi­sche Heil­kunst stand – und steht – in ihrer Beto­nung der kon­kre­ten Indi­vi­dua­li­tät des Men­schen bis in sei­ne ein­zel­nen leib­li­chen Aus­drucks­we­ge hin­ein der übli­cher­wei­se ver­brei­te­ten Medi­zin in vie­lem kon­trär gegen­über; die Anthro­po­so­phie selbst wur­de in ihrer gesell­schaft­lich orga­ni­sier­ten Form von den deut­schen Macht­ha­bern 1935 auf­grund ihres „Inter­na­tio­na­lis­mus“ und „Indi­vi­dua­lis­mus“ ver­bo­ten – und die heil­päd­ago­gi­schen Insti­tu­te befan­den sich ab 1933 in einem schwie­ri­gen Kampf ange­sichts der dro­hen­den Ste­ri­li­sie­rung und Eutha­na­sie der von ihnen betreu­ten und lie­be­voll geför­der­ten Kin­der. Ita Weg­man aber hielt das huma­nis­tisch-christ­li­che Men­schen­bild auch in den Zei­ten der Not und Bedräng­nis auf­recht, orga­ni­sier­te wirk­sa­me Hil­fen zur Flucht und Wege der Ret­tung – auch, als im Sep­tem­ber 1939 der Zwei­te Welt­krieg in Mit­tel­eu­ro­pa aus­brach, die ein­zel­nen Orte von­ein­an­der getrennt wur­den und auf sich selbst ange­wie­sen waren. Sie trug die Men­schen und all ihre Bemü­hun­gen wei­ter in ihrem Her­zen und leb­te bis zuletzt in Rich­tung des Kom­men­den, das sie vor­be­rei­te­te und dem sie bis zu ihrem Tod mit allen Kräf­ten dien­te. Der Schweiz als ihrem Gast- und Hei­mat­land war Ita Weg­man tief und dank­bar ver­pflich­tet – in ihrer poli­ti­schen Neu­tra­li­tät, Gast­freund­schaft und Welt­of­fen­heit sah sie Chan­cen und Ent­wick­lungs­mög­lich­kei­ten für die Zukunft, gera­de auch im Bereich der sozia­len Medi­zin. Im übri­gen hat­te Rudolf Stei­ner Ita Weg­man bereits früh zu ver­ste­hen gege­ben, dass in die­sem Land die ärzt­li­che The­ra­pie­frei­heit am längs­ten erhal­ten blei­ben wür­de.

…Mir macht die gan­ze Welt­la­ge gros­se Sor­gen, weil so, wie die Din­ge sich gestal­ten, nicht viel gutes dar­aus ent­ste­hen wird. So tun mir oft beson­ders die Kin­der leid, die die­ses alles mit­ma­chen müs­sen, sei es auf der einen Sei­te den Glück­s­tau­mel, sei es auf der ande­ren Sei­te die von Hass erfüll­ten Ver­fol­gun­gen anders Den­ken­der, wie Juden usw. So möch­te ich fast den Ärz­ten mit ans Herz legen, mit dazu bei­zu­tra­gen, dass die Kin­der aus Deutsch­land her­aus­ge­schickt wer­den. Den­ken Sie dar­an, dass wir mit Lie­be die Kin­der hier auf­neh­men wer­den.

Ita Weg­man, 17.03.1933

Dr. Peter Selg

Die Kommentarfunktion ist geschlossen.