Dich führt dein Weg… Schicksal und freies Wollen

Nachts im Wald

Bist du nie des Nachts durch Wald gegan­gen,
wo du dei­nen eig­nen Fuss nicht sahst?
Doch ein Wis­sen über­wand dein Ban­gen:
Dich führt der Weg.

Hält dich Leid und Trüb­sal nie umfan­gen,
dass du zit­terst, wel­chem Ziel du nahst?
Doch ein Wis­sen über­mannt dein Ban­gen:
Dich führt dein Weg.

Chris­ti­an Mor­gen­stern

In die­sem Gedicht von Chris­ti­an Mor­gen­stern klingt deut­lich das Motiv der Füh­rung an, einer ganz beson­de­ren Art der Füh­rung, der Füh­rung durch den eige­nen Weg. Was heisst das? Ist alles vor­be­stimmt im Leben? Oder haben die Ereig­nis­se nichts mit mir zu tun, sind schlicht so genann­te „Zufäl­le“? Bei­de Hal­tun­gen kön­nen zu einer Pas­si­vi­tät, zu Resi­gna­ti­on füh­ren.
Im Gedicht wird aber auch auf eine ganz ande­re Qua­li­tät hin­ge­wie­sen: Auch in der Dun­kel­heit, wenn ich nichts erken­ne, kann ich Ver­trau­en haben durch den Weg selbst, durch mei­nen Weg. Der „Weg“ als Schick­sals­zu­sam­men­hang mit dem Woher zum Wohin, der führt, auch wenn er im Dun­kel liegt. Ich bin es, die ihn gehen muss, ver­trau­ens­voll gehen kann.

Her­aus­for­de­run­gen hin zu einem höhe­ren Bewusst­sein

Auf dem mensch­li­chen Lebens­weg gibt es eine Rei­he von gesetz­mäs­si­gen Ereig­nis­sen, die Über­gang und Neu­be­ginn einer wei­te­ren Lebens­stu­fe anzei­gen kön­nen. In der Kind­heit und Jugend zum Bei­spiel sind es Zahn­wech­sel und Schul­rei­fe oder Puber­tät und Reli­gi­ons­mün­dig­keit usw. Die­se Schrit­te lau­fen gewis­ser­mas­sen ohne unser eige­nes Dazu­tun ab.
Dann aber beginnt mehr und mehr die Abhän­gig­keit die­ser Schrit­te von unse­rem Dazu­tun, unse­rem frei­en Wol­len. So zum Bei­spiel, wenn um das 28. Lebens­jahr her­um die so genann­te Talent­kri­se ein­tritt, bei der das Erle­ben ist, „von allen guten Geis­tern ver­las­sen zu sein“. Bega­bun­gen, die wie geschenkt zur Ver­fü­gung stan­den, sind auf ein­mal nicht mehr ver­füg­bar. Goe­the sagt hier­zu: „Was Du ererbt von Dei­nen Vätern, erwirb es, um es zu besit­zen.“ Dies ist ein deut­li­cher Aus­druck der not­wen­di­gen eige­nen Akti­vi­tät, um auf dem Ent­wick­lungs­weg wei­ter­zu­ge­hen. So tau­chen im Leben gesetz­mäs­sig – und oft kri­sen­haft – Her­aus­for­de­run­gen auf, zum Bei­spiel auch an den so genann­ten Mond­kno­ten. Hier­mit wird die Kon­stel­la­ti­on von Son­ne und Mond zur Erde bezeich­net, wie sie zum Zeit­punkt der Geburt besteht und sich alle 18 Jah­re, 7 Mona­te und 9 Tage wie­der­holt.

Für all die­se Her­aus­for­de­run­gen gilt, dass sie uns zu einem höhe­ren Bewusst­sein füh­ren wol­len, unse­re eige­nen, ganz indi­vi­du­el­len Lebens­schick­sals­mo­ti­ve betref­fend. Und daher wer­fen sie nicht nur die Fra­gen des Woher und War­um auf, son­dern viel­mehr die­je­ni­gen des Wohin und Wozu. Sie las­sen uns erwa­chen und hier­aus Taten fol­gen.

Krank­heit und Schick­sal oder vom War­um zum Wozu

Eine ganz beson­de­re Art von Ereig­nis­sen in unse­rem Leben sind die Krank­hei­ten. Wir sind es heu­te gewohnt, nach deren Ursa­chen zu for­schen, und müs­sen oft erken­nen, dass die­se im Dun­keln blei­ben. Die Fra­gen nach dem Wohin und dem Wozu jedoch wer­den (noch) kaum gestellt. Könn­ten aber nicht genau sie wich­tig sein – auch, um die Sinn­haf­tig­keit zu fin­den?
Krank­hei­ten unter­bre­chen meist den Lebens­fluss, sind oft mit kör­per­li­chen Ein­schrän­kun­gen ver­bun­den. Die übli­chen medi­zi­ni­schen Mass­nah­men die­nen dem mög­lichst raschen Wie­der­her­stel­len der Funk­tio­na­li­tät, zurück zu dem, was war. Kann nicht aber gera­de die­se „Unter­bre­chung“, die­ses „Inne­ge­hal­ten-Wer­den“ uns auf­merk­sam machen wol­len auf unser „Wesent­li­ches“, auf unse­re wah­ren Lebens­auf­ga­ben?

Rudolf Stei­ner beschreibt Krank­hei­ten als „Erzie­her“ in unse­rem Leben. Er sagt, dass das kar­mi­sche, schick­sals­mäs­si­ge Ziel einer Erkran­kung dar­in besteht, den Men­schen zu för­dern und voll­kom­me­ner zu machen. Das heisst: Krank­hei­ten beinhal­ten die Chan­ce, Neu­es hin­zu­zu­ge­win­nen. Es hängt davon ab, ob ich in die­sem Sin­ne mei­ne „Schrit­te“ len­ke, Selbst­ent­wick­lung voll­zie­he.

Ein Bei­spiel für das star­ke Ein­wir­ken indi­vi­du­el­ler Kräf­te stellt der Brust­krebs dar. Hier gibt es eine Form, die als gene­tisch, das heisst erb­lich bedingt ange­se­hen wird. Neue­re Unter­su­chun­gen zei­gen nun jedoch, dass die Zusam­men­hän­ge offen­bar viel­fäl­ti­ger sind und dass das Krebs­ri­si­ko auch bei einer erb­li­chen Ver­an­la­gung nicht zwin­gend erhöht sein muss. Liegt dar­in ein Hin­weis auf „ver­bor­ge­ne“ Grün­de? Hat hier viel­leicht die­se gene­ti­sche Beson­der­heit schon unbe­wusst zu einem Selbst­er­zie­hungs­pro­zess und damit zu „Gesun­dung vor Aus­bruch der Krank­heit“ geführt?

Krank­heit kann unge­ahn­te Kräf­te wecken

Was aber bedeu­ten Hei­lung und Unheil­bar­keit? Dies sind zwei Begrif­fe, mit denen vor allem an Krebs Erkrank­te kon­fron­tiert wer­den. Sie sind aller­dings bloss sta­tis­ti­sche Vor­aus­sa­gen, ver­all­ge­mei­ner­te Kon­struk­te, die auf Wahr­schein­lich­kei­ten beru­hen. Über den kon­kre­ten Ein­zel­fall, dar­über, ob Hei­lung ein­tritt oder die Krank­heit „unheil­bar“ ist, sagen sie wenig aus. Was liegt zum Bei­spiel vor, wenn trotz Unheil­bar­keit im obi­gen Sin­ne Hei­lung ein­tritt, heu­te „Spon­tan­hei­lung“ genannt? Rudolf Stei­ner hat hier­zu bezo­gen auf die Krank­heit und die Kräf­te, die sie mobi­li­sie­ren kann, in sei­nem Buch „Offen­ba­run­gen des Kar­ma“ etwas sehr Wich­ti­ges gesagt: „Dann, wenn wir in die­sem Leben mit den so errun­ge­nen Kräf­ten noch etwas in die­sem Leben anfan­gen kön­nen, dass wir die neu­en Kräf­te anwen­den kön­nen und wir­ken kön­nen, um uns und ande­ren von Nut­zen zu sein, dann tritt Hei­lung ein.“ Schaut man die Lebens­ge­schich­ten der Men­schen mit so genann­ten Spon­tan­hei­lun­gen genau­er an, so ist genau das fest­zu­stel­len.

Es kann jedoch auch sein, dass neue Kräf­te errun­gen wer­den, die in die­sem Leben nicht mehr zur Anwen­dung kom­men kön­nen, die aber Kei­me sind, mit­ge­nom­men durch den Tod in ein neu­es Leben. In wie vie­len Fäl­len lässt das erhöh­te Bewusst­sein nahe der Todes­schwel­le die Men­schen gera­de dies erken­nen und sie sagen: „Ich füh­le mich geheilt, auch wenn ich ster­be.“

Jen­seits der Angst: Ver­trau­en und Gna­de

Das alles kann den Blick für die Ver­ur­sa­chung des Jetzt in die Zukunft len­ken, auf das Schick­sal, das mir ent­ge­gen­kommt, und mich so hof­fen las­sen kann, ver­trau­end auf den Weg durch die Dun­kel­heit zu gehen, sich nicht durch die Angst läh­men zu las­sen. Ein „höhe­res „Eige­nes“, das führt, erhält so sei­nen Raum, die geis­ti­ge Indi­vi­dua­li­tät, die über die Gren­zen von Geburt und Tod schick­sals­ge­mäss unse­ren „roten Faden“ zieht.

Es macht deut­lich, dass eine The­ra­pie, die zur Hei­lung füh­ren will, die­se Aspek­te der Ent­wick­lungs­för­de­rung durch Krank­heit mit ein­be­zie­hen muss. Sie soll nicht bloss Ein­grif­fe son­dern Unter­stüt­zung anbie­ten, mit Respekt und unter Wah­rung des frei­en Wil­lens des Ande­ren.

Dies berei­tet den Boden dafür, dass etwas wie Gna­de auf dem Hei­lungs­weg hin­zu­ge­schenkt wer­den kann, als drit­te Kraft. Das gibt den Sinn – und zeigt Wege und Aus­we­ge auch in schwers­ten Lebens­si­tua­tio­nen.

Autoren84

 

Fach­per­son Sil­ke Hel­wig
Arbeits­schwer­punk­te Sie ist seit 23 Jah­ren Ärz­tin an der Lukas Kli­nik mit
Schwer­punkt Psy­cho­on­ko­lo­gie und Bio­gra­phie­ar­beit.
Kon­takt s.helwig@lukasklinik.ch

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