Der Mensch – ein göttliches Wesen

Die Beglei­tung eines Ster­ben­den ist sehr abhän­gig von sei­nen reli­giö­sen und phi­lo­so­phi­schen Ein­sich­ten sowie sei­nen Lebens­ein­stel­lun­gen. Sie ist aber auch abhän­gig von der Kul­tur des Spi­tals, in dem ein Mensch ver­stirbt, sowie von der Ein­stel­lung der ihn betreu­en­den Men­schen. „Quinte“-Redakteurin Vere­na Jäsch­ke hat den Lei­ten­den Arzt der Inne­ren Medi­zin, Pie­ter Wil­der­vanck, gefragt, wie Ster­ben­de in der Kli­nik Arle­sheim beglei­tet wer­den.

Herr Wil­der­vanck, Sie sind Arzt an der Kli­nik Arle­sheim und haben eini­ge Ihrer Pati­en­tin­nen und
Pati­en­ten auch im Ster­be­pro­zess beglei­tet. Wie kann man sich die­se Ster­be­be­glei­tung vor­stel­len?

Das Wich­tigs­te ist das gute und ganz offe­ne Zuhö­ren. Ich muss erspü­ren kön­nen: „Wo steht die­ser Mensch?“ Dar­aus ablei­tend kann ich eine bestimm­te Beglei­tung anbie­ten. Ich fin­de es sehr wich­tig, kei­ne Fra­gen zu beant­wor­ten, die der Pati­ent gar nicht gestellt hat. Ich gehe davon aus, dass jeder Mensch sei­ne ganz eige­ne Ent­wick­lung macht. Wenn er an einem bestimm­ten Punkt anlangt, dann kom­men die Fra­gen. Das sind oft Fra­gen nach dem mög­li­chen Ablauf des Ster­bens, nach dem «Wie wei­ter». Auch sei­ne Ängs­te haben Platz, denn sehr oft ist es die Angst vor dem Ersti­ckungs­tod, die the­ma­ti­siert wird. Die­se Ängs­te muss ich natür­lich ernst neh­men und ver­su­chen, so ehr­lich und deut­lich wie mög­lich die Fra­gen zu beant­wor­ten.
Bei der Beglei­tung Ster­ben­der ist mir ganz wich­tig, eine Spra­che zu fin­den, die ehr­lich auf die Fra­gen ein­geht und gleich­zei­tig eine Hoff­nung ver­mit­telt, die nicht an das „Über­le­ben“ gekop­pelt ist. Das ist eine gros­se Kunst und sehr schwie­rig.

Klam­mert man sich nicht auto­ma­tisch an jede Hoff­nung, dass noch etwas hel­fen könn­te?

Sicher, und das ist auch sehr ver­ständ­lich, aber die Hoff­nung, dass die nächs­te Che­mo­the­ra­pie bestimmt hilft oder dass die Umstel­lung auf ein ande­res Medi­ka­ment das Leben noch etwas ver­län­gern kann, wird ent­täuscht. Dar­um ist es wich­tig, gemein­sam eine ande­re Hoff­nung zu suchen. Auch wenn man sicher ist, dass eine Krank­heit einen bis zum Tod beglei­tet, kann man den­noch Hoff­nung geben, wenn man weiss, dass es wei­ter­geht. Die­se Hoff­nung ver­su­che ich zu ver­mit­teln, meist auch ohne aus­zu­spre­chen, dass es ein „Leben nach dem Tod“ gibt, oder ande­re Begrif­fe zu ver­wen­den, die meist als kon­fes­si­ons­ge­bun­den erlebt wer­den. Mir hilft dabei mei­ne inne­re Gewiss­heit: Der Tod mar­kiert kein Ende, son­dern ist ein Hei­lungs­schritt. Für die­se Gewiss­heit bin ich Rudolf Stei­ner und der anthro­po­so­phi­schen Welt­an­schau­ung unend­lich dank­bar, aber es spricht gera­de für die Grös­se die­ses Men­schen­bil­des, dass sie mir in der Ster­be­be­glei­tung hel­fen kann, ohne dass die Betrof­fe­nen an etwas „glau­ben“ müs­sen.

Wie ver­ein­bart man die­ses Ver­mit­teln von Hoff­nung mit den prak­ti­schen Kon­se­quen­zen?

Wenn ich mer­ke, dass ein Pati­ent zuneh­mend schwä­cher wird, wenn klar wird, dass er nicht wie­der gesund wird, son­dern kurz vor dem Ster­ben ist, dann muss viel Prak­ti­sches und Orga­ni­sa­to­ri­sches mit dem Pati­en­ten und des­sen Ange­hö­ri­gen bespro­chen wer­den. Wenn es mir gelingt, dies mit der Gewiss­heit zu tun, dass der Tod Ent­wick­lung und kein Ende dar­stellt, dann kann ich ganz deut­lich aus­spre­chen, dass zum Bei­spiel die Hoff­nung illu­so­risch ist, wie­der nach Hau­se zurück­keh­ren zu kön­nen. Ich kann dem Pati­en­ten dann sagen: «Wir müs­sen jetzt das Wei­te­re so pla­nen und struk­tu­rie­ren, dass Sie Frei­raum haben, um für das Leben zu kämp­fen.» Ich mei­ne das im Sinn von «das ewi­ge Leben», aber das muss ich sel­ten so aus­spre­chen. Jeder Mensch an der Schwel­le spürt im Unter­be­wuss­ten, dass es wei­ter­geht, und den meis­ten wird es auch bewusst, unab­hän­gig davon, was sie bis dahin mei­nen „geglaubt“ zu haben. Wich­tig ist es, die Ange­hö­ri­gen mit ein­zu­be­zie­hen. Die­se set­zen den Ster­ben­den unge­wollt unter Druck mit ihrem «Du musst jetzt kämp­fen» und mei­nen damit impli­zit das Über­le­ben. Es geht oft dar­um, den Druck weg­zu­neh­men und ein Los­las­sen zu ermög­li­chen.

Was kön­nen Sie zum Umgang mit Schmerz­me­di­ka­men­ten sagen?

Gera­de weil wir auch den Tod als einen Ent­wick­lungs­schritt anse­hen, als einen Schwel­len­über­schritt, ist es uns wich­tig, dass wir die Schmerz­mit­tel so geben, dass das Bewusst­sein des Pati­en­ten so wenig wie mög­lich getrübt ist. Je mehr ein Mensch bewusst mit­er­le­ben kann, des­to weni­ger wer­den die gros­sen Freu­den ver­passt, die gera­de am Lebens­en­de oft so reich­lich vor­han­den sind. Wir geben selbst­ver­ständ­lich im not­wen­di­gen Mass Schmerz­mit­tel, aber wir betäu­ben nicht. Oft­mals ermög­li­chen gera­de Schmerz­mit­tel wie­der ein kla­re­res Den­ken, weil der Pati­ent nicht nur auf sei­ne Schmer­zen fokus­siert ist. Das Fin­den der opti­ma­len Dosie­rung ist ein gemein­sa­mer Pro­zess mit dem Pati­en­ten.
Die gan­ze Schmerz­pro­ble­ma­tik spielt am Lebens­en­de oft eine gros­se Rol­le. Schmerz ist nicht gleich Schmerz, und das Schmerz­emp­fin­den und die Schmerz­to­le­ranz sind bei den Men­schen sehr unter­schied­lich. In der Anthro­po­so­phi­schen Medi­zin haben wir zudem auch neben der her­kömm­li­chen Schmerz­me­di­ka­ti­on eini­ge Hilfs­mit­tel, wie Hei­leu­ryth­mie, Musik­the­ra­pie und Rhyth­mi­sche Ein­rei­bun­gen. Die­se The­ra­pi­en und Anwen­dun­gen ver­mit­teln zusätz­lich zur aus­glei­chen­den und oft beru­hi­gen­den Wir­kung auf den Kör­per auch see­li­sche Wär­me und Anteil­nah­me, die hilft, die Ängs­te zu lin­dern. Denn Angst ist auch Schmerz.

Woher wis­sen Sie, wann der Pati­ent ster­ben wird? Das ist doch für die Ange­hö­ri­gen sicher wich­tig.

Mit aus­rei­chend Erfah­rung sieht man als Arzt meis­tens, wann der Lebens­weg des Pati­en­ten zu Ende geht. Mensch­li­ches Leben ist nur mög­lich in Wär­me. Wenn ich mer­ke, dass die Wär­me beginnt, sich aus dem Kör­per des Pati­en­ten zurück­zu­zie­hen, dann ist das für mich ein kla­res Anzei­chen dafür, dass der Tod nicht mehr fern ist.
Aber die Fra­ge „Wie lan­ge habe ich noch?“ kommt vor­her. Es ist wich­tig, die­ser Fra­ge nicht aus­zu­wei­chen und den­noch „frei­las­send“ damit umzu­ge­hen. Wir ken­nen den Zeit­punkt nicht, wann ein Pati­ent über die Schwel­le gehen wird, daher gehört das „Sie haben noch maxi­mal so und so lan­ge zu leben“ eigent­lich nie zu unse­rem Voka­bu­lar. Das setzt „Gren­zen“, und an der Gren­ze stirbt die Hoff­nung, nicht nur die Illu­si­on. Der Tod ist kei­ne Gren­ze, son­dern eben ein Schwel­len­über­tritt. Aus­ser­dem hat es für uns einen hohen Stel­len­wert, dass die­ser dann pas­siert, wann er sein soll. Wir beein­flus­sen den Zeit­punkt des Todes bewusst nicht, son­dern rin­gen immer für das „Leben“, was aber in die­sem Kon­text immer unter­schie­den wer­den muss vom „Über­le­ben“, wie schon ange­deu­tet.

Wie beglei­ten Sie den Pati­en­ten in den letz­ten Stun­den?

Wir möch­ten den Ster­ben­den den Frei­raum geben, den sie benö­ti­gen. Wir wol­len kei­ne Bedürf­nis­se the­ra­pie­ren, die nicht vor­han­den sind. Es ist schön zu erle­ben, wenn unse­re Musik­the­ra­peu­tin­nen in die­ser letz­ten Zeit noch ein­mal bei dem Pati­en­ten sein kön­nen. Gera­de die Musik hilft vie­len Ster­ben­den, sich zu lösen.
Ange­hö­ri­ge wün­schen oft, dabei zu sein und den Ster­ben­den auf die­sem letz­ten Abschnitt zu beglei­ten. Die Umstän­de sind jeweils sehr indi­vi­du­ell. Aber manch­mal kann sich der Mensch erst lösen, wenn er Ruhe hat. Er nutzt dann viel­leicht den Moment, in dem sei­ne Ange­hö­ri­gen kurz nach draus­sen gehen. Sie sind dann häu­fig irri­tiert und emp­fin­den das als ver­wir­rend. Ich ver­su­che den Ange­hö­ri­gen deut­lich zu machen, dass sie gar kein schlech­tes Gewis­sen haben müs­sen. Man­che Men­schen benö­ti­gen die­sen Moment der Stil­le und ihren eige­nen Raum, um los­las­sen zu kön­nen. Sie brau­chen es, dass kei­ne ande­ren See­len dabei sind, die sie mehr oder weni­ger unbe­wusst «zurück­hal­ten».

Was pas­siert nach dem Tod mit dem Ver­stor­be­nen?

Es ist jeweils sehr indi­vi­du­ell, wo und wie die Fami­li­en Abschied neh­men wol­len. Gern geben wir ihnen die Mög­lich­keit, dass der Ver­stor­be­ne in unse­rem Auf­bah­rungs­raum wäh­rend drei Tagen auf­ge­bahrt wird. Die­ser Raum hat etwas von einer klei­nen Kapel­le und ermög­licht einen wür­de­vol­len Abschied noch im Spi­tal. Das Los­las­sen der Lebens­kräf­te kann so in Ruhe und Wür­de vor sich gehen. Der Tod ist eben doch kein plötz­li­cher Pro­zess, son­dern ver­läuft in Pha­sen und dies sehr unter­schied­lich. Ich habe die Erfah­rung gemacht: Wenn jemand sehr gerun­gen hat mit dem Los­las­sen, gehen die Lebens­kräf­te rela­tiv schnell weg, sobald er oder sie den ent­schei­den­den Schritt gemacht hat, über die Schwel­le getre­ten ist und das Bewusst­sein weg ist.
In den ers­ten drei Tagen nach dem Tod sieht man am Äus­se­ren des Toten, wie die Lebens­kräf­te nach und nach ver­schwin­den, wie sich der Aus­druck des Gesichts wan­delt. Ist es zunächst viel­leicht noch ange­strengt nach dem hef­ti­gen Rin­gen, kommt mit der Zeit wie ein erlös­ter Aus­druck zum Vor­schein. Es mag für man­chen über­ra­schend sein, nach dem Tod noch von Lebens­kräf­ten zu spre­chen, doch wird dies kon­kret erleb­bar, wenn man denkt, dass Haa­re und Nägel noch wei­ter­wach­sen. Das ist doch ein Hin­weis dar­auf, dass die Lebens­kräf­te noch vor­han­den sind und der Über­gang vom Leben zum Tod nicht ganz so abrupt ver­läuft, wie man es sich meist vor­stellt.

Wie ist es für Sie als Arzt, wenn einer Ihrer Pati­en­ten stirbt?

Wir haben den Pati­en­ten ja oft über eine län­ge­re Zeit beglei­tet. Manch einer war in sei­nen letz­ten Lebens­jah­ren schon öfter in unse­rer Kli­nik. Das schafft natür­lich eine inten­si­ve Ver­bin­dung. Aber auch, wenn die­se Ver­bin­dung noch nicht so lan­ge besteht – uns als Team von Ärz­ten, Pfle­gen­den und The­ra­peu­ten ist es ein Anlie­gen, uns vom Pati­en­ten zu ver­ab­schie­den. Oft sind die Ange­hö­ri­gen bei die­ser klei­nen Fei­er­stun­de mit dabei, in der wir zum Bei­spiel den Pro­log aus dem Johan­nes­evan­ge­li­um lesen.
Wenn der Pati­ent ver­stor­ben ist, dann wird er von den Pfle­gen­den gewa­schen und ein­ge­klei­det. Wir kön­nen auch Blu­men auf den Toten und um ihn her­um legen. Das Wel­ken der Blu­men hilft beim Exkar­na­ti­ons­pro­zess, es hilft, dass die Indi­vi­dua­li­tät, die See­le und die Lebens­kräf­te sich von den stoff­li­chen Über­res­ten lösen kön­nen. Aber egal wie wir uns als Pfle­gen­de und The­ra­peu­ten mit einem Men­schen ver­bun­den haben, ent­schei­dend für den Umgang mit dem Ver­stor­be­nen ist der Wunsch des Pati­en­ten oder der Ange­hö­ri­gen.

Pati­en­ten gehö­ren unter­schied­li­chen Glau­bens­rich­tun­gen an, wie gehen Sie damit um?

Mir fällt auf, dass vie­le Men­schen die Anthro­po­so­phie als Reli­gi­on anschau­en und den Ein­druck haben, sie müss­ten die Anthro­po­so­phie ver­ste­hen, um an die Kli­nik kom­men zu kön­nen. Doch die anthro­po­so­phi­sche Welt­sicht ist kei­ne Reli­gi­on, son­dern ein Men­schen­bild. Das ist ganz wich­tig zu beto­nen. Wir fra­gen jeden Pati­en­ten nach sei­ner Reli­gi­ons­ge­mein­schaft. Zum einen um einen Zugang zu ihm zu fin­den, zum ande­ren um ihm die pas­sen­de Seel­sor­ge zu ermög­li­chen. Er kann einen Pfar­rer, einen Pries­ter oder einen Imam sei­ner Reli­gi­on zu sich ein­la­den. Egal, ob der Pati­ent katho­li­schen, evan­ge­li­schen oder mus­li­mi­schen Glau­bens ist oder gar kei­ner Glau­bens­rich­tung ange­hört – mit dem anthro­po­so­phi­schen Men­schen­bild steht für uns der Pati­ent als Mensch da. Jeder Mensch ist ein gött­li­ches Wesen.

 

Fach­per­son

Pie­ter Wil­der­vanck

Arbeits­schwer­punk­te Fach­arzt Inne­re Medi­zin.
Fähig­keits­aus­weis Anthro­po­so­phi­sche Medi­zin.
Kam das ers­te Mal 1992 an die Kli­nik Arle­sheim und ist seit 2008 als Lei­ten­der Arzt hier tätig.
Zusam­men mit Frau Dr. med. Eva Streit und der Pfle­ge­fach­frau Sara Koh­ler lei­tet er seit 2018 den Bereich Inne­re Medi­zin und ist ver­ant­wort­li­cher Arzt für den Not­fall.
Kon­takt pieter.wildervanck@klinik-arlesheim.ch

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