
Die Mitverantwortung von Patientinnen und Patienten in der Anthroposophischen Medizin
Informierte Patientinnen und Patienten
Vorträge zu medizinischen Themen für Laien erfreuen sich zunehmender Beliebtheit. Auch entsprechende Fernsehsendungen und Seiten im Internet werden immer häufiger genutzt. Nicht selten erscheinen Patientinnen oder Patienten zum ersten Gespräch in meiner Sprechstunde mit einem ganzen Bündel von ausgedruckten Informationen zu ihrer Krankheit und deren Therapiemöglichkeiten.
Gerd Nagel, emeritierter Professor und ehemaliger Leiter der Klinik für Tumorbiologie in Freiburg im Breisgau, spricht in seinem neuen Buch von Patientenkompetenz1. Darunter versteht er nicht nur das Bedürfnis des Patienten nach Information, sondern auch den Wunsch, sich aktiv mit der Erkrankung auseinanderzusetzen, um selbst etwas zum Heilungsvorgang beitragen zu können.
Der innere und der äussere Arzt
In einer Befragung von über 2500 Personen wollte Nagel wissen, ob die Befragten das Ergebnis einer Krebsbehandlung der medizinischen Tumortherapie zuschreiben oder ob sie glauben, dieses Ergebnis hänge sowohl von der Tumortherapie als auch vom Beitrag des Patienten ab. Dabei zeigte sich, dass Patienten und deren Angehörige davon überzeugt sind, dass der Beitrag des Patienten sehr wichtig ist, während Ärzte und Wissenschaftler oft der Meinung sind, allein die korrekte Therapie sei entscheidend. Falls letztere jedoch selbst an Krebs erkrankt sind, fällt die Antwort anders aus: Wer persönlich betroffen ist, glaubt daran, dass Patientinnen und Patienten aktiv etwas zum Heilungsverlauf einer Krankheit beitragen können.
Diese Ansicht kann in folgendem Bild zusammengefasst werden: Wer eine Krankheit bewältigen muss, braucht dazu zwei Ärzte. Der eine ist der äussere, der Dr. med. mit seinen Möglichkeiten, die Krankheit zu therapieren. Der andere Arzt ist der innere, der Patient selbst.
Patientenkompetenz im Wandel der Zeit
Gerd Nagel, der sich in diesem Buch übrigens selbst als Betroffener outet, schildert eindrücklich, wie in den letzten 50 Jahren, die er miterlebt hat, diesbezüglich ein enormer Wandel stattgefunden hat. Zu Beginn seiner Tätigkeit kam es noch oft vor, dass Ärzte ihren Patienten gegenüber nicht einmal die Diagnose mitteilten. Mit der Zeit wird die Information offener, zuerst freilich primär zum Rechtsschutz des Arztes, erst später auch im Sinne eines Mitspracherechts der Patientin, des Patienten. Auch das Einholen einer Zweitmeinung wird nach und nach salonfähig. Schliesslich entwickelt sich die von Nagel beschriebene Patientenkompetenz. Dabei geht es nicht mehr nur um die Beziehung zum äusseren Arzt, sondern um die Beziehung des erkrankten Menschen zu sich selbst, das heisst zu seinem inneren Arzt: Der Patient wird zum „Mitproduzenten“ seiner Gesundheit und trägt dafür Mitverantwortung.
Es zeigt sich also eine Entwicklung weg vom ärztlichen Patriarchat zu einer partnerschaftlichen, dialogischen Beziehung. Immer seltener werden die „Götter in Weiss“, die eine Behandlung einfach verordnen. Immer öfter wird diese im Arzt-Patienten-Gespräch gemeinsam erarbeitet.
Wie so oft, ist etwas angeblich Neues nicht wirklich neu. So auch bei diesem Thema. Schon in früheren Zeiten haben geniale Vorläufer der modernen Ärzteschaft deutlich erkannt, was uns heute fortschrittlich erscheint. (Siehe Zitate von Paracelsus und Hippokrates)
Autonome Patientinnen wissen, was für sie gut ist
Das wachsende Bedürfnis der Patientinnen und Patienten nach mehr Beteiligung steht ausser Zweifel. Trotzdem muss die Frage gestellt werden, ob es Hinweise dafür gibt, dass diese aktive Mitarbeit tatsächlich den Verlauf einer Erkrankung positiv beeinflussen kann oder ob dies nur ein frommer Wunsch ist. Antworten darauf geben die Untersuchungen von Ronald Grossarth-Maticek, Professor aus Heidelberg, die dieser im Hinblick auf die so genannte Selbstregulation gemacht hat. Was ist darunter zu verstehen? Menschen mit guter Selbstregulation sind kurz gesagt solche, die wissen,was für sie gut ist, die auch in schwierigen Situationen fähig sind, Lösungen zu suchen und diese dann auch umzusetzen. Personen mit schlechter Selbstregulation dagegen schauen eher darauf, was andere von ihnen erwarten, versuchen vor allem nicht anzuecken, lassen sich also insgesamt eher treiben, als dass sie das Steuer ihres Lebensschiffs selbst in die Hand nehmen. Die Beobachtung von über 10 000 Krebspatienten zeigte, dass der Krankheitsverlauf – in allen Stadien der Erkrankung und bei allen Arten von Therapien – besser war bei den Patienten mit guter Selbstregulation als bei denjenigen mit schlechter Selbstregulation.
Selbstregulation kann trainiert werden
Grossarth-Maticek ging sogar noch einen Schritt weiter. Er hat einen Teil der Patientinnen und Patienten mit eher schlechter Selbstregulation in einem so genannten „Autonomietraining“2 behandelt, wo sie dank einer Gesprächstherapie zu einer besseren Selbstregulation gelangten. Und er hat dann festgestellt, dass auch diese „Trainierten“ dadurch eine bessere Prognose bekommen haben. Der Grad der Selbstregulation ist also nicht einfach etwas Unabänderliches, Schicksalhaftes, sondern etwas, das wir entwickeln können.
Unvergessen bleibt mir der Patient, der sich nach einer Reise durch die halbe Schweiz auf unserer Notfallstation gemeldet hat. Er brachte sein Röntgenbild mit, worauf die Lungenentzündung klar zu sehen war und fragte, ob wir diese ohne Antibiotika behandeln könnten. Ich bejahte und stellte klar, dass er dazu im Spital bleiben müsse. Als er das ablehnte, wollte ich die Verantwortung zuerst nicht übernehmen; wir haben uns dann aber darauf geeinigt, dass er jeden zweiten Tag vorbeikommt. Als sich dann noch herausstellte, dass er HIV positiv war, habe ich ihm erklärt, in diesem Falle brauche er trotzdem Antibiotika. Und er erklärte darauf ebenso überzeugt, wenn sein Überleben nur von Antibiotika abhänge, dann könne er gut darauf verzichten. Unter enger Beobachtung haben wir es darauf gewagt, ausschliesslich mit Anthroposophischen Medikamenten zu behandeln, und ich bin überzeugt davon, dass ein wesentlicher Faktor für den guten Ausgang die innere Haltung des Patienten war.
Eigenaktivität gehört in der Anthroposophischen Medizin dazu
In einer Anthroposophischen Medizin, die den Menschen als Individualität betrachtet, gehört die aktive Mitarbeit der Patientin, des Patienten von Anfang an dazu. Von Ita Wegman, die zusammen mit Rudolf Steiner die Anthroposophische Medizin begründet hat, ist die Aussage überliefert: „Die Therapie bewegt sich immer zwischen der Vorstellung des Arztes und dem Wunsch des Patienten“.
Rudolf Steiner hat am 7. April 1920 in Dornach einen Vortrag mit dem Titel „Die Hygiene als soziale Frage“3 gehalten. Er stellt fest, dass auf dem Gebiet des Gesundheitswesens alles noch viel zu sehr auf Autorität beruhe und fordert, dass dies, wie in anderen Bereichen des Lebens auch, durch ein demokratischeres Verständnis abgelöst werden müsste. Einen Tag zuvor hat Rudolf Steiner im 17. Vortrag des Vortragszyklus „Geisteswissenschaft und Medizin“4 vor Ärzten am Beispiel einer Diät konkret gezeigt, dass es ein Unterschied ist, ob dieselbe Therapie von einem Arzt einfach verordnet worden ist oder ob der Patient sie, eventuell unter Anleitung des Arztes, selber gefunden und für richtig befunden hat. Rudolf Steiner betont, dass die kurzfristige Wirkung dieselbe sein werde, aber langfristig sei es ein wesentlicher Unterschied insofern, als dass das aktive Mitarbeiten dazu beitrage, im Alter geistig beweglicher zu bleiben.
Und die Eigenaktivität des Patienten soll sich, wie Rudolf Steiner ebenfalls in „Die Hygiene als soziale Frage“ ausführt, keinesfalls darauf beschränken, dass man an den Arzt nur denkt, „wenn einem etwas weh tut oder wenn man sich das Bein gebrochen hat“, sondern dass man sich mit ihm auch in lebendigem Austausch befindet hinsichtlich prophylaktischer, gesundheitserhaltender Massnahmen.
Literatur:
1 „Was kann ich selbst für mich tun. Patientenkompetenz in der
modernen Medizin“, Annette Bopp, Delia Nagel und Gerd Nagel,
Verlag Rüffer&Rub 2005
2 „Autonomietraining. Gesundheit und Problemlösung durch Anregung der Selbstregulation“, Ronald Grossarth-Maticek,
Verlag de Gruyter 2000
3 „Die Hygiene als soziale Frage“, Rudolf Steiner, GA 312,
Rudolf Steiner Verlag 1999
4 „Geisteswissenschaft und Medizin“, Rudolf Steiner, GA 314,
Rudolf Steiner Verlag 1987
Fachperson | Dr. med. Stefan Obrist |
Arbeitsschwerpunkte | Dr. med. Stefan Obrist ist Facharzt für Innere Medizin FMH und arbeitet seit gut zehn Jahren am Paracelsus-Spital Richterswil, seit 2006 als Mitglied der Ärztlichen Leitung Innere Medizin. Er ist verheiratet und Vater von fünf Kindern im Alter von 9 bis 18 Jahren. |
Kontakt | stefan.obrist@paracelsus-spital.ch |