Was das Wasser uns erzählen will

Ich lie­ge im hohen Gras einer som­mer­lich blü­hen­den Wie­se, Schmet­ter­lin­ge umflat­tern mei­nen Kopf, eif­ri­ge Bie­nen sum­men nek­tar­sam­melnd von Blü­te zu Blü­te. Die Vögel sin­gen im nahen Wald, an des­sen Rand ein Hirsch ent­lang­pirscht, voll gespann­ter Wach­heit auf das Gesche­hen um ihn her­um. Ich selbst ver­su­che, in mei­nen Sin­nen wach zu sein, füh­le die Feuch­te der Erde, ertas­te die hoch auf­ge­rich­te­ten Hal­me des Gra­ses, über mir zie­hen die hohen Wol­ken­schif­fe dahin – und plötz­lich wird mir deut­lich, dass es das Was­ser ist, das all die man­nig­fal­ti­gen For­men des Lebens um mich her­um mög­lich macht.

Das Was­ser dient allem Leben, dem Boden, den Pflan­zen, den Tie­ren und schliess­lich auch der Quint­essenz der Schöp­fung: dem Men­schen. Vom ein­fachs­ten Vor­gang bis zum höchst kom­ple­xen, weit ver­zweig­tes­ten Pro­zess – es macht alles mög­lich. Es dient allen leben­den Wesen in all ihrer Viel­falt. Aber ist es nun nicht auch so, dass die­ser For­men­reich­tum nur mög­lich ist, weil das Was­ser in sich die Fähig­keit viel­fäl­ti­ger und kom­ple­xes­ter Bewe­gun­gen hat, die zur Natur, zum Begriff von „Flies­sen“ gehö­ren?

Wir wol­len eini­ge der Bewe­gungs­mus­ter, denen das Was­ser folgt, genau­er betrach­ten. Dazu müs­sen wir uns see­lisch anders stim­men, als wir es im All­tag gewohnt sind, wo Ant­wor­ten oft als Ergeb­nis eines ana­ly­ti­schen Pro­zes­ses erschei­nen. Wir müs­sen tas­ten, lau­schen, ein­schwin­gen, so als wenn
wir zum ers­ten Mal einem Men­schen begeg­nen. Wir wol­len hören, was das Was­ser uns erzäh­len will. Wir müs­sen ihm inner­lich Raum geben, damit es uns sei­ne Geschich­te erzäh­len kann, in sei­ner Spra­che.

Wie Was­ser und das Leben sich bewe­gen

Die Art der Bewe­gung des Was­sers ver­rät sein Wesen. Stel­len wir uns einen Fluss vor. Dann neh­men wir in die­sem Bild für einen Moment das Was­ser weg und schau­en nur die Bewe­gung des Flies­sens. Ver­su­chen wir, uns inner­lich das Flies­sen vor­zu­stel­len, befreit von sei­ner phy­si­ka­li­schen Sub­stanz, eine Bewe­gung, die nicht mehr mit Sub­stanz gefüllt ist.

Das Reich der Bewe­gung ist ein Meer aus zusam­men­lau­fen­den Bewe­gun­gen ver­schie­dens­ter Art in alle Rich­tun­gen und mit allen vor­stell­ba­ren Kräf­ten, aber es ist ein Reich von Bewe­gung, das sich noch nicht im Phy­si­ka­li­schen mani­fes­tiert. Es ist das Reich aller Mög­lich­kei­ten.

Und nun stel­len wir uns einen Strom vor, wie er von links nach rechts fliesst. Er hat zwar einen Anfang, der ist aber nicht sicht­bar, und auch sein Ende ist nicht sicht­bar. So vor uns in den Raum aus­ge­brei­tet ist er nicht bestimmt durch einen Anfangs- oder End­punkt. Er ist: ste­tes Flies­sen.

Stel­len wir uns in die­sem Flies­sen einen ruhen­den Punkt vor. Stel­len wir uns wei­ter vor, die­ser ruhen­de Punkt sei ein Pflan­zen­sa­men. Nun bricht der Same auf, der Wur­zel­keim spriesst her­vor und strebt in Rich­tung Erd­mit­tel­punkt. Im wei­te­ren Ver­lauf ent­wi­ckelt sich der Pflan­zen­keim­ling nach oben, ent­fal­tet Blatt auf Blatt bis zu einem Moment, an dem die­ses vege­ta­ti­ve Wachs­tum wie an eine Gren­ze stösst, als ob eine Stim­me sagt: „Halt, hier fängt etwas Neu­es an!“ Sodann beob­ach­ten wir eine voll­kom­men ande­re Ges­te, die Knos­pe formt sich. Unter dem Ein­fluss von Wär­me und Licht der Son­ne ent­fal­tet sich die Blü­te in all ihrer Pracht. Sie wird befruch­tet. Die Rei­fung beginnt, ein Höhe­punkt und Abster­be­pro­zess zugleich, an des­sen Ende wie­der­um der Same steht, als die kleins­te wie in einem Punkt zusam­men­ge­zo­ge­ne Form der äus­se­ren Pflan­ze.

Wenn wir die­ses Bild vor unse­rem geis­ti­gen Auge leben­dig hal­ten und uns fra­gen, was da eigent­lich vor sich geht um die­sen Samen her­um, so wer­den wir gewahr, dass die Ganz­heit der Form sich in der Zeit ent­fal­tet. Ein sich fort­wäh­rend erneu­ern­der Wer­de­pro­zess ist das zen­tra­le Gesche­hen. Es sind die For­men, die sich stets ändern.

Das Bestän­di­ge im Pro­zess die­ses ste­ti­gen Flies­sens ist die Mög­lich­keit, andau­ernd die Form zu ändern. Die ein­zel­ne Form, zu einem bestimm­ten Zeit­punkt, offen­bart sich nur in die­sem Augen­blick in einem Zustand „erfüll­ter Ruhe“. Schon im nächs­ten Moment ist sie anders – und so steht sie im sich stän­dig erneu­ern­den Fluss des Lebens.

Der auf­stei­gen­de Ring­wir­bel

Wir fül­len ein Aqua­ri­um mit Was­ser. In das Aqua­rium hal­ten wir ein Glas­röhr­chen in der Form eines J, wel­ches mit gefärb­tem Was­ser bis auf die Höhe des Was­sers im Aqua­ri­um gefüllt ist. Dann fügen wir etwas Was­ser zu dem Glas­röhr­chen hin­zu. Auf der ande­ren Sei­te des Röhr­chens erscheint ein auf­stei­gen­der Ring­wir­bel, der dann gegen die Ober­flä­che des Was­sers stösst. Im Fol­gen­den ist eine Serie von wun­der­schö­nen meta­mor­pho­sie­ren­den For­men zu sehen.

Die Bewe­gungs­for­men zei­gen, dass sie geord­net sind, flies­send und fle­xi­bel, wäh­rend sie über­gangs­los fort­schrei­ten vom ein­fa­chen auf­stei­gen­den Wir­bel zu sehr kom­ple­xen Kon­fi­gu­ra­tio­nen. Es zeigt sich ein Sys­tem, eine Ant­wort auf der Basis von ord­nen­den, orga­ni­sie­ren­den Prin­zi­pi­en. Durch die Bewe­gung drückt sich die Fähig­keit des Was­sers aus, For­men zu bil­den. Es ist „offen“ für alle Mög­lich­kei­ten.

Ruhen­de Ober­flä­che

Wenn wir ein Gefäss mit Was­ser fül­len und dann das Gefäss etwas kip­pen, bleibt das Was­ser hori­zon­tal im Gegen­satz zum fes­ten Behäl­ter (sie­he Abbil­dung 2). Das Was­ser bewahrt sein Ver­hält­nis zum Hori­zont. Das trifft zu für alle Was­ser­ober­flä­chen, über die gan­ze Erde hin. Die Ober­flä­che ist eine gros­se Ein­heit. Man bekommt den Ein­druck, Teil von etwas viel Grös­se­rem zu sein.

Ruhen­des Was­ser fügt sich in jede Form, in die es gege­ben wird und umgibt jede Form, die in das Was­ser getan wird. Es ist selbst­los; es wider­ruft sei­ne eige­nen for­men­den Kräf­te, wenn es ruhend ist.

Autoren114

Fach­per­son Jen­ni­fer Gree­ne
Arbeits­schwer­punk­te Water Rese­arch Insti­tu­te of Blue Hill (Mai­ne, USA), führt inter­na­tio­na­le
Work­shops zur Was­ser­qua­li­tät durch und hielt Vor­trä­ge am Welt Was­ser Forum in Den Hag (2000) und in Kyo­to (2003).
Sie arbei­tet der­zeit
an einer Film­se­rie
„Was­ser, die Spra­che der Natur“. Wei­te­re Betä­ti­gungs­fel­der sind
Kon­fe­ren­zen zur Was­ser­po­li­tik, wobei sie sich
an den dem Was­ser
inne­woh­nen­den
Qua­li­tä­ten ori­en­tiert.
Kon­takt jgreene@waterresearch.org

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