
Wenn wir abends zu Bett gehen, geraten wir in einen veränderten Bewusstseinszustand, der einige Stunden dauert. Wir sehen, hören und fühlen dabei nicht mehr bewusst, was um uns herum vorgeht. Diesen Zustand nennen wir Schlaf. Die Welt des Schlafens und des Wachens sind so verschieden, dass man sagen könnte, jeder von uns lebe in zwei Welten.
„Süsser Schlaf! Du kommst wie ein reines Glück ungebeten, unerfleht am willigsten.
Du lösest die Knoten der strengen Gedanken, vermischest alle Bilder der Freude und des Schmerzes,
ungehindert fliesst der Kreis innerer Harmonien, und eingehüllt in gefälligen Wahnsinn,
versinken wir und hören auf zu sein.“
Johann Wolfgang von Goethe
Für die meisten Menschen ist der Schlaf so selbstverständlich, dass sie über seine Entstehung und seinen Sinn kaum nachdenken. Erst wenn er gestört ist, rückt der Schlaf ins Bewusstsein und wird zu einem „Problem“.
Schlafstörungen gehören heute zu den häufigsten Beschwerden in einer hausärztlichen Praxis. Gemäss grossen Studien sind diese bei 10–15% der Bevölkerung so ausgeprägt, dass Therapiebedarf besteht. Auch wenn Gesundheit und Leben zunächst nicht akut bedroht sind, so beeinträchtigen Schlafstörungen das Wohlbefinden und die Lebenskraft erheblich.
Was ist der Sinn des Schlafes?
Es ist erstaunlich, dass die naturwissenschaftliche Forschung bisher keine befriedigende Antwort auf diese scheinbar so einfache Frage hat. Geht es wirklich um „physische Regeneration?“, um „Energieeinsparung?“, um “seelische Verarbeitung der Tagesereignisse?“ Das sind alles nur Teilaspekte mit manchmal überraschend geringer Bedeutung. Zum Beispiel entspricht die Energieeinsparung beim Menschen durch den Schlaf dem Wert von gerade mal zwei Erdnüssen!
Nahezu ein Drittel unseres Lebens verschlafen wir sprichwörtlich – und wir wissen nicht warum. Die Schlafforschung ist eine vergleichsweise junge Wissenschaft, sie begann nach der Entdeckung der elektrischen Hirnströme etwa in der Mitte des
20. Jahrhunderts. Im Vergleich mit anderen „objektiven“
Wissenschaften hat sie ein ganz besonderes Problem: der Gegenstand ihres Interesses liegt buchstäblich im Dunkeln.
Fazit des prominenten Schlafforschers Alexander Borbély: „…in der Schlafforschung geht es nicht nur um Entdecken, Verstehen und Kontrollieren. Bei seinen Versuchen ist der Schlafforscher mit einem grundlegenden, umfassenden Lebensvorgang in Kontakt. Nacht für Nacht dem Schlaf zu begegnen, der so selbstverständlich erscheint und von dessen
wirklichem Verständnis wir noch so weit entfernt sind, mahnt zu Bescheidenheit.“
Der Mensch ist ein Bürger zweier Welten
Die einfache Beobachtung zeigt: Im Bett liegt ein Mensch ohne Zeichen von Bewusstsein. Gelegentlich kann man sich wirklich
fragen: Lebt dieser Mensch noch? Man denke an Shakespeares
Romeo und Julia! Der schlafende Mensch ist aber kein Toter, dessen Körper sich auflöst, sondern ein Lebendiger, dessen Körper sich regeneriert. Wo genau ist denn dieser Mensch?
Die Erkenntnisse der messenden, um Objektivität bemühten Forschung geben uns nur Auskunft über den im Raum sichtbaren Körper, ihre Angaben über „Leben“ oder „Seele“ dieses Menschen haben nur den Charakter von mehr oder weniger begründeten Mutmassungen, sie sind nicht auf Beobachtung begründet.
Am Beispiel eines sogenannten Schlafprofils lässt sich anschaulich zeigen, wie trotz der auch historisch bedingt so verschiedenen Begriffswelten der modernen Naturwissenschaft und der Anthroposophie ein Sinn stiftender Dialog
entstehen kann.
Im Schlaflabor werden kontinuierlich viele körperliche Funktionen aufgezeichnet wie Hirnströme, Körperbewegungen, Augenbewegungen, Atmung, Herzschlag. Vereinfachend lässt sich feststellen, dass der Schlaf demnach ein in sich rhythmisch gegliederter Prozess ist, der aus zwei gegenläufigen Tendenzen zusammengesetzt ist. In der ersten Nachthälfte dominieren offenbar traumlose Schlafphasen wechselnder Tiefe („Schlaftreppe zum Tiefschlaf“). In der zweiten Hälfte überwiegen intensive Traumphasen, die von heftigen Augenbewegungen begleitet sind (die REM-Phasen, benannt nach rapid eye movement), während die Körpermuskulatur vollkommen schlaff ist. Herzschlag und Atmung werden unregelmässiger, eine intensive Aktivität des vegetativen Nervensystems ist zu beobachten.
Im Tiefschlaf sind menschliche Rhythmen musikalisch
Die faszinierenden Beobachtungen der Schlaf- und Rhythmusforscher werden eigentlich erst dann verständlich, wenn man eine Gliederung des Menschenwesens in Physisches und Lebendiges einerseits und Bewusstsein und steuerndes Ich andererseits sowie deren rhythmisch wechselnden Funktionszusammenhang in Betracht zieht. Diese Vierheit der menschlichen Wesensglieder macht den Schlaf im Zusammenklang mit der Dreigliedrigkeit von Nerven-Sinnes-System, Rhythmischem System und Stoffwechsel-Gliedmassen-System zu einem sehr differenzierten Phänomen. Dabei sind wir Menschen im Tiefschlaf einander viel ähnlicher als im Wachzustand. Das bestätigt auch die Rhythmusforschung, die für den Tiefschlaf etwas ganz Erstaunliches beobachtet hat: Die Verhältnisse vieler Rhythmen wie Herzfrequenz, Atemfrequenz, Blutdruckschwankungen werden sozusagen musikalisch! Einfache ganzzahlige Verhältnisse wie 1:4 bei Atmung:Herzschlag lassen sich dann bei allen Menschen beobachten.
Der ausgleichende Aufbau im Schlaf
Der Schlafzustand ist für den Menschen eine Lebensnotwendigkeit, denn das tagwache Erleben in bewusster Sinneswahrnehmung führt zu einem organischen Substanzabbau des menschlichen Körpers. Der Wieder-Aufbau wird erst im Schlafzustand möglich, indem der menschliche Astralleib sich von dem lebensdurchdrungenen Körper (physisch-ätherische Körperlichkeit) löst, sich wieder der kosmischen Quelle der Gestaltbildung eingliedert und sich dadurch befähigt, an der menschlichen Physis von aussen formend und harmonisierend wirken zu können.
Betrachten wir vor diesem Hintergrund die beiden im Schlafprofil erkennbaren Tendenzen, so können wir sagen: In den Tiefschlafphasen dominiert die Signatur des Lebensleibes (Ätherleib) mit seinen harmonisierenden, aufbauenden Kräften. In den REM-Phasen erkennen wir in der zweiten Nachthälfte die an Intensität und Dauer zunehmenden Zeichen
der erneuten Verbindung von Bewusstsein (Astralleib) und Ich mit Lebensleib und Physis in der Tendenz zu mehr individuellen und disharmonischen Mustern. Einschlafen und Aufwachen sind also ineinander verwobene Prozesse. Der Mensch ist schlafend eine Zweiheit! Das Aufwachen beginnt im Grunde schon gegen 3 Uhr in der Nacht. Insofern hat der Spruch etwas Wahres: “der Schlaf vor Mitternacht ist der beste“, wenngleich man hier gewisse individuelle Unterschiede machen muss zwischen sogenannten „Lerchen“(Frühaufsteher) und „Eulen“(Nachtmenschen).
Müde werden als Zeichen verstehen
Das Phänomen der Ermüdung zeigt uns an, dass die gestaltenden Kräfte des Astralleibes auf den Ätherleib
allmählich verbraucht sind und dass wir wieder zu unseren Quellen zurückwollen und müssen. Körperlich zeigt sich das am augenfälligsten im Wechsel der Haltung: von der Aufrechten des Tagesmenschen in die Waagerechte des Nachtmenschen.
Andererseits muss der Schlaf wieder aufhören. Wir müssen aufwachen, wenn die Nachwirkungen unserer Bewusstseins- und Ich-Tätigkeit aus dem Tageserleben in unserem physischen und Lebensleib zu verdämmern beginnen, wenn wir uns sozusagen zu verlieren drohen.
Der Schlaf kann als Grundlage der geistig-seelischen Entwicklung verstanden werden, aber auch als Basis für krankmachende Tendenzen. Er ist das beste Heilmittel, wenn er gerade so lange dauert, wie für die betreffende Individualität in der jeweiligen Situation notwendig.
Gesunder Schlaf fördert das Gedächtnis
Erinnerung sichert die Kontinuität unseres Wesens. Ohne sie
hätten wir keinen Zusammenhang mit unserer Vergangenheit.
Oft wird übersehen, dass Erinnerung durch Übung erlernt werden muss.
Ohne ausreichenden, gesunden Schlaf sind die Fähigkeiten
Lernen und Gedächtnis bald gestört. Das zeigen Experimente mit Schlafentzug, das zeigt aber auch die Alltagserfahrung. Gedächtnis umfasst hier durchaus auch unser Immungedächtnis, die Grundlage unserer körperlichen Integrität.
REM-Schlaf und Non-REM-Schlaf haben dabei offenbar
verschiedene Aufgaben. Während der Tiefschlafphasen der ersten Nachthälfte werden unsere begrifflichen (deklarativen) Gedächtnisinhalte zum Beispiel beim Erlernen einer Fremdsprache befestigt, in den REM-Traumphasen der zweiten Nachthälfte die eher instrumentellen (nicht-deklarativen) Fähigkeiten, zum Beispiel Velofahren, Klavierspielen, Jonglieren.
Unsere Wahrnehmungen und Vorstellungen aus dem Tagesgeschehen müssen allerdings verdaut werden, um wirklich zu unserem Innersten gehören zu dürfen, um Er-Innerung zu werden. Sonst können sie uns krank machen, zu Zwangsvorstellungen werden und uns unfrei machen. Diesem Verdauungsvorgang dient das Vergessen. „Was für den physischen Leib der Tod, für den Ätherleib der Schlaf, das ist für den Astralleib das Vergessen. Man kann auch sagen: dem Ätherleib sei das Leben eigen, dem Astralleib das Bewusstsein und dem Ich die Erinnerung.“ Rudolf Steiner in „Geheimwissenschaft im Umriss“.
Auch das Vergessen ist eine notwendige Fähigkeit
Vergessen ist die Voraussetzung, Neues lernen zu können!
Es ist eine Fähigkeit, die es dem Menschen erlaubt, “wie neugeboren“ jeden Morgen der Welt begegnen zu können.
Das Geheimnis von Tod und Auferstehung ist verbunden mit dem Geheimnis des Schlafes und des Vergessens. Im Vergessen
gewinnen wir Freiheit. Der verantwortungsvolle Umgang mit dieser Dimension des Vergessens ist vor allem in der Psychotherapie und der Seelsorge von grosser Tragweite. Das Verzeihen, auch sich selbst gegenüber, ist der Boden für einen wirklichen Neubeginn.
Wunderbar hat Matthias Claudius diese Weisheit ausgedrückt in „Der Mond ist aufgegangen…“, wenn es heisst „Wie ist die Welt so stille und in der Dämmrung Hülle so traulich und so hold! Als eine stille Kammer, wo ihr des Tages Jammer
verschlafen und vergessen sollt.“
Entschlusskraft aus der Nacht
„Der heutige Mensch kann überhaupt keine vernünftigen Entschlüsse fassen, …wenn er nicht morgens früh schon mit ihnen aufwacht.…Heilig sollte daher für den heutigen
Menschen der Moment des Aufwachens sein, weil er
empfinden sollte: Ich komme heraus aus der geistigen Welt, ich trete in die physische Welt ein. Und alles Gute, was mich fähig macht, ein vernünftiger Mensch zu sein, habe ich durch den Verkehr mit der geistigen Welt vom Einschlafen bis zum Aufwachen.“ So formulierte es Rudolf Steiner in „Der innere Aspekt des sozialen Rätsels“.
Die Lebensweisheit, wichtige Entscheidungen im Leben noch einmal zu überschlafen, gilt nicht nur für die einzelne
Individualität selbst, sondern für den ganzen sozialen Zusammenhang.
Fachperson | Dr. med. Gerd Löbbert |
Arbeitsschwerpunkte | Facharzt Innere Medizin FMH und Psychosomatische und Psychosoziale Medizin (SAPPM). Seit 10 Jahren an der Ita Wegman Klinik als leitender Arzt, vorwiegend internistische Sprechstundentätigkeit mit Schwerpunkt Psychosomatik. Verantwortlich für die Ultraschalldiagnostik an der Klinik. |
Kontakt | gerd.loebbert@wegmanklinik.ch |