Auf den Spuren der Geschichte der Psychosomatik

Die Geschich­te der Psy­cho­so­ma­tik reicht bis ins anti­ke Grie­chen­land zurück, an den Beginn der phi­lo­so­phi­schen Refle­xi­on des Men­schen über sich selbst. Schon Pla­ton und Aris­to­te­les ­beschäf­tigt die Fra­ge nach dem Ver­hält­nis von See­le und ­Kör­per sowie die Qua­li­tät die­ser bei­den Enti­tä­ten. Aber nicht nur in der Phi­lo­so­phie, son­dern auch in der Medi­zin sind sol­che Aus­ein­an­der­set­zun­gen von grund­le­gen­der Bedeu­tung.
Dr. med. Felix Schir­mer beleuch­tet anhand der His­to­rie der Psy­cho­so­ma­tik deren Wesen näher.

Das ist der gröss­te Feh­ler bei der Behand­lung von Krank­hei­ten, dass es Ärz­te für den Kör­per und Ärz­te für die See­le gibt, wo bei­des doch nicht getrennt wer­den kann.” (Pla­ton)

Im 20. Jahr­hun­dert ent­wi­ckeln sich zwei pola­re Anschau­un­gen inner­halb der Medi­zin. Einer­seits ver­zeich­net die kör­per­be­zo­ge­ne, natur­wis­sen­schaft­li­che Medi­zin in Chir­ur­gie, Infek­tio­lo­gie und den intern­me­di­zi­ni­schen Erkran­kun­gen gros­se Fort­schrit­te, ande­rer­seits gewinnt auch eine vor­nehm­lich psy­cho­lo­gi­sche Anschau­ung, aus­ge­hend von Freud und Jung, immer stär­ker an Gewicht. Aus der Psy­cho­ana­ly­se ent­wi­ckeln sich in den fol­gen­den Jahr­zehn­ten vie­le psy­cho­the­ra­peu­ti­sche Rich­tun­gen.

Ist Krank­heit psy­chisch oder soma­tisch bedingt?

Die jün­ge­re Geschich­te der Psy­cho­so­ma­tik beginnt nach dem 2. Welt­krieg. Einer der Pio­nie­re ist Franz Alex­an­der, der aus psy­cho­ana­ly­ti­scher Sicht eine ers­te Klas­si­fi­ka­ti­on psy­cho­so­ma­ti­scher Erkran­kun­gen auf­stell­te, die als „holy seven“ in die medi­zi­ni­schen Geschichts­bü­cher ein­gin­gen. Bei die­sen sie­ben Krank­heits­bil­dern – Asth­ma bron­chia­le, arte­ri­el­le Hyper­to­nie, Hyper­t­hy­reo­se, rheu­ma­ti­sche Arthri­tis, Neu­ro­der­ma­ti­tis, Ulcus-Erkran­kun­gen, Darm­ent­zün­dun­gen – ver­such­te Alex­an­der psy­chi­sche Gesetz­mäs­sig­kei­ten, die ursäch­lich zu die­sen Erkran­kun­gen füh­ren, zu beschrei­ben und so eine Brü­cke zu fin­den zwi­schen psy­chi­schen und kör­per­li­chen Phä­no­me­nen. Durch die wei­te­ren Ent­wick­lun­gen und For­schun­gen ergab sich jedoch, dass die Ein­gren­zung auf die­se Erkran­kun­gen zu aus­schliess­lich ist. Vie­le ande­re Krank­heits­bil­der wur­den in der Fol­ge unter das Eti­kett „psy­cho­so­ma­tisch“ gestellt, wie funk­tio­nel­le Stö­run­gen, chro­ni­sche Schmerz­stö­run­gen, Schlaf­stö­run­gen, Krebs­er­kran­kun­gen, Auto­im­mun­erkran­kun­gen usw. Ja, man kam zur Fra­ge, ob nicht eigent­lich alle Erkran­kun­gen als „psy­cho­so­ma­tisch“ anzu­se­hen sind, wobei „psy­cho­so­ma­tisch“ oft als „psy­chisch bedingt“ inter­pre­tiert wur­de und einen abwer­ten­den Bei­klang bekam.

Brü­cke zwi­schen kör­per­li­chen und see­li­schen Pro­zes­sen?

Aus den For­schungs­re­sul­ta­ten der Neu­ro­wis­sen­schaf­ten ergab sich ein wei­te­rer Schritt in der Ent­wick­lung der ­Psy­cho­so­ma­tik. Immer deut­li­cher stell­te sich her­aus, dass jeder Vor­gang auf der kör­per­li­chen Ebe­ne von einem psy­chi­schen Pro­zess beglei­tet ist, aber auch umge­kehrt führt jeder psy­chi­sche Vor­gang zu kör­per­lich mess­ba­ren Phä­no­me­nen. So konn­te zum Bei­spiel nach­ge­wie­sen wer­den, dass psy­cho­the­ra­peu­ti­sche Inter­ven­tio­nen zu Ver­än­de­run­gen der Neu­ro­trans­mit­ter-Aus­schüt­tung füh­ren und über eine län­ge­re Zeit sogar zu struk­tu­rel­len Ver­än­de­run­gen des Gehirns.

Auch regel­mäs­si­ges Musi­zie­ren führt zu ana­to­mi­schen Ver­än­de­run­gen des Gehirns in Form von neu­en Ver­bin­dun­gen zwi­schen den Ner­ven­zel­len (sog. Plas­ti­zi­tät des Gehirns).
Eben­falls wur­de bes­ser erforscht, wie die see­li­sche Befind­lich­keit durch die kör­per­li­chen Vor­gän­ge beein­flusst wird, dass bei­spiels­wei­se chro­ni­sche Schmer­zen zu Depres­sio­nen füh­ren oder dass nach einem Herz­in­farkt unge­fähr ein Drit­tel der Betrof­fe­nen eine soge­nann­te post­trau­ma­ti­sche Belas­tungsstörung auf­weist. Auf­grund die­ser neu ent­deck­ten Zusam­men­hän­ge wur­de es immer frag­würdiger, nur ein­zel­ne Krank­heits­bil­der mit dem Begriff „psy­cho­so­ma­tisch“ zu bezeich­nen.
Auch fehlt bis heu­te die Erkennt­nis über die „Brü­cke“ ­zwi­schen psy­chi­schen und kör­per­li­chen Pro­zes­sen. Wie kön­nen Pro­zes­se des Psy­chi­schen die Mate­rie und wie kön­nen kör­per­li­che Vor­gän­ge die Psy­che beein­flus­sen?
Die natur­wis­sen­schaft­li­che Medi­zin spe­zia­li­sier­te sich dar­auf, die mate­ri­el­len Pro­zes­se des Men­schen zu erfor­schen. Sie konn­te alles Mess-, Zähl- und Wäg­ba­re immer genau­er erfas­sen. Im Zuge der gros­sen Fort­schrit­te die­ser Medi­zin ent­wi­ckel­te sich eine reduk­tio­nis­ti­sche Auf­fas­sung des Men­schen: Man sah das Ursäch­li­che in den mate­ri­el­len Vor­gän­gen und die psy­chi­schen Pro­zes­se ledig­lich als „Epi­phä­no­me­ne“ die­ser kör­per­li­chen Pro­zes­se. Auf der ande­ren Sei­te pos­tu­lier­ten die Anhän­ger der psy­cho­lo­gi­schen Betrach­tungs­wei­se das Pri­mat der psy­chi­schen Vor­gän­ge, wel­che auf unge­klär­te Art und Wei­se das Kör­per­li­che steu­ern. Bei­den Rich­tun­gen ist es aber bis anhin nicht gelun­gen, die Kluft zwi­schen dem Mate­ri­el­len, Quan­ti­ta­ti­ven, und dem Psy­chi­schen, Qua­li­ta­ti­ven, zu über­brü­cken.

Im Mit­tel­punkt der Mensch

Wegen die­ser Schwie­rig­kei­ten, „Psy­cho­so­ma­tik“ an ein­zel­nen Krank­heits­bil­dern fest­zu­ma­chen, hat sich eine ande­re Auf­fas­sung ent­wi­ckelt, die sich mehr auf die Metho­dik der Psy­cho­so­ma­tik bezieht.
Grund­ele­ment jeder ärzt­li­chen Tätig­keit ist das Gespräch und die Bezie­hung zwi­schen Pati­ent und Arzt (in der männ­li­chen Form ist immer auch die weib­li­che mit ein­be­zo­gen). Bei der Ana­mne­se wer­den einer­seits die objek­ti­ven Fak­ten des Krank­heits­ge­sche­hens erfragt, ande­rer­seits soll­te das sub­jek­ti­ve Erle­ben des Pati­en­ten zur Dar­stel­lung kom­men. Es ist Teil der ärzt­li­chen Kunst und zugleich eine inte­gra­ti­ve Auf­ga­be, die ver­schie­de­nen Ebe­nen mit­ein­an­der in Zusam­men­hang zu brin­gen. So kann die indi­vi­du­el­le Art die­ses betref­fen­den Men­schen, mit sei­ner Krank­heit umzu­ge­hen, erfragt wer­den und gleich­zei­tig als Aus­gangs­punkt die­nen, um die geeig­ne­te The­ra­pie zu fin­den.

Doch nicht nur der Pati­ent, auch der Arzt ist indi­vi­du­ell! Wäh­rend in der natur­wis­sen­schaft­lich ori­en­tier­ten Medi­zin in der For­schung mit geeig­ne­ten Stu­di­en­de­signs ver­sucht wird, den „Fak­tor Arzt“ aus­zu­schal­ten, ist in der psy­cho­so­ma­ti­schen Medi­zin die­ser Fak­tor ganz wich­tig und auch für den Erfolg einer Arzt-Pati­en­ten-Bezie­hung und einer The­ra­pie aus­schlag­ge­bend. So wird Psy­cho­so­ma­tik nicht zu einem Spe­zi­al­fach für schwie­ri­ge und nicht genü­gend erklär­ba­re Krank­heits­bil­der, son­dern zur Basis eines jeg­li­chen Fachs der Medi­zin. Damit ver­bun­den ist ein ste­tes Sich-Schu­len des Arz­tes in der Gesprächs­füh­rung und in der Selbst­re­fle­xi­on, aber auch in dem Bemü­hen um einen mög­lichst umfas­sen­den Ein­be­zug aller für das Ver­ständ­nis der jewei­li­gen Krank­heits­si­tua­ti­on wich­ti­gen Fak­to­ren wie der bio­gra­phi­schen Ent­wick­lung des Pati­en­ten, sei­ner sozia­len Situa­ti­on, sei­ner Fähig­kei­ten und Res­sour­cen.
Somit wird das the­ra­peu­ti­sche Gespräch zum zen­tra­len Ort der The­ra­pie. Hier ent­steht der geschütz­te Raum, in dem Platz ist für die Ein­sich­ten, aber auch für die Gefüh­le des Pati­en­ten, die in viel­leicht unbe­wuss­ter Wei­se am Krank­heits­ge­sche­hen mit­be­tei­ligt sind. Hier ist qua­si die Werk­statt, in der auch Ände­run­gen und neue Ver­hal­tens­wei­sen bespro­chen und erprobt wer­den kön­nen.
Damit wird deut­lich, dass Psy­cho­so­ma­tik immer auch eine gesell­schaft­li­che Auf­ga­be in der heu­ti­gen Medi­zin hat. Sie setzt sich ein für eine indi­vi­dua­li­sier­te, men­schen­ge­mäs­se Medi­zin, wo der Pati­ent nicht als „Fall­pau­scha­le“ in Erschei­nung tritt, son­dern als Indi­vi­du­um, wel­ches auch in der Pha­se des Krank­seins ein mög­lichst hohes Mass an Ein­sicht und Eigen­ver­ant­wor­tung im Umgang mit der Krank­heit wahr­neh­men soll.

Autoren28

Fach­per­son Dr. med. Felix Schir­mer, Fach­arzt für all­ge­mei­ne Medi­zin FMH
Arbeits­schwer­punk­te Medi­zin­stu­di­um in Basel; Assis­tenz­zeit in ver­schie­de­nen schul­me­di­zi­ni­schen Kli­ni­ken sowie an der Ita Weg­man Kli­nik und Lukas Kli­nik in Arle­sheim. Seit 1990 All­ge­mei­ne Pra­xis in Basel. Fähig­keits­aus­wei­se für psy­cho­so­ma­ti­sche und psy­cho­so­zia­le Medi­zin SAPPM sowie Anthro­po­so­phi­sche Medi­zin VAOAS. Vor­stands­mit­glied der Ver­ei­ni­gung anthro­po­so­phisch ori­en­tier­ter Ärz­te der Schweiz sowie der Ver­ei­ni­gung psy­cho­so­ma­tisch täti­ger Ärz­tIn­nen der Regi­on Basel. Mit­ar­beit bei der Pro­jek­tie­rung der psy­cho­so­ma­ti­schen Abtei­lung der Ita Weg­man Kli­nik.
Kon­takt felix.schirmer@bluewin.ch

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