
Das Älterwerden wird von vielen körperlichen und seelischen Veränderungen begleitet. Umso wichtiger ist es, den Prozess des Alterns aktiv zu gestalten. Dazu gehört eine den individuellen Bedürfnissen und Möglichkeiten angepasste Form von Bewegung. Nicole Ljubić, Heileurythmistin an der Ita Wegman Klinik, zeigt an verschiedenen Beispielen, wie sich die Heileurythmie hilfreich in den Lebensalltag integrieren lässt.
Mit fortschreitendem Alter geht der Mensch in den Ruhestand. Das bezieht sich nicht nur auf die Pensionierung, sondern tendenziell auch auf seine Bewegungsaktivitäten. Um gesund alt zu werden, braucht es ein gewisses Mass an Bewegung, sowohl äusserlich als auch innerlich. Hier kann die Heileurythmie viel Hilfe bieten, da sie beides vereint, indem sich die äussere Bewegung in den Übungen durch die innere Bewegung ergänzen kann.
Viele meiner älteren Klienten sind zwischen 60 und 90 Jahre alt, haben verschiedenste Diagnosen und Vorgeschichten. Einige typische Beispiele seien hier vorgestellt.
Die Mitte wieder gefunden
Herr Siegenthaler*, ein 83-jähriger und sehr rüstiger Mann, kommt regelmässig ambulant in die Heileurythmie. Schon in seinen frühen Jahren besuchte er Eurythmiekurse und erlebte die Wirkung dieser zielgerichteten Bewegungen.
Er hat zwar keine akute Erkrankung, aber ihm wird schnell schwindelig, und dann ist er nicht mehr so sicher auf den Beinen. Diese unangenehme Erfahrung machen viele alte Menschen. Da eine organische Ursache für den Schwindel ausgeschlossen werden konnte, gebe ich ihm jetzt spezielle Übungen, mit denen er den Gleichgewichtssinn stärken kann. Gleichzeitig helfen ihm die Übungen auch, die räumlichen Richtungen von links und rechts besser zu ergreifen und seine sowohl körperliche als auch seelische Mitte zu spüren. Das ist für ihn zugleich eine hilfreiche Sturzprophylaxe. Jedesmal verlässt er die wöchentliche Therapiestunde sehr motiviert und übt regelmässig zu Hause. Er spürt schnell, wie sehr ihm die Übungen helfen. Nach der Stunde sagt er, er fühle sich neu belebt. Ich muss ihn gar nicht auf die innere Qualität der Bewegung hinweisen, er ist selbst souverän in der Bewegung drinnen und spürt die Wirkung unmittelbar.
Die Heilkraft der Sprache
In der Heileurythmie arbeiten wir mit Bewegungen, denen dieselben Bildequalitäten zugrunde liegen wie den Lauten unserer Sprache. Diese haben unmittelbar mit der Gesamtkonstitution des Menschen zu tun, denn die Kräfte, die in den Lauten wirksam sind, arbeiten am Aufbau unseres ganzen Organismus mit. Festes, Flüssiges, Luftiges und Wärmendes: das sind alles Qualitäten, die wir in unserem Körper finden, die sich aber auch in der Sprache manifestieren. Deshalb wird verständlich, dass diese Sprachkräfte unmittelbar bis in die Organtätigkeit hinein wirken. Jeder Laut hat eine für ihn charakteristische Bewegungsform.
Das können wir leicht beim Sprechen nachvollziehen, wenn wir mit Hilfe unseres warmen Atems verschiedene Laute in die kalte Luft sprechen. Beim F zum Beispiel zerstiebt die Form, beim B verdichtet sich die Luft wie ein Ballen, beim R wird sie regelrecht ins Rollen gebracht. Mit diesen Kräftewirkungen haben wir in der Heileurythmie zu tun, auf einer feineren Ebene, der das Belebende, Vitalisierende eigen ist. Das sind die Bildekräfte, die der Patient als erfrischend, kräftigend empfindet. Indem wir in der Therapie verschiedene Laute und Lautreihen eurythmisieren, können wir im Bereich dieser Bildekräfte harmonisierend, lösend oder verdichtend, erwärmend oder anregend auf gestörte Organprozesse beziehungsweise bestehende Krankheitstendenzen einwirken.
Heileurythmie auch auf der Notfallstation
Vor einigen Wochen wurde der 78-jährige Herr Meyer* aufgrund einer akuten Angina Pectoris in die Notaufnahme eingewiesen. Er spürte einen heftigen Schmerz in der linken vorderen Brustwand, der in den Hals und in den linken Arm ausstrahlte. Zusammen mit einer starken Atemnot bedrohte dies ernsthaft seinen Lebenszustand. In der Notaufnahme wurden durch den Kardiologen alle ärztlichen Massnahmen eingeleitet. Sobald sich sein Zustand besserte, bekam er neben anderen therapeutischen Massnahmen auch Heileurythmie verordnet. Als ich ihn auf der Notfallstation besuchte und mit ihm behutsam die ersten heileurythmischen Übungen im Bett begann, bemerkte ich bald, dass er sich keineswegs schonte und zu einem gewissen Automatismus in der Bewegung neigte. Durch einige Übungen gelang es ihm, allmählich dem Gefühl der Brustenge entgegenzuwirken. Er erlebte, wie er etwas mehr „Raum“ bekam, was ihm eine gewisse Erleichterung der Atemwege verschaffte.
Als Herr Meyer auf die Innere Station verlegt werden konnte, war er inzwischen soweit stabilisiert, dass wir mit dem Rhythmischen Schreiten anfingen. Er lernte, die sogenannten „fallenden“ Rhythmen wie zum Beispiel Trochäus mit den Beinen zu laufen. Dazu kam eine Vokalübung im Wechsel von A und U, die er ebenfalls nur mit den Beinen ausführte. Der Laut M, der den Wärmeorganismus anzuregen vermag, und der Laut S eignen sich besonders, den Sklerotisierungsprozessen entgegenzuwirken. Ich musste ihn immer etwas bremsen, zur Ruhe und zum Innehalten veranlassen, da er durch seine Krankheit oft zu einem etwas atemlosen Tun verleitet gewesen wäre. Mit der Zeit jedoch wurden seine Bewegungen immer weicher und bekamen mehr Fülle. Als er schliesslich die Klinik verlassen konnte, setzte er sein heileurythmisches Üben fort, indem er einmal wöchentlich ambulant in die Klinik kommt.
Das Phänomen der Präsenz
In der Arbeit mit älteren Menschen beeindruckt mich immer wieder, wie präsent sie innerlich sind, der Moment der Gegenwart ist sehr stark erlebbar. Ihre Aufmerksamkeit ist intensiv und hat eine gereifte Qualität, die ich bei Jüngeren seltener erlebe.
Wenn ich zum Beispiel die 76-jährige Frau Winter* für die Heileurythmiestunde im Altersheim besuche, erlebe ich, wie ihre volle Aufmerksamkeit dem gilt, was wir eurythmisch tun. Sie freut sich jede Woche auf meinen Hausbesuch, und ich merke bei der gemeinsamen Therapiestunde, wie die Übungen sie beleben. Sie bestätigt mir dies auch.
Für Frau Winter wird es zunehmend schwieriger, allein die Strümpfe anzuziehen und die Schuhe zu binden. Sie ist längst nicht mehr so beweglich wie früher. Ihr Rücken und die Gelenke schmerzen häufig. Sie vergisst öfter Dinge und kann sich dann nicht mehr so gut konzentrieren. Wir arbeiten zunächst an Übungen mit dem Ziel, dass sie ihren Körper wieder spüren und ergreifen lernt. Es ist schön, wenn ich beobachten darf, dass sie ihre Füsse wieder wahrnimmt und Füsse und Beine nach vielen Wochen wieder an Beweglichkeit gewinnen. Frau Winter sagt selbst, dass sie sich nun besser spürt.
Gebrechlichkeit und Stärkung
Wenn es dem Menschen körperlich nicht gut geht, sind Gemütsverstimmungen bis hin zu Depressionen sehr schnell Begleiterscheinungen. Das konnte ich beim 80-jährigen Herrn Roth* beobachten. Er kam nach einer Herzoperation stationär in unsere Klinik, war schon einige Zeit bettlägerig und entsprechend geschwächt. Bei den ersten Übungen führte ich an ihm die Bewegungen aus, das heisst, ich führte seinen Arm, während er im Bett lag, weil er es zunächst nicht selbst schaffte. Nach einigen Tagen konnten wir die Übungen im Sitzen durchführen.
Es war für mich eindrücklich zu erleben, wie sich die ganze Persönlichkeit von Herrn Roth wieder aufhellte und er sich langsam wieder aufrichtete – innerlich und äusserlich. Ich habe mit ihm nur sehr kleine übersichtliche Schritte machen können. Es wurde zwar ein sehr langer Prozess, aber am Ende seines Aufenthalts konnte er die Übungen doch teilweise im Stehen ausführen. Wir haben viel daran geübt, dass Herr Roth zur Ruhe kommen kann und sich in seiner Mitte fühlt. Als besonders hilfreich dafür hat sich die Lemniskatenübung mit der Kupferkugel gezeigt; mit der Kupferkugel in der Hand wird dabei eine liegende Acht in die Luft gemalt. Herr Roth ist fest entschlossen, die Übungen auch weiterhin zu Hause zu absolvieren.
Der Besuch bei der alten Dame
Für die 92-jährige Frau Ganz* ist der Weg zur Therapiestunde in die Klinik nicht zu schaffen. Zu oft ist sie im Alltag gestürzt und hat sich dabei etwas gebrochen. So besuche ich sie einmal in der Woche zu Hause. Freudig werde ich erwartet, denn die Verwandten von Frau Ganz wohnen nicht in der Nähe, und viele ihrer Freundinnen sind bereits verstorben. So bringe ich in ihre Wohnung immer auch ein Stück Welt mit. Zudem erlebt sie die Heileurythmie für sich als sehr hilfreich.
Eine Zeitlang übten wir besonders an den Lauten L und R, damit ihre Atmung nicht so flach bleibt. Ich habe mit Frau Ganz besprochen, wie diese Übungen der Pneumonieprophylaxe dienen. In ihrem Fall üben wir auch mit der Kräftewirkung des U, da wir mit dieser Übung an die Kräfte der Knochenbildung herangehen können. Im Wesentlichen handelt es sich dabei darum, dass die Knochensubstanz eine Verdichtung braucht und diese Übung einen wertvollen Beitrag in dieser Richtung leistet. Frau Ganz übt oft, sie hat genügend Zeit und will gern etwas für sich tun. „Ohne die Heileurythmie ist es für mich ein verlorener Tag“, sagt sie mir prompt bei einem meiner Besuche.
Defiziten vorbeugen und gegensteuern
Die typischen Erscheinungen des Alters wie Schwindel, Gleichgewichts- und Koordinationsschwierigkeiten haben mit den abbauenden Prozessen zu tun. Der älter werdende Mensch kann seinen Körper nicht mehr voll ergreifen, er reagiert nicht mehr schnell genug, sein Blickwinkel ist etwas eingeschränkt. Häufig hat er Schwierigkeiten, sich aufrecht zu halten, er sackt immer mehr in sich hinein.
Wie die Beispiele zeigen, gibt es grundsätzlich viele belebende heileurythmische Übungen, die dem entgegenwirken und den Alterungsprozess hinauszögern können. Die zahlreichen positiven Erfahrungen von ambulanten und stationären Patientinnen und Patienten unterstreichen das.
Fachperson | Nicole Ljubić |
Arbeitsschwerpunkte | Heileurythmieausbildung in Dornach, seit 2011 als Heileurythmistin an der Ita Wegman Klinik tätig |
Kontakt | nicole.ljubic@wegmanklinik.ch |