Anthyllis-Ernte

Obwohl wir die­ses Jahr eine Woche spä­ter zum Ern­te­platz unter­wegs sind als letz­tes Jahr, bemer­ken wir über­rascht, dass der Win­ter hier oben die schnee­ge­fleck­ten Alpen­wie­sen noch nicht rich­tig frei­ge­ge­ben hat. Von der Ses­sel­bahn aus sehen wir eini­ge ziem­lich zer­zaus­te Mur­mel­tie­re über die Schnee­fel­der tra­ben. Unser Weg führt von der Berg­sta­ti­on in die süd­li­chen Steil­hän­ge, in denen gros­se Nar­ben von Erd­rut­schen klaf­fen. Die Gras­de­cke ist an vie­len Stel­len bis auf den Unter­grund aus Geröll und Lehm abge­ris­sen, und die Alpen­pflan­zen haben Mühe, das rut­schi­ge Ter­rain zu besie­deln. Hier haben wir letz­tes Jahr unse­re Heil­pflan­zen in gros­ser Men­ge gefun­den, aber die­ses Jahr liegt das Ern­te­ge­biet noch unter Schnee! Da wir wis­sen, dass unse­re Heil­pflan­ze sol­che stei­len, rut­schi­gen Süd­hän­ge ger­ne besie­delt, ver­las­sen wir den Wan­der­weg und stei­gen im Steil­hang tief hin­un­ter, dort, wo die Alpen­wie­sen schon grün und schnee­frei sind.

Von wei­tem sehen wir tat­säch­lich ein­zel­ne hel­le Gelb­tö­ne aus den Wie­sen her­aus­leuch­ten. Beim Näher­kom­men sehen wir die cha­rak­te­ris­ti­schen gel­ben Blü­ten­stän­de mit ihrem wun­der­schö­nen Auf­bau. Erstaun­lich, dass sich die­se Pflan­ze gera­de hier in die­sem stei­len und immer wie­der auf­ge­ris­se­nen Gelän­de so gut ent­fal­ten kann. Beim Ern­ten ist es eine Freu­de, die kräf­ti­gen Blü­ten­bü­schel zu sam­meln, man spürt förm­lich ihre fri­sche und geball­te Blü­ten­kraft. Mit einem Griff ern­tet man gleich mehr als 30 Blü­ten zusam­men, da jeder Blü­ten­bü­schel aus drei oder mehr Blü­ten­köpf­chen auf­ge­baut ist. Wenn wir die auf­fal­len­den Blü­ten­bü­schel genau­er betrach­ten, sehen wir, dass dar­in meh­re­re Blü­ten­köpf­chen in zeit­lich unter­schied­li­chen Blü­ten­sta­di­en ver­ei­nigt sind, meist drei an der Zahl. Wäh­rend schon das ers­te Blü­ten­köpf­chen voll in hell­gel­ben Schmet­ter­lings­blü­ten leuch­tet, sind die Blü­ten des letz­ten Blü­ten­köpf­chens noch ganz geschlos­sen. Man sieht deut­lich, dass es eigent­lich zeit­lich unter­schied­li­che Blü­ten­be­rei­che sind, die bei ande­ren Pflan­zen eta­gen­wei­se über­ein­an­der lie­gen wür­den, hier jedoch zu einem ein­zi­gen kraft­voll kon­zen­trier­ten Blü­ten­bü­schel ver­ei­nigt wer­den, wel­ches wir mit einem Griff ern­ten kön­nen.
Es ist fas­zi­nie­rend, was einem hier in den stei­len Geröll­hal­den an Alpen­blu­men sonst noch ent­ge­gen­leuch­tet wie die blau­en Enzia­ne, die zart­li­la Sol­d­anel­len­glöck­chen oder der weis­se Glet­scher­hah­nen­fuss – die­se wun­der­schö­nen Blü­ten schei­nen wie aus einer ande­ren Welt.
Unglaub­li­che Vita­li­täts­kräf­te muss Anthyl­lis sam­meln, um nicht nur die lan­gen Win­ter zu bestehen und sich auf dem kar­gen und rut­schi­gen Boden zu behaup­ten, son­dern auch noch eine der­ar­ti­ge Fül­le von Blü­ten in der­art enger Fol­ge zu ent­wi­ckeln. Die Blü­ten beein­dru­cken vor allem durch ihre Fül­le, fei­ne Gestal­tung und leuch­ten­de Far­be, es ist ja kein Stand­ort, um sich lan­ge in betö­ren­den Düf­ten zu ver­aus­ga­ben. Alles bleibt dicht in Boden­nä­he anlie­gend und kon­zen­triert sei­ne Lebens­kräf­te auf kla­re und fei­ne Gestal­tung. Anthyl­lis ist eine Pio­nier­pflan­ze, die nicht nur für sich sel­ber mit einer kräf­ti­gen Pfahl­wur­zel in einem schwie­ri­gen Gelän­de Leben erkämpft, son­dern als Schmet­ter­lings­blüt­ler auch für die Bin­dung von Luft­stick­stoff in die Erde sorgt, was ande­ren Pflan­zen das Anwach­sen erleich­tert. Der bota­ni­sche Name der Pflan­ze – Anthyl­lis vul­ne­ra­ria – weist dar­auf hin, dass die­se Pflan­ze eine lan­ge Tra­di­ti­on als wund­hei­len­de Pflan­ze hat. „Der Wund­klee ist wirk­lich ein ganz wun­der­ba­rer Wun­den­hei­ler“, ver­mel­det bei­spiels­wei­se Kräu­ter­pfar­rer Johan­nes Künz­li aus sei­ner reich­hal­ti­gen Erfah­rung. Die sehr straff kon­zen­trier­ten und dif­fe­ren­zier­ten Lebens­kräf­te der dich­ten Blü­ten­köpf­chen ver­mit­teln einer ver­letz­ten Haut­in­te­gri­tät eine vita­li­sie­ren­de, struk­tu­rie­ren­de und epi­the­lia­li­sie­ren­de Wir­kung.
Zurück in der Kli­nik emp­fin­den wir beim Aus­brei­ten der gesam­mel­ten Pflan­zen einen gros­sen Reich­tum. Tau­sen­de von die­sen leuch­ten­den und kräf­ti­gen Blü­ten­köpf­chen mit ihrer beson­ders kon­zen­trier­ten Alpen­vi­ta­li­tät und Blü­ten­kraft wer­den wir ver­ar­bei­ten kön­nen für unse­re neue Anthyl­lis-Her­stel­lung.

Dr. med. Clif­ford Kunz
Arzt im Ita Weg­man Ambu­la­to­ri­um Basel

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